Feuerbachs Religionskritik und Marx' Feuerbachkritik

in (30.11.2013)

Klassischerweise wird mit Religionskritik der Name Ludwig Feuerbach verbunden. Mit ihm wird eine populäre Kritik der Religion assoziiert, die Religion auf eine Projektion des Menschen runterbricht. In diesem Kontext stehen auch szientistische Religionskritiken, wie sie etwa durch Richard Dawkins bekannt geworden sind. Diese Sorte Religionskritik zielt auf eine einseitige Vernichtung des Religiösen.


Tatsächlich eröffnet sich mit Feuerbach jedoch eine weitaus komplexere Linie der Religionskritik. Feuerbach versteht unter dem Terminus Mensch zweierlei, nämlich den Menschen im Sinne des individuellen Einzelmenschen und den Menschen im Sinne des Allgemeinen der Menschheit, den Menschen als Gattung. Die Gattung Mensch ist dabei nicht die globale Vielheit der Einzelmenschen, sondern lässt sich am griffigsten mit so etwas wie einer vagen Idee des Menschseins umschreiben. Was den Menschen laut Feuerbach als Mensch vom Tier unterscheidet, ist, dass er sich selbst im Zusammenhang seiner Gattung als Mensch weiß. In seinem Selbstverständnis hat sich der Einzelmensch daher immer schon über seine Einzelheit hinaus in Beziehung auf die ihn übergreifende Gattungsganzheit verstanden. Menschsein besteht für Feuerbach damit in dem Verhältnis zwischen Individuum und Gattung. So wenig es den allgemeinen Menschen, sondern immer nur einzeln existierende Menschen gibt, so wenig gibt es laut Feuerbach den Einzelmenschen ohne menschliche Gattung. Gattung und Individuum können nicht aufeinander reduziert werden, sondern das Menschsein liegt in dem Bewusstsein ihrer irreduziblen Bezogenheit.
In dieser Differenz von Individuum und Gattung liegt für Feuerbach der Ansatzpunkt seiner Religionskritik, die sich durch die klassische Figur der reductio ad hominem verstehen lässt: Alle Eigenschaften Gottes sollen auf Eigenschaften des Menschen zurückgeführt werden. Weil zwischen der Gattung und dem Individuum eine Differenz besteht, ist es dem Individuum möglich, dass er die Gattung zu einem Gott überhöht und nicht erkennt, dass es sich bei
Gott eigentlich um die menschliche Gattungsganzheit handelt. Das Gottesbewusstsein des/der Einzelnen ist demnach ein diesem/dieser Einzelnen selbst noch nicht bewusstes Gattungsbewusstsein. Feuerbachs reductio ad hominem ist aufklärerisch: Eine dem Menschen gegenüberstehende Macht, die ihn beherrscht, wird als Produkt des Menschen selbst erwiesen, damit der Mensch sie wieder in seine Kontrolle bekommen kann. Die Kritik am religiösen Selbstverlust des Menschen soll dessen Mündigkeit wiederherstellen, indem das Gottesbewusstsein darauf zurückgeführt wird, Gattungsbewusstsein zu
sein: Erst wenn der Mensch nicht vermittels eines Gottes, sondern durch seine Gattung um sich weiß, hat er die Möglichkeiten eines selbstbewussten Menschseins unverfälscht eingelöst.

Feuerbachs Rettung der Religion in ihrer Kritik
Bei Feuerbach bleibt der Begriff der Gattung partiell unbestimmt und damit offen. Nur indem er den Menschen doppelt, als Einzelmenschen und als offene Gattung, versteht, die im Einzelmenschen nicht aufgeht, gelingt Feuerbach die kritische Rückführung der Religion auf den Menschen: Das Verhältnis von Gott und Mensch wird in die weltliche Binnendifferenz von Gattung und Mensch übersetzt. Zugespitzt könnte mensch formulieren, dass die Transzendenz Gottes durch die Transzendenz der Gattung ausgewechselt wird. Die Transzendenz der Religion wird zwar in Immanenz aufgelöst, aber wiederholt sich innerhalb dieser Immanenz als Transzendenz einer offenen Gattungswirklichkeit gegenüber der faktischen Wirklichkeit der Individuen.
Feuerbach verwirft Religion also nicht einfach, sondern nimmt die zentrale Figur der Transzendenz in seine Kritik mit auf. Seine Religionskritik hat nichts mit einer szientistischen Religionskritik zu tun, die Religion aus Mangel an Beweisen verwirft. Eine solche Kritik verfehlt den Kern des Religiösen und ist daher keine ernstzunehmende Kritik. Gegen die friedliche Koexistenz von Naturwissenschaft und Religion in einem solchen Missverständnis schlägt  Feuerbach den Weg philosophischer Kritik ein. Er streicht das Religiöse nicht einfach durch, sondern nimmt es ernst und macht es paradoxerweise zum Motor seiner Religionskritik, indem er es in den Begriff der Gattung einwandern lässt. Seine Kritik lässt sich daher gegenüber einer nur einseitig verneinenden Kritik als rettende Kritik kennzeichnen.

Marx’ Kritik an Feuerbach
Indem nun Marx den Begriff der Gattung kritisiert, wendet er sich gegen den rudimentären Fortbestand religiöser Figuren in Feuerbachs Kritik der Religion. Polemisch lässt sich Feuerbachs Gattungswesen als ein zweiter Gott beschreiben, der den ersten nur ablöst. Hier wie dort bleibt jedoch der Mensch in seiner konkreten Einzelexistenz außen vor, weil er einer spiritistischen Transzendenz unterworfen bleibt. In diesem Sinne wirft Marx Feuerbach vor, dass der homo in seiner reductio ad hominem selbst noch nicht der Mensch ist, wie er wirklich ist, sondern Feuerbach von zentralen Aspekten des Menschseins abstrahiert: „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum.“[1] Im Gattungswesen als dieses Abstraktum wird der Mensch erneut verfehlt und eine religionsanaloge Transzendenz restauriert. Daher ist eine zweite reductio ad hominem erforder-lich: Sowie Gott auf eine gottesähnliche Abstraktion des Menschen zurückgeführt wurde, muss nun diese Abstraktion des Menschen auf den wirklichen Menschen zurückgeführt werden. Dieser besteht für Marx in dem „[E]nsemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.[2] „[D]er Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.“[3] Damit ist die Perspektive der Kritik weg von Philosophie hin zur Gesellschafts- und Ökonomiekritik vorgegeben. Dementsprechend kann sich die Kritik an Feuerbach nicht mehr mit einer Kritik seiner Theorie begnügen. Die Rückführung der Abstraktion des Gattungswesens auf den wirklichen Menschen funktioniert vielmehr durch den Ausweis, dass dieses Abstraktum des Menschen ein Echo gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Marx Kritik an Feuerbach ist eine doppelte: Zum einen will sie zeigen, wie der Mensch wirklich ist und zum anderen erklären, wie die Idee der Gattung als trügerische Abstraktion von diesem wirklichen Menschen überhaupt entstehen kann.

Religionskritik und Revolution
Dieser trügerische „Kultus des abstrakten Menschen“[4], wie Marx ihn an der Religion und an Feuerbach kritisiert, ist nach Marx Ausdruck davon, dass alle Menschen unter einer allgemeinen Herrschaft des Kapitals oder des Marktes nicht mehr in ihren einzelnen Bedürfnissen und Fähigkeiten zählen, sondern sie unterschiedslos als Ware Arbeitskraft dem Marktgeschehen unterworfen sind. Diese höchst reale und primäre Abstraktion vom Einzelmenschen in der kapitalistischen Wirklichkeit ist für Marx die Grundlage für die vergeistigte und sekundäre Abstraktion von ihm in Religion oder Philosophie.
Dementsprechend muss die Kritik an der Religion durch eine Kritik der gesellschaftlichen Wirklichkeit überboten werden: „Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde“[5]. Inspiriert von Feuerbachs Kritik des Selbstverlustes des Menschen im Gottesbewusstsein, kritisiert Marx einen solchen analogen Selbstverlust in den Sachzwängen des Kapitals. So schreibt Marx im „Kapital“, dass das Verhältnis der Menschen ihnen „als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen“[6] gegenübertritt. „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“[7] Die berühmte Metapher für diese Marktzwänge, der „Fetischcharakter der Ware“, zeigt überdeutlich, dass Marx den Kapitalismus im Anschluss an Feuerbach anhand der Figur religiöser Selbstentfremdung versteht. Die Kritik der Religion als reductio ad hominem bedeutete bei Feuerbach, dass die Menschen ihr Gottesbewusstsein als Gattungsbewusstsein interpretieren sollen. Die Konsequenz der zur Kapitalismuskritik radikalisierten Religionskritik kann demgegenüber nicht mehr in der Interpretation, sondern muss in der Praxis liegen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“[8] Religionskritik erfüllt sich für Marx erst in der Revolution.

Religion der Zukunft
Marx’ Feuerbachkritik ist allerdings nicht so zu verstehen, dass er als konsequenter Religionskritiker den religiösen Resten in Feuerbachs Religionskritik den Garaus macht. Vielmehr wendet er mit seiner reductio ad hominem auf die reductio ad hominem Feuerbachs auch eine rettende Kritik auf die rettende Kritik Feuerbachs an. Seine zweite Säkularisierung ist auch eine zweite Rettung der religiösen Potentiale, die durch den Begriff der Gattung nur  unzureichend eingelöst sind.
Religionskritik als reductio ad hominem meint schon bei Feuerbach nicht den Verlust Gottes, sondern seinen Eingang in eine Aufwertung des Menschen: Die Transzendenz Gottes wird zur profanierten Transzendenz der Gattung. Dieser Transzendenz weist Marx kritisch nach, dass sie als eine Abstraktion vom Menschen das Echo einer realen Abstraktion des Kapitals ist. Sowie bei Feuerbach geht jedoch auch bei Marx mit der Kritik an der Transzendenz der Gattung dessen Potential in den Menschen ein. Seine Religions- und Feuerbachkritik gibt die Idee eines höchsten Wesens und die Idee der Gattung nicht auf, sondern schreibt sie in der Utopie „der menschlichen Gesellschaft oder der gesellschaftlichen Menschheit“[9] fort: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“[10] Weil der Mensch in der Gegenwart ein erniedrigtes und gerade kein menschliches Wesen ist, mobilisiert Marx das Transzendenzpotential von Religion und Gattungsbegriff, um über das Bestehende hinaus eine utopische Idee gelungenen Menschseins zu begründen. Gegenüber der Religionskritik eines positivistischen Szientismus baut die Religionskritik in der geschilderten Tradition den Menschen nicht in den Mauern wissenschaftlicher Tatsachen ein, sondern arbeitet an der Idee einer offenen Zukunft.

Georg Spoo studiert Philosophie in Freiburg.

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[1] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, Marx-Engels-Werke (MEW) Band 3, 1969, 5.

[2] Ebenda, 6.

[3] Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW Band 1, 1969, 378.

[4] Marx, Das Kapital, MEW Band 23, 1969, 93.

[5] Marx (Fn. 3), 379.

[6] Marx (Fn. 4), 86.

[7] Ebenda, 89.

[8] Marx (Fn. 1), 7.

[9] Ebenda.

[10] Marx (Fn. 3), 385.