Selber schuld

Ein historischer Blick auf den Diskurs um Krise und prekäre Arbeit im Spanien des frühen 20. Jahrhunderts

Eine Schwierigkeit des Begriffs „prekär“ liegt darin begründet, dass er eine wesentliche Dimension von Arbeit nicht thematisiert. Prekäre Arbeit wird von Unsicherheit geprägt, ist körperlich oder psychisch belastend, in zu lange Zeiteinheiten aufgeteilt – und miserabel bezahlt. Die Dimension des durch Arbeit hergestellten Mehrwertes, um den im Kapitalismus gesellschaftlich zu kämpfen ist, wird durch den Begriff des „Prekariats“ im Gegensatz zu dem des „Proletariats“ nicht erfasst. Das „Prekariat“ macht schlichtweg beschissene Arbeit bzw. muss sich mit den Schikanen des Arbeitsamtes rumschlagen – die Standardfloskeln von „mehr Chancengleichheit“, „mehr Bildung“ und „sozialer Mobilität“ sind da logische Folgen. Das „Proletariat“ wurde hingegen als zur herrschenden Klasse grundsätzlich feindlich oder zumindest oppositionell eingestellt, mithin als politisch selbstbewusst definiert. Die moderne Gesellschaft erscheint jedoch als derart komplex, als dass eine Aufteilung in zwei Klassen nicht mehr zu greifen scheint, steht doch ein jahrzehntelanger Arbeiter bei VW sozial deutlich höher als eine Leiharbeiterin im Altersheim – und wen soll ein verarmter Imbissbetreiber bitte bestreiken? Die Frage nach dem politischen Charakter der Ökonomie, nach ihrer herrschaftssichernden Struktur, gerät dabei schnell mal in den Hintergrund. 

Staat-Nation-Kapital-?!

Beschissene Arbeit war und ist natürlich immer die massenhafte Grundlage des herrschenden ökonomischen Systems. Beschissen für die Gesundheit, beschissen für den Lebensunterhalt. Einher geht damit automatisch der gesellschaftliche Reflex, diese Verhältnisse zu rechtfertigen. Dazu dienten im Europa der Moderne von Beginn an die Nationalstaaten als ideologisches Vehikel: Ökonomie nicht als Lebensgrundlage aller Menschen, sondern als entfesseltes Wettrennen um eine anhand der Wachstumsraten ablesbare „Leistungsfähigkeit“ der Bevölkerungen. Der moderne deutsche Nationalismus kann dabei als überexemplarisch betrachtet werden. Er begann mit der im Vergleich zu England und Frankreich verspäteten Industrialisierung, wuchs schrittgleich mit ihr überdimensional an, und glättete die dabei entstehenden internen Widersprüche mithilfe eines aggressiven Antisemitismus. In vielen europäischen Staaten des frühen 20. Jahrhunderts, die nicht zu den Großmächten zählten und in denen entsprechend der eigene nationale Status beklagt wurde, galt der rasante Aufstieg Deutschlands als bewundernswert. Gerade das Bündnis aus autokratischem Adel und Industriebourgeoisie machte das deutsche Kaiserreich zum Vorbild all jener Herrschaftssysteme, die einen Wandel zur Republik ablehnten, aber auf den wirtschaftlichen Fortschritt bürgerlicher Ökonomien nicht verzichten wollten.

Der Erste Weltkrieg, der die militarisierten Konsequenzen von Wachstum und Wettbewerb untrüglich offengelegt hatte, änderte natürlich auch nichts an den nationalen Aufstiegsphantasien des portugiesischen, spanischen, italienischen oder griechischen Bürgertums und Adels. Dass Gewerkschaften, ArbeiterInnenparteien oder freie Assoziationen von Lohnabhängigen in diesem Kontext wie im Deutschland der bismarckschen Sozialistengesetze als „Feinde des Vaterlandes“ stigmatisiert wurden, war nur folgerichtig. Vor dem zeitgenössischen Hintergrund der Organisation von Land- und Industriearbeit im Europa der damaligen Zeit, zumal noch in der Peripherie, wird deutlich, wie stark die ideologischen Rechtfertigungsmechanismen von „prekärer“ Arbeit sein können: Sogar die Tagelöhnerei in der spanischen Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die während der Erntezeit bis zu 16 Stunden harte körperliche Arbeit am Tag zu einem Hungerlohn und im restlichen Jahr meist Arbeitslosigkeit bedeutete, wurde mit einigem Erfolg durch das Kazikentum verklärt und als Dienst an der Nation gepriesen. Ähnlich wie heute wurde Armut und Perspektivlosigkeit als ein doppeltes Entwicklungsproblem interpretiert: Zum einen die ungebildeten LandarbeiterInnen, mit denen ja keine profitablere Produktion anzustellen sei, zum anderen der Zustand des Landes, der sich erst eben durch harte Arbeit allgemein zu verbessern habe, bis eine „Wettbewerbsfähigkeit“ mit den führenden Industrienationen hergestellt sei. Als „Kazikentum“ wurde in Spanien bis zum Beginn der franquistischen Ära ein sich zu einer Agrarbourgeoisie gewandelter Landadel bezeichnet, der die feudalen Strukturen 1:1 in ein Niedrigstlohnsystem übertrug und das erwirtschaftete Kapital am Finanzmarkt wiederverwertete. Auch die katholische Kirche erzielte mit ihren riesigen Ländereien durch dieses System gigantische Gewinne. Überhaupt türmte sich in Spanien bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 das Kapital nur so auf, sodass sich allein von 1916 bis 1920 in Spanien 3.486 Aktiengesellschaften gegründet wurden.1

Ursächlich hierfür waren zum einen die de facto monopolkapitalistischen Verhältnisse auf dem Land, also ein System des gemeinsamen Vorgehens gegen internationale Konkurrenz einerseits und organisierte LandarbeiterInnen andererseits, und zum anderen die spanische Neutralität im Ersten Weltkrieg. Spanien belieferte alle Kriegsparteien mit Rohstoffen und heizte so die menschenverschlingende Materialschlacht zu Gunsten der eigenen Industrie enorm an. Die unermesslichen hierbei erzielten Gewinne begünstigten jedoch klassenkämpferische Positionen in der ArbeiterInnenschaft, so dass mit den Gewinnen des Kapitals auch der Organisationsgrad der Gewerkschaften wuchs. Ab 1917 erschütterten in bald regelmäßigen Abständen landesweite Streiks und zahllose regionale Aufstände das Sicherheitsgefühl der aufstrebenden Oberschicht des Landes. Es beteiligten sich die hinsichtlich rein monetärer Aspekte relativ bessergestellten IndustriearbeiterInnen in Katalonien und dem Baskenland genauso wie die besitzlosen TagelöhnerInnen in den ländlichen Gebieten Andalusiens. Ein Facharbeiter in Barcelona konnte zumindest potentiell tatsächlich sozial aufsteigen, während dies für eine mittellose Landarbeiterin absolut aussichtslos war. Was die sehr verschiedenartig „prekär“ lebenden Menschen also einte, war nicht die vermeintliche soziale Homogenität ihrer „Klasse“, sondern der unverschämte Reichtum des Bürgertums und des Adels, der der eigenen Situation in krassester Weise entgegenstand. Mit anderen Worten: Der politische Charakter der Ökonomie wurde nur allzu deutlich.

Sieger der Geschichte

Trotz des eigenen Wohlstands schien die herrschende Klasse in Spanien einer ausgeprägten Profilneurose anzuhängen. Bis heute hält sich – sowohl in Spanien selbst als auch in den internationalen Kulturwissenschaften – die Mär von der „Katastrophe von 1898“. Gemeint ist die Niederlage des spanischen Militärs im Krieg mit den USA, als Spanien mit Cuba, Puerto Rico und den Philippinen die letzten Gebiete des einstmals riesigen Kolonialreiches verlor. Eine einflussreiche und heute geradezu mystifizierte Gruppe von Intellektuellen, die so genannte „generación del 98“, befasste sich – so die gesellschaftliche Interpretation – mit der „spanischen Tragödie“. Bis heute wird in Geschichtsbüchern von einem Trauma gesprochen, und tatsächlich erschien im Spanien der damaligen Zeit eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit einem vermeintlichen Niedergang Spaniens befassten. 1898 hatte sich allerdings sowohl sozial als auch politisch nichts dramatisch verändert, und die meisten derjenigen, die die angebliche Katastrophe beklagten, hatten selbst keine Angehörigen in dem vor allem auf Cuba ausgetragenen blutigen Krieg verloren.

Natürlich leuchtet es ein, dass das Königshaus in einen dynastischen Scham versank, nun die erste Generation seit 1492 stellen zu müssen, die nicht über ein Kolonialreich herrschte, und dass NationalistInnen im Umfeld des Militärs die verlorene territoriale Größe beklagten, ist auch nicht weiter verwunderlich. Beide Seiten suchten ab 1907 Kompensation in Marokko, was zu den blutigen Riffkriegen 1909 und 1921-1926 führte und jenes spanische Afrikakorps schuf, an dessen Spitze ein gewisser Francisco Franco mithilfe der deutschen und italienischen Luftwaffe 1936 nach Spanien übersetzten sollte.

Dies ist aber die einzige direkte historische Verbindung, die sich zwischen 1898 und 1936 ziehen lässt – und doch wird heute allzu oft suggeriert, die spanische Gesellschaft als Ganzes sei nach der Niederlage im Krieg mit den USA in eine Identitätskrise gefallen, die schließlich durch den Bürgerkrieg blutig gelöst wurde. Sowohl in spanischen, britischen wie auch deutschen geschichts- und literaturwissenschaftlichen Büchern werden die Klassenkämpfe auf der iberischen Halbinsel bis 1936 häufig als unmittelbare Folge des Verlustes der Kolonien dargestellt, als ob die ab 1919 unangefochten stärkste spanische Gewerkschaft CNT die enttäuschten Großmachtambitionen der ArbeiterInnen nur für die eigenen Zwecke missbraucht habe. Schon damals wurde das Aufbegehren des Proletariats als Konsequenz des Fehlens eines nationalen Wirs interpretiert – die ArbeiterInnen fielen dem geschwächten Vaterland in den Rücken, anstatt ihren Teil zum Bestehen im ökonomischen Wettrennen beizutragen. Somit hat sich die nationalistische Lesart der Geschichte in weiten Teilen bis heute erhalten.

Kein Aufstand der Massen

Zu der „generación del 98“ werden Klassiker der spanischen Philosophie und Literatur wie Antonio Machado, Miguel de Unamuno oder Ramón María del Valle-Inclán gezählt, die aber tatsächlich höchst unterschiedliche Denk- und Stilrichtungen repräsentieren, und die auf über 1898 weit hinausgehenden sozio-kulturellen Wurzeln basieren. Unamuno war ein konservativ-katholischer Moralist, Valle-Inclán hingegen ein hoch ironischer Zerstörer von Traditionen und festgefahrenen kulturellen Strukturen mittels subtiler Subversion. Dass die so verschiedenartigen Strömungen zu einer „Generation“ zusammengefasst wurden, nur weil sie unter unterschiedlichsten Vorzeichen Gesellschaftskritik übten, wird nur in wenigen Werken wirklich substantiell kritisch hinterfragt. Allein die Figur der „Identitätskrise“ ist natürlich schon mit nationalistischem Gedankengut aufgeladen, liegt ihr doch die Vorstellung einer nationalen Identität fundamental zu Grunde. Als vehementer Verfechter einer solchen Sichtweise auf die gesellschaftlichen Konflikte in Spanien bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges kann José Ortega y Gasset gesehen werden, der heute als wichtigster spanischer Philosoph der Moderne verklärt wird. Er gilt als Vordenker des heutigen spanischen Staates und sogar der Europäischen Union. Sein Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ rollt das Problem der Verelendung dabei in einer bemerkenswerten, aber durchaus prototypischen Weise auf: Durch die kapitalistische Produktionsweise entstünden mit den Massenwaren auch die Massenmenschen, letztendlich der Massenmensch als austauschbares Objekt schlechthin. Der Massenmensch wird dadurch charakterisiert, dass er Individualität nicht duldet, da nur die graue Masse sein Zuhause ist – damit ist er per Definition Kultur, Tradition und auch Demokratie feindlich gegenüber eingestellt und trachtet allem Außergewöhnlichen den Garaus zu machen.

Wohlgemerkt erschien dieses Buch um 1930, einer Zeit, in dem die sozialen Verhältnisse, die die Massenproduktion hervorrief, in Europa und gerade in Spanien den Betrachtenden geradezu ins Gesicht springen mussten – Armut und körperliche Gefährdung hier, ausladender Reichtum und Macht dort. Doch Ortega y Gasset interpretiert das Mehrwertproblem als ein moralisches: Während die proletarischen Massen aufgrund mangelnder Bildung die Errungenschaften der Zivilisation zu zerstören drohen, fehlt es der dekadenten Oberschicht an philosophischer Klarheit und moralischer Tugend. Zusammen mit einer Gleichsetzung von Faschismus, Bolschewismus und Syndikalismus hat diese oberflächliche Schelte an den Herrschenden den Mythos Ortega y Gassets begründet – er habe in seinem Plädoyer für eine an der Demokratie des alten Athens (dessen Sklavenhaltergesellschaft Ortega y Gasset natürlich unter den Tisch fallen lässt) orientierte Europäisierung der Politik die Gedanken der konstitutionellen Monarchie ab 1978 und der Europäischen Union vorweg genommen. Und tatsächlich: die Vision einer technokratischen Elitendemokratie und eines desorganisierten, vereinzelten und somit zynisch „individuellen“ Prekariats scheint sich erfüllt zu haben. Doch die Krise ist geblieben.

Anmerkungen

[1] Vgl. Tuñón de Lara, Manuel: Strukturelle Ursache und unmittelbare Anlässe, in: Tuñón de Lara, Manuel: Der Spanische Bürgerkrieg: Eine Bestandsaufnahme, edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 1987.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Direkten Aktion 219 - September / Oktober 2013