Ist es einfach im Marxismus Philosoph zu sein?

Es ist mir eine Freude, der Universität Roskilde symbolisch als Doktor honoris causa assoziiert zu sein.1 Vor 36 Jahren war sie meine erste Auslandsuniversität als Lehrender, und ich habe in meiner dänischen Zeit viele weiterwirkende Impulse empfangen. Ich kam von der Freien Universität Berlin unter Umständen zu denen ich gleich etwas sagen will. Zuvor aber möchte ich René Descartes für mich sprechen lassen, der davor warnt, sich Ehrungen wie die heutige zu Kopf steigen zu lassen: »Ich weiß«, sagt er im Discours de la méthode (1637), »wie sehr wir in allem, was uns persönlich betrifft, der Selbsttäuschung unterliegen, und wie sehr auch die für uns günstigen Urteile von Freunden uns verdächtig sein müssen. Aber ich werde in dieser Rede gern die Wege offen zeigen, die ich gegangen bin, […] damit jeder darüber urteilen könne« (Kap. 1).

Mich hatte 1977, als ich ans RUC kam, mein Weg bereits zu Marx geführt. Was mich schon als Student zu ihm hingezogen hat, war zunächst sein kategorischer Imperativ, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385). Ich habe ihn erstmals in der Vorlesung eines Theologen gehört. Dass ich aber mehr als ein halbes Jahrhundert später noch immer in der Marx-Nachfolge geblieben bin, rührt nicht zuletzt von der Fruchtbarkeit seiner Theorie für meine Zwecke her. Zunächst das Interesse, ein bewusstes Leben im Kapitalismus zu führen. Dann für meine Erkenntnisinteressen, für die ich mir bei Marxens dialektischer Arbeitsweise und seinen Thesen und Einsichten viele Anregungen geholt habe. Seine Kapitalismustheorie rückt den Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital ins Bild, den die Sozialdemokratie in den »Goldenen Jahren« des fordistischen Wohlfahrtsstaates ermäßigt hatte zur »antagonistischen Kooperation« (Peter Glotz). Marx legt den Mechanismus einer permanenten Revolutionierung der Produktivkräfte durchs Kapital offen und zeigt, wie die kapitalistische Nutzung der Technologie und des dabei angeeigneten finanziellen Reichtums umwälzend auf alle gesellschaftlichen Verhältnisse wirkt und periodisch große Krisen erzeugt. Ich selbst habe mich zuletzt in meinen Untersuchungen zum transnationalen Hightech-Kapitalismus und seiner noch immer andauernden Großen Krise sozusagen experimentell überzeugt von der Konkurrenzlosigkeit des kapitalismustheoretischen Ansatzes von Marx. Er spricht zum Kern der Sache, wo sonst darum herum geredet oder geschwiegen wird.

Mit Bekenntnissen sei es damit getan. Reflexion des Marxistseins als widersprüchlicher Daseinsform eines Intellektuellen ist heute gefragt. Vielleicht sollte ich denen unter Ihnen, für die sich diese Frage nicht stellt, vorschlagen, einen ethnographischen Standpunkt einzunehmen.

 

1. Marxistsein in der Philosophie

Der französische Philosoph Louis Althusser verteidigte 1975 seine kumulative Thèse d‘État an der Universität von Amiens mit einem Vortrag zur Frage: »Ist es einfach, in der Philosophie Marxist zu sein?« Ich drehe die Frage um und frage, was es heißt, im Marxismus Philosoph zu sein.

Er sprach von sich als Kommunist und davon, wie er den stumpf gewordenen Marxismus seiner Partei durch erneuten Rekurs auf Marx und Lenin wieder zu schärfen und mit revolutionärer Energie aufzuladen gedachte. Unvorstellbar im Westen des geteilten Deutschland. Hier genügte es, unorganisierter Marxist zu sein, um als Kommunist zu gelten. Noch in diesem Frühjahr hat es die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit mir so gemacht. Ich habe einen Moment lang geschwankt, ob ich mich dagegen wehren sollte. Doch dann kam mir Ernst Blochs Satz in den Sinn, Moral im einzig echten Sinn sei die Anweisung »auf die handelnde Aufhebung des Verhältnisses von Herr und Knecht unter Menschen«, und nichts anderes sei »die Anweisung auf Kommunismus« (1975, 227). Ich merkte, dass ich mich heillos in den Widerspruch zwischen diesem philosophisch-ethischen Sinn und dem historisch real gewesenen Kommunismus verstricken würde, und ließ die Idee fallen.

Anders als Althusser es war, bin ich also kein Kommunist. Doch wie er verstehe ich mich als Marxist. Drei Jahre vor ihm habe ich mich gleichfalls »kumulativ« mit einigen Arbeiten habilitiert – darunter die beiden Bücher Der hilflose Antifaschismus und die Kritik der Warenästhetik –, deren Ansatz ich in einem Vortrag »Zur Bedeutung von Standpunkt und sozialistischer Perspektive für die Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx« verteidigte. Darin begründe ich den wissenschaftlichen Charakter der marxschen Kapitalismuskritik, auf der die Theorie der Warenästhetik basierte, mit dem Argument, dass die streng objektive Analyse ihres in sich antagonistischen Gegenstands, dessen herrschende Seite sich ihrer allgemeinen Erkenntnis widersetzt, der Theorie einen parteilichen Charakter gibt. Marxens Ökonomiekritik, argumentiere ich, stellt »sich durchweg auf den Standpunkt dessen, was allgemein ist oder doch seine Verallgemeinerung erträgt«.2 Ich bin noch immer davon überzeugt, Wissenschaft würde sich selbst verraten, gäbe sie die Form der Allgemeinheit und ihre tendenzielle Nähe zum gesellschaftlichen Allgemeininteresse zugunsten eines Partikularinteresses auf.

Warum dieses Thema?

1971, als in der literarischen Welt Westdeutschlands noch die leidenschaftliche Debatte über »Kunst als Ware« nachhallte, war meine Kritik der Warenästhetik erschienen. Dass sie als Schlüssel zu jener Problematik aufgefasst wurde, trug mir eine Gastprofessur in Marburg ein. Dort stellte sich rasch heraus, dass die Seminarteilnehmer – zur Hälfte Dozenten – nur vage Vorstellungen von den ökonomischen Zusammenhängen hatten und das Kapital von Karl Marx kaum mehr als vom Hörensagen kannten. Das noch von der ›Achtundsechziger Bewegung‹ aufgebrochene geistige Klima brachte es mit sich, dass sich alsbald eine Gruppe zusammenfand, die rasch anwuchs und von mir eine Kapital-Einführung erwartete. Es folgten Wochen intensiver Lektüre und Diskussion. Sie wirkten nicht nur bei den Teilnehmern lange nach. Denn als ich zurückkam nach Berlin, bot ich eine Vorlesung mit begleitender Lesegruppe zur Einführung ins Kapital an. Über 500 Studierende drängten in den Hörsaal, und ich konnte ein paar hundert davon nur unter der Zusage wegschicken, die Veranstaltung im nächsten Semester erneut anzubieten. Im Eilverfahren bildete ich studentische Tutoren aus. Die wöchentliche Tutorenkonferenz entwickelte sich zu einer eigenen Mikrokultur, da die – wohlgemerkt unbezahlten – studentischen Helfer und Helferinnen aus den Lesegruppen geeigneten Nachwuchs rekrutierten und so jede Generation von Studierenden der nächsten den Stafettenstab übergab. Damals leistete ich den leichtsinnigen Schwur, mit Einführungsvorlesungen zum Kapital fortzufahren, solange diese studentische Kultur sich fortzeugen würde. Damit war mein Ruf gemacht bei den Studierenden, ruiniert bei den Mächtigen. Nicht dass ich nicht auch die Seminare zu den klassischen Themen gemacht hätte, die man bei einem deutschen Philosophiedozenten erwartet. Doch nun galt ich in der Philosophie als Marxist, und das ruinierte mir alsbald die Karriere. Die Hochschulleitung in Gestalt ihres Vizepräsidenten, des Historikers Jaeckel, zitierte mich zu einem formellen Verhör, wie es komme, dass über die Hälfte der am Institut Studierenden meine Lehrveranstaltungen besuchten. Als Institut und Fachbereich mich für eine Professur vorschlugen, gab das Ministerium die Berufungsliste zurück. Margherita von Brentano nahm mich zur Seite: »Seien Sie doch einmal gut materialistisch und lassen Sie diese Kapital-Kurse.« Dagegen stand mein Schwur, das studentische Projekt nicht allein zu lassen. Als bei nächster Gelegenheit das Institut mich wieder vorschlug, verweigerte der Minister von da an die Besetzung auch anderer frei werdender Stellen. Meine Assistenzprofessur lief im Februar 1977 aus, es blieb mir die mit der Habilitation erworbene venia legendi, die »Gnade«, als Privatdozent unentgeltlich zu lehren. In dieser Situation erreichte mich die Einladung nach Roskilde, und Sie können sich vorstellen, dass ich mich dessen mit Dankbarkeit entsinne.

Als ich zwei Jahre später an der Freien Universität zum Professor berufen wurde, erklärte der Wissenschaftssenator: Nicht obwohl ich Marxist sei, berufe er mich, sondern als Marxisten. Peter Glotz wusste, warum er das sagte. Marxisten machte man nicht zu Professoren in der Bundesrepublik. Er musste versuchen, den Angriffen den Wind aus den Segeln zu nehmen. In der Tat beförderte mich tags darauf die rechts stehende Zeitung Die Welt zu »Moskaus hochschulpolitischem Mann Nummer 1« in Westberlin.

Moskau sah das anders. Erst recht die DDR. Hatte die von mir ins Leben gerufene Argument-Gruppe doch eine Resolution linker Intellektueller gegen die Ausbürgerung des (damals noch) demokratisch-kommunistischen Liedermachers Wolf Biermann auf die Beine gestellt. Ohne in Details zu gehen, will ich wenigstens sagen: Marxist zu sein in der Philosophie und Philosoph im Marxismus erfuhr ich, anders als Althusser, als die paradoxe Existenz, wie andere meinesgleichen für den Westen Agent des Ostens und für den Osten Agent des Westens zu sein. Die Hände der Systemkonkurrenten im Kalten Krieg trafen sich an unserer Gurgel.

Dass man nicht nur als Marxist in der Philosophie, sondern auch als Philosoph im Marxismus gegen den Strom schwimmen muss, dazu hat wiederum Althusser sich geäußert, in L‘avenir dure longtemps, seiner Autobiographie und umfangreichsten Schrift überhaupt, die 1992, zwei Jahre nach seinem Tod, erschienen ist. Es sind die Bekenntnisse eines unter periodischen psychotischen Schüben Leidenden, der 1980 in geistiger Umnachtung seine Frau getötet hat und nun – für unzurechnungsfähig erklärt und um dieses schwarze Loch kreisend – sein Leben Revue passieren lässt. Es ist, als hätte Althusser sich die Bekenntnisse des Mannes zur Matrix genommen, den er nicht müde wird, als den »Vater des Vaters«, nämlich von Marx in diesem Fall, hochzuheben, Jean Jacques Rousseaus Confessions.3 Er blickt in diesen Spiegel und aus den Augenwinkeln auf uns, seine Leser. »Voici le moment venu, que chacun, j’espère, attend autant que moi, de m’expliquer ...« – ist es nicht mit einem Augenzwinkern gesprochen? »Leider bin ich nicht Rousseau«, sagt er an anderer Stelle, »aber als ich den Plan fasste, über mich und das Drama, das ich erlebt habe und noch durchlebe, zu schreiben, musste ich oft an seine ungeheure Kühnheit denken.«4 Auch Althussers Bekenntnisse werden uns im Folgenden begleiten.

Zusammen mit der Disputation von Amiens bieten sie einen in der philosophischen Literatur einzigartigen Bezugsrahmen für mein heutiges Thema. Für die Jüngeren füge ich hinzu, dass Althusser als Schlüsselfigur für einen neuen theoretischen Reflexionsschub im Marxismus der Intellektuellen vieler Länder gewirkt hat.

 

2. Wie wird und warum bleibt so einer Marxist?

Althussers kommunistisches Engagement ging seinem Marxistsein voraus. An der Schwelle zu den 1950er Jahren sei er bereits Kommunist gewesen, »und als solcher habe ich versucht, auch Marxist zu sein, d.h., ich versuchte, so gut ich konnte zu begreifen, was Marxismus heißt« (Être marxiste, 51). In ähnlicher Abfolge kann man sich bereits die historische Genesis des Marxismus insgesamt vorstellen: Die aufsteigende Arbeiterbewegung ergriff im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Botschaft des Kommunistischen Manifests und des Kapital. Aus dieser Fusion von marxscher Theorie und sozialistischer Arbeiterbewegung ging der Marxismus hervor, der als geschichtlich konkrete Bewegung in und von der Spannung dieser beiden Brennpunkte lebte: der von Marx und Engels hinterlassenen Theorien und der modernen sozialistischen, später auch kommunistischen Arbeiterbewegung mit ihren Parteien und Gewerkschaften. In der Gegenwart hat sich diese Fusion weitgehend aufgelöst, sodass sich zu den Paradoxien des Marxistseins als Intellektueller in bürgerlicher Existenz auch noch die eines Marxistseins ohne Marxismus gesellt hat bzw. eines Marxistseins im Rückzug auf die marxismuskonstituierende kritische Theorie von Marx. Doch der ethische Glutkern des Marxismus und der wirkliche Brennpunkt und vulkanische Notkern, auf den er sich bezieht, glüht wie eh und je: die kapitalistische Untergrabung der »Springquellen alles Reichtums […]: der Erde und des Arbeiters«, in deren Diagnose das Industriekapitel des Kapital mündet (MEW 23, 530).

Kommunist wurde Althusser in Deutschland, im letzten Akt seiner Kriegsgefangenschaft, als ein Franzose namens Pierre Courrèges ins Lager eingeliefert wurde. Dieser Mensch, der sich als Kommunist bekannte, habe in seiner »einfachen, direkten, warmherzigen, natürlichen« Art, in der er »ohne merkbare Anstrengung auftrat und sprach«, »von heute auf morgen« durch seine »bloße Anwesenheit das Lager verändert und uns in unglaubliches Erstaunen versetzt« (102). – Dies lesend, fiel mir Pier Paolo Pasolinis Film Teorema ein, wo ein mythisch-anziehender junger Mann in eine Familie kommt und in seiner einfachen, direkten Art, ohne merkbare Anstrengung auftretend und sprechend, die Identitäten ins Wanken bringt und alle Beziehungen verwandelt, indem er als eine Inkarnation des Eros das in bewusstlose Tiefen verdrängte Begehren der einzelnen entfesselt und an sich reißt. Wie einst die jüdischen Nomaden in ihren Schönen Gesprächen an den Lagerfeuern, die Thomas Mann im Josephsroman erzählt, gießt Althusser die Erinnerung an seine erste praktische Lektion in Kommunismus ins Muster der Initiation.

Ungeachtet des mythischen Musters entziffere ich darin die Nähe zu meiner eigenen Erfahrung. Auch mein Marxismus bahnte sich als deutsch-französische Geschichte an. Statt 1945 im deutschen »Stammlager« für Kriegsgefangene, spielt diese Szene 1955 im Souterrain eines pariser Geschäftsgebäudes. Mein entscheidender Schritt aus der Familie heraus in die Welt hatte mich nach Frankreich geführt. Hier nun, in Paris, als Neunzehnjähriger, dessen erste philosophische Lektüre Nietzsche gewesen war, flankiert von Dostojewski auf der einen und Sigmund Freud auf der anderen Seite, war ich bei Coudurier, Fructus & Descher, einer alteingesessenen Firma für seidene Tuche im Reich der graubekittelten Lagerarbeiter zugange, als Letzter der Letzten. Mein Pierre Courrèges hieß Antoine, ich weiß nicht, ob mit Vor- oder Nachnamen, jedenfalls redete ich ihn, weil er mir so vorgestellt worden war, mit Monsieur Antoine an. Dessen einfache, direkte, natürliche Art bestimmte in Ton und Tun wie selbstverständlich Klima und Kultur unserer kleinen Gruppe unter den Straßen von Paris. Wenn der Chef mich in die erste Etage rief, um an mir seinen im StaLag (auch er war in deutscher Gefangenschaft gewesen) erworbenen Wortschatz auszuprobieren, der vor allem aus los! auf auf! marsch marsch! ran! und Arbeiten! bestand, – wenn dieser Herr mich rief, bedeutete mir Monsieur Antoine mit einer beruhigend zum Boden hin pumpenden Bewegung seiner flachen Hände, dass ich »auf der Erde bleiben« sollte.

Von diesem Antoine lernte ich den wortlosen Schulterschluss der pariser Arbeiterklasse alter Schule, in die ich, der Kleinbürgersohn mit ›hochkulturellen‹ Neigungen, nun einbezogen war. In der Vesperpause drehte sich die Unterhaltung der Graukittel um Käse, Wein und Liebe, aber weder die zotenhafte noch die romantische, sondern eine einverständig diesseitige, die »man macht«, quand on fait l’amour. Hier erhielt ich meine erste Lektion in dem, was ich später als Solidarität und praktischen Materialismus begreifen lernte. Anders als Althussers Pierre Courrèges war mein Monsieur Antoine kein Kommunist, zumindest war davon nie die Rede. Aber die Lektionen, die er mir durchs Beispiel erteilte, gaben dem bisher eher dumpf und verschwommen verspürten Verlangen, das mich in die Ferne getrieben hatte, um zu mir selbst zu finden, ein Gesicht, das bis heute nicht verblasst ist. Dies war die erste einer Reihe ähnlicher Erfahrungen, die erklären, warum alle meine nachfolgenden theoretischen und praktischen Projekte und Gründungen »in Hörweite« der Arbeiterbewegung konzipiert sind, einer Beziehung, die etwas Imaginäres hat, die in einer der Postmoderne verrückt vorkommenden, aber mit Wirklichkeit vollgesogener Überzeugung ankert, die der späte Marx in den Aphorismus verdichtet hat: »Die Gesellschaft findet nun einmal nicht ihr Gleichgewicht, bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht.« (MEW 18, 570) Der Satz gilt auch für die gesellschaftlichen Naturverhältnisse.

Als es kalt wurde, zog ich gen Süden, nach Montpellier, wo ich an der Kunsthochschule Malerei und an der Ausländeruniversität französische Sprache und Literatur studierte und mir nebenher mit Übersetzungen etwas Geld verdiente. Hier verschlang ich alles von André Gide, der sich ebenfalls mit Nietzsche emanzipiert und mit dem Immoralismus experimentiert hatte, aber in den Falschmünzern dessen sozialdarwinistische Herrenmoral demontierte. Dann tauchte ich in den Absurdismus von Sartres La nausée und Le mur ein.

Zehn Jahre später machte ich mit einer Kritik von Sartres absurdistischer Ontologie meinen Eintritt in die philosophische Welt – wenigstens in ihren kritisch-theoretischen Flügel. In diesen zehn Jahren hatte ich meinen Weg gefunden. Aus Frankreich hatte es mich nach Westberlin an die Freie Universität gezogen, wo ich ein Studium in Romanistik, Theaterwissenschaft und Publizistik aufnahm, aber, von meinem Dämon getrieben, bald in die Philosophie wechselte und die Religionswissenschaft hinzuwählte. Es folgte ein prägendes Jahr in Italien, wo ich in Perugia, wiederum an einer Universität für Ausländer, italienische Sprache und Kultur studierte und fasziniert registrierte, dass gleich drei Parteien, deren Koalition die Stadt regierte, ihre Wahlkampfauftritte mit Abspielung der Internationalen ankündigten. Nachdem am 13.

Mai 1958 die in Algier gegen die Befreiungsfront eingesetzten Fallschirmjäger unter General Massu den Staatsstreich ausgerufen hatten und in Paris zu landen drohten, folgte ich mit einigen anderen dem Appell einer französischen Kommilitonin, die Kommunistin war, um einer für die erwarteten Kämpfe zu bildenden internationalen Brigade beizutreten. Man stelle sich vor: Bürgerkinder gegen eine Elitetruppe, die in einem überaus grausamen Guerillakrieg Routine im Foltern und Töten erlangt hatte! In Paris wurde ich dann als Mitglied des Saalschutzes Zeuge, wie Jean-Paul Sartre in der Salle des Sociétés Savantes, in der rue Danton, seine berühmte Rede gegen Charles de Gaulle hielt, der als autoritärer Retter Frankreichs fürs Präsidentenamt mit einer eigens auf ihn zugeschnittenen Präsidialverfassung kandidierte: Les grenouilles demandent un roi, »die Frösche rufen nach einem König«.

Als die Wahl zu meiner Enttäuschung für De Gaulle ausgegangen war – erst später begriff ich, dass nur er den Krieg beenden konnte –, kehrte ich nach Westberlin zurück, wo ich mich nun auch im eigenen Land politisch engagierte, und zwar in der Internationalen Liga für Menschenrechte, deren Jugendorganisation ich gründete, sowie in der von einem Bündnis um die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften initiierten Bewegung »Kampf dem Atomtod«. Im Auftrag der Studentengruppen gegen Atomrüstung an der Freien Universität Berlin begann ich im Mai 1959, nun schon dreiundzwanzig, mit der Herausgabe einer Flugblattreihe namens Das Argument, die sich neun Monate später in eine gleichnamige Zeitschrift mit dem Untertitel »Blätter für Politik und Kultur« wandelte und die Beschränkung auf die Nuklearkriegsgefahr aufbrach mit einem Heft über einen von Frankreichs noch immer brennenden Kolonialkonflikten. Der Krieg in Algerien, unsere Mitverantwortung, hieß das von Reimar Lenz redigierte und von Helmut Gollwitzer eingeleitete Heft. Aus Frankreich stammte auch, durch Margherita von Brentano vermittelt, der Name Das Argument, und mit der Pariser Schwesterzeitschrift Arguments unterhielten wir bis zu deren Einstellung freundschaftliche Beziehungen. Zwei Monate nach dem Algerienheft folgte ein Heft mit dem Titel Die Überwindung des Antisemitismus. Der Untertitel der Zeitschrift lautete von jetzt an Berliner Hefte für Politik und Kultur. 1969 wurde er letztmalig geändert in Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften. Bereits 1966 signalisierten eine veränderte Aufmachung, ein neues Layout, ein systematisch strukturierter Rezensionsteil sowie neue Mitherausgeber den kühnen Anspruch, die Nachfolge der alten Zeitschrift für Sozialforschung anzutreten, dem von Max Horkheimer herausgegebenen Gründungsorgan der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Das nahmen wir uns zum Vorbild. Doch die Zeitläufte machten daraus eine andere Zeitschrift. Und aus mir machte die Zeitschrift einen anderen Menschen.

Nach der Nietzschelektüre, die mich aufs Philosophieren gebracht hatte, warf ich mich einige Jahre lang ins Selbststudium bei Freud und seiner Schule. Erst danach und von den Konflikten in der anschwellenden Studentenbewegung unsanft auf die Spur gesetzt, las ich das Kapital von Karl Marx, aber nicht allein, sondern »wir« lasen es, nämlich das in Auseinandersetzung mit Rudi Dutschkes ›Situationismus‹ ins Leben gerufene Marx-Engels-Seminar im Argument-Klub, das theoretische Waffen gegen den Irrationalismus und den Anschluss an die Erfahrungen der Arbeiterbewegung suchte. Jetzt, 1965, drängten sich mir die Fragen auf, die mir das Kapital aufschlossen und daraus eines der wichtigsten Werke für meine weitere Entwicklung machten.

28 Jahre nach meiner ersten pariser Lehrzeit wollte es der Zufall, dass in ein Forschungssemester, das ich an der Universität Paris X verbrachte, der hundertste Todestag von Karl Marx, der 14. März 1983, fiel. So bekam ich Georges Labicas im Vorfeld jenes weltweit begangenen Jahrestags erschienenes, aus dem Umkreis Althussers stammendes Dictionnaire critique du marxisme in die Hände. Ich verstand es als den Vorboten einer Epoche marxistischer Selbstaufklärung, und für mich stand blitzartig fest, dieses Werk auf Deutsch herauszubringen. Im Vorwort schrieb ich, der Titel Kritisches Wörterbuch des Marxismus kündige etwas in der Geschichte des Marxismus ebenso Neues wie dringend Gebrauchtes an: »Dass ein historisches Verhältnis zu den eigenen Begriffen und ein kritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte eine Selbstverständlichkeit werde.« Der Herausgeber des derart indirekt als ›mittelalterlich‹ dargestellten Wörterbuchs der Philosophie der DDR, Manfred Buhr, zögerte nicht, es mir gebührend heimzuzahlen, indem er mich im Philosophieorgan der DDR als eine Art imperialistischen Agenten vorführte.5 Wenig später sagte der ›Chefideologe‹ der DKP, Robert Steigerwald, beim DDR-Philosophenkongress über die in der Zeitschrift Das Argument kultivierte »Denkweise«: »Diese Art ›intellektuelles Lumpenproletariat‹ erweist sich mit seinen Vorbehalten gegenüber dem Sozialismus und seiner Abstinenzhaltung zum Leninismus als ›schlimmer‹ als das Lumpenproletariat.«6 Tiefer denn als Philosoph im Marxismus, der an dessen Gründungsideen festhielt, konnte man anscheinend nicht sinken.

Die Gruppe, die sich 1983 um jenes Übersetzungsprojekt scharte, plante ein oder zwei Supplementbände zur Ergänzung um außerfranzösische Sichtweisen. Die Übersetzung erschien in acht Bänden, der erste bereits Ende 1983, der letzte 1989, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, und aus dem Supplementplan erwuchs angesichts des Zusammenbruchs der europäischen Staatssozialismen die Gründung des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus. Als wir 1994 den ersten Band in den USA vorstellten, nannte Frank Cunningham, damals Vorsitzender des kanadischen Soziologenverbandes, sein Erscheinen »world historic«. Er hatte Recht, wie ich noch immer finde. Denn was für eine Weltgeschichte und welche Welttragödie hatten wir uns da aufgeladen! Aber auch welcher Reichtum an geschichtlichen Erfahrungen und theoretischen Entwürfen und philosophischen Impulsen! Fredric Jameson bemerkt dazu: »Die gesamte marxistische und kommunistische Tradition, die ungefähr den gleichen Zeitraum umfasst wie das goldene Zeitalter Athens, stellt in einem ganz präzisen Sinne jenes goldene Zeitalter der europäischen Linken dar, dem es sich wieder und wieder zuzuwenden lohnt.« (2009)

Wenn mich andererseits bei der zehn Jahre dauernden Übersetzung von Gramscis Gefängnisheften oft das Gefühl beschlich, ameisenklein die Sahara durchqueren zu sollen, so weiß ich als Herausgeber des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus, dass ich den Abschluss dieses Werkes nicht erleben werde. Leute mit gesundem Menschenverstand werden kopfschüttelnd fragen, warum jemand so etwas unternimmt. Zumal wenn ihm Parteitheoretiker alsbald nahelegen, »sich […] als Nicht-Marxist zu bekennen«7. Warum also? Warum wird nicht nur, sondern bleibt so einer Marxist?

Ernst Blochs Antwort ist kategorisch: »Wer Marxist ist, muss eigentlich auch ein Philosoph sein; und wenn man Philosoph ist, muss man, um Philosoph zu sein, entweder marxistisch sein oder ein Ideologe der herrschenden Klasse, ob man will oder nicht.« (1975, 139) Auch Bertolt Brechts Satz, »als ich Das Kapital las, verstand ich meine Stücke«, hält mitten in den Schrecken des 20. Jahrhunderts die entsprechende Erfahrung fest.

Der Grund ist: das Marxistsein entfesselt intellektuelle Produktivität und bindet sie zugleich an eine Gefahrendiagnose und an ein Projekt, das ihr einen Sinn gibt. Es ist dies eine innerweltliche, jedoch den Zustand der Welt transzendierende Rückbindung, wörtlich religio. So konnte Bloch guten Gewissens von seiner Philosophie sagen, sie sei, »wenigstens in ihrer Absicht, durchdringend marxistisch […] in dem negativen Blick, in dem kühlen, unbestechlichen Blick, in dem Aufsuchen der so lange vernachlässigten ökonomischen Ursachen im Unterbau, ohne dass daraus aber Ökonomismus werden darf« (162). Ohne den durch die marxsche Kritik der politischen Ökonomie geschärften durchdringenden Blick auf die herrschende Gesellschaftsformation schlägt diese Formation alles Philosophieren mit Unwahrheit.

 

3. Philosophie als Problem im Anschluss an Marx

In der Philosophie besteht allerdings der erste Stolperstein für einen Marxschüler in der Absage seines Meisters an die Philosophie selbst. Denn Marx reihte deren theoretische Produktionsweise unter die ideologischen Formen ein und deren Akteure, die Philosophen, unter »die ›ideologischen‹ Stände, wie Regierung, Pfaffen, Juristen, Militär usw.« (MEW 23, 469), von denen er sagt, »dass die Gegensätze in der materiellen Produktion eine Superstruktur ideologischer Stände nötig machen, deren Wirksamkeit – sei sie gut oder schlecht – [vom Standpunkt der kapitalistischen Bourgeoisie] gut, weil nötig ist« (MEW 26.1, 259).

Damit stoßen wir auf einen zweiten Stolperstein: Ideologie und Ideologen bildeten für Marx den Gegenpol zu seiner kritischen Theorie. Sie waren Gegenstand seiner Kritik. Wie Friedrich Engels wusste auch Antonio Labriola, der Philosoph unter den Marxisten der ersten Generation, das noch genau, wenn er 1896 sagte, Marxens Theorie habe »den Blickwinkel jeder Ideologie ein für allemal überwunden«.8 Dies stand in diametralem Gegensatz zum späteren Mainstream im Marxismus der Zweiten Internationale. Bereits auf deren Gründungsversammlung im Juli 1889 hatte der junge russische Delegierte Georgi Plechanow, Lenins Lehrer in Sachen Philosophie, von »unseren revolutionären Ideologen« gesprochen (zit.n. Jena 1989, 67). Vollends im Marxismus-Leninismus der Dritten, der Kommunistischen Internationale pflegte man »Marx und Engels als Ideologen der Arbeiterklasse«9 zu titulieren.

Am Ideologiestatus der Philosophie dockte in der Folge ein System an, das sich mit Helmut Steiner als Marxismusenteignung10 bezeichnen lässt: Die Monopolisierung der Marxismuskompetenz durch das Machtzentrum, also die entsprechende Enteignung der Arbeiterklasse und ihrer Intellektuellen. Althusser, der in dieser Linie seinen Marxismus gelernt hat, verankerte trotz seiner Stalinismuskritik die Verkehrung der marxschen Ideologiekritik in Ideologie sogar ontologisch: »Nur eine ideologische Weltanschauung konnte Gesellschaften ohne Ideologien erdenken«, und »der historische Materialismus kann sich nicht vorstellen, dass selbst eine kommunistische Gesellschaft je ohne Ideologie auskommen könnte11 Nun, Marx und Engels haben es sich vorgestellt. Dieser von ihrem Standpunkt inakzeptable Satz deutet darauf hin, dass Althusser den Begriff der Ideologie mit dem ganz anders ansetzenden psychoanalytischen Begriff des Unbewussten zusammenfließen ließ.

Ganz anders und wieder eng bei Marx setzt Brecht die Begriffe an. Ihm geht es um »Anwendung der Dialektik zur Zerstörung von Ideologien« (GA 21, 524). Entsprechend bestärkte sein Beispiel mich darin, die marxsche Metaphysikkritik neu aufzunehmen. Das Bild, das er von Marx’ Verhältnis zur philosophischen Ideologie zeichnet, ist allerdings nur zur Hälfte richtig. Der junge Marx, lässt er seinen Me-ti sagen, näherte sich den Philosophen noch »als Philosoph und zerpflückte ihre Behauptungen von ihrem eigenen Standpunkt aus«. Bis hierher stimmt es. Falsch wird es, wenn er ihn fortfahren lässt: »Dann behandelte er sie als Nichtphilosoph und zeigte lediglich an ihrem Beispiel, zu welchen Abgeschmacktheiten es führt, wenn man lebt, um zu philosophieren, statt philosophiert, um zu leben. Am Ende befasste er sich […] nur noch mit praktischen Forschungen, ab und zu Philosophen wie lästige Fliegen abwehrend.« (W 12, 556) Aber nein: In Wahrheit räumt Marx – hier hat wiederum Althusser recht – zumindest den klassischen Philosophen in Fragen der Begriffsklärung und Methodenreflexion, aber auch hinsichtlich der frühen Theorien über Wert und Mehrwert einen wichtigen Platz ein – angefangen mit Demokrit und Epikur als den Begründern des philosophischen Materialismus und Aristoteles als »dem großen Forscher […], der die Wertform, wie so viele Denkformen, Gesellschaftsformen und Naturformen zuerst analysiert hat« (MEW 23, 73), weiter mit Bacon, Hobbes, Spinoza, Vico, Rousseau, den deutschen Idealisten und ihrem materialistischen Kritiker Feuerbach usw..

Möglicherweise ist Brecht über die Doppeldeutigkeit des Wortes »Philosoph« gestolpert, unter der auch mein Vortragstitel leidet. Auf die Gegenwart bezogen heißen nämlich Philosophen alle, die sich professionell mit Philosophie befassen. Auf die Vergangenheit bezogen, verstehen wir unter Philosophen einzig diejenigen, die einen Entwicklungsschub der »Denkart« (Kant) bewirkt haben. Kierkegaard hat in Entweder-Oder (1843) die Verwechslung der beiden Bedeutungen des Wortes Philosoph ins Bild vom Trödelladen gebracht, in den jemand seine Wäsche zum Mangeln bringt, weil im Schaufenster ein altes Emailschild ausgestellt ist, auf dem geschrieben steht »Hier wird gemangelt«. Nietzsche setzt kräftig eins drauf: Die Philosophieprofessoren befassen sich mit der Philosophie wie der Wurm mit der Leiche, sagt er. Sie zehren davon. Er selbst war Gräzist, nie Philosophieprofessor, so wenig wie der bedeutendste dänische Philosoph Kierkegaard oder der vor einiger Zeit aus einer BBC-Umfrage als welt-bedeutendster Philosoph hervorgegangene Marx.

Zurück zu Brecht: Auch das philosophiekritisch gemeinte Argument der Verkehrung von Leben und Philosophieren, das er seinem Me-ti in den Mund legt, hält nicht stand. Der Vorrang des Lebens vor dem Philosophieren ist ein jahrtausendealter philosophischer Grundsatz – primum vivere deinde philosophari. Freilich heißt Leben im Munde der alten Philosophen richtig leben, wobei richtig leben glücklich leben meint, und darin steckt angesichts der Prekarität des Glücks schon wieder das philosophische Moment als letztlich dennoch vorrangig.

Brecht glaubte, in seiner kleinen Me-ti-Geschichte die marxsche Philosophiekritik verdichtet zu haben. Was ihn irregeführt hat, mag die berühmte elfte Feuerbach-These sein. In goldenen Lettern hat sie den Untergang der DDR im Treppenaufgang des Hauptgebäudes der Berliner Humboldt-Universität überstanden: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« – Ein Philosoph im Marxismus hat es mit diesem Satz nicht leicht. Soll er aufhören, die Welt in Gedanken zu erfassen, um sie stattdessen zu verändern? Selbst wenn er sich nicht gezwungen sähe, mit dem Philosophieren aufzuhören, bleibt die Frage nach dem Wie und Wohin des Änderns der Welt. An dieser Stelle trat ihm im Staatssozialismus die herrschende Partei mit dem Ansinnen entgegen, die von ihr geleitete Veränderung der Welt als die Verwirklichung der marxschen Philosophie anzuerkennen und mit philosophischen Mitteln zu unterbauen. Marxistische Kritik hatte sich auf kapitalistische Ideologie oder auf andere als die offiziellen Marxismus-Interpretationen zu beschränken. Die goldenen Lettern wurden zum Alptraum der Selberdenkenden unter den Intellektuellen und besonders der Marxisten unter ihnen, die mit ihnen der staatsideologischen Disziplin unterworfen wurden. Der autonomkritischen Interpretation der Weltveränderung wurde die Legitimation entzogen.

Der rote Marmor, auf dem die goldenen Lettern prangen, stammt übrigens aus Hitlers Reichskanzlei. Nichts gegen solche Umwidmung kostbaren Materials zur Würdigung der Wissenschaft. Doch der genaue Wortlaut der Textversion stammt nicht von Marx, sondern von Engels. Das einen ausschließenden Gegensatz suggerierende Aber zwischen Interpretieren und Verändern gehört nicht hierher. Anders hätte die achte These keinen Sinn, in der Marx einschärft: »Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der Praxis und im Begreifen dieser Praxis.« Begreifen ohne Interpretieren gibt es nicht. Im Übrigen ist schon der erste Halbsatz, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, »völlig falsch«, wie der späte Althusser bemerkt: »Sie haben nie, niemals darauf verzichtet, sie zu verändern«, fügt er hinzu, »indem sie praktisch auf sie und ihre Formen der Erkenntnis und Praxis einwirkten, gewiss nicht direkt, sondern auf Distanz, der Anlage und der Art des Handelns entsprechend, die aller Philosophie eigen ist«12.

Marx hat mit seiner Philosophiekritik etwas im Sinn, was mit dieser indirekten Handlungsform aller Philosophie zu tun hat. Ihm steht vor Augen, dass Aristoteles an den Zutritt eines Menschen zum Philosophieren die Bedingung geknüpft hat, dass er »das Handeln weglässt und vor allem das Produzieren« (EN 1178b, 20f) und sich aufs »reine Anschauen« beschränkt (27). Marx kritisiert die Herauslösung des philosophischen Moments des Nachdenkens aus dem Lebens- und Arbeitszusammenhang und seine Zuweisung an einen der herrschenden Klasse und der Staatsmacht angegliederten ideologischen Stand. Und er kritisiert die spekulative philosophische Grammatik, die dieser gesellschaftlichen Stellung entspringt.

Wo Brecht den späten Marx die Philosophen wie lästige Fliegen verjagen lässt, erkennt Antonio Gramsci in der marxschen Verabschiedung der Philosophie einen philosophischen Akt – Akt einer neuartigen Philosophie freilich, ausgehend von anderer gesellschaftlicher Stellung, mit anderer theoretischer Produktionsweise und entsprechend anderer philosophischer Grammatik und anderem Aufbau. Zunächst einmal sind alle Menschen Philosophen, wenn man darunter kein professorales Spezialistentum versteht. Hier trifft er sich mit Brecht, der eine stoische Fähigkeit, Schicksalsschläge einstecken zu können, als den Sinn identifiziert, den gewöhnliche Leute zum Ausdruck bringen, wenn sie sagen, der oder jener habe sich »wie ein Philosoph« verhalten. An diese Bedeutung möchte Brecht anknüpfen, jedoch das Einsteckenkönnen um das Austeilenkönnen von Schlägen ergänzen, das Ausweichen nicht zu vergessen.

Von Brecht und Gramsci habe ich gelernt, wie sich nach der marxschen Philosophiekritik philosophieren lässt, ohne hinter diese Kritik zurückzufallen. Die Kritik richtet sich gegen Philosophie als Herrschaftswissen und die diesem entsprechende Form der Anschauung. Hier dagegen wurde sie von unten aufgebaut, ansetzend bei den Verhältnissen der lebensnotwendigen Arbeit, als Herrschaftskritikwissen und als Lehrerin der »größten aller Künste, der Lebenskunst«, wie Brecht der antiken Weisheit Echo gibt (GA 23, 291; GW 16, 703). Ich kam zu der Überzeugung, dass dieser Aufbau ›von unten nach oben‹ überhaupt der für marxistische Theoriebildung, ja letztlich für alle Theorie, so sie als wissenschaftliche Geltung beanspruchen wollte, maßgeblich sein müsse. Im Marxismus an der Macht konnte man damit in Schwierigkeiten kommen.

 

4. Philosophieren im Marxismus

»Man ist immer der ›Marxist‹ für irgendwen«, sagte mir vor dreißig Jahren der afrikanische Philosoph Paulin Hountoundji. Im Marxismus geht es umgekehrt zu. Man ist dort immer der ›Nicht-Marxist‹ für irgendwen.13 Das »In« der kritischen Theoriebildung »im« Marxismus ist ein prekäres In, jederzeit am Rande der Ausstoßung. Was sie auszustoßen droht, ist der Konformismus von oben, dem der von unten entgegendringt. Tatsächlich verlangt ja die Bildung kollektiver Handlungsfähigkeit die Konvergenz dieser beiden Konformismen. Dagegen verstößt kritische Theoriebildung vor allem an zwei Fronten: Die eine ergibt sich daraus, dass die Wirklichkeit, um es mit Brecht zu sagen, sich ständig unterm Denken wegbewegt und das Denken sich folglich periodisch aus dem Konformismus des bisher für richtig Gehaltenen wegbewegen muss. Die zweite Front folgt aus der Kluft zwischen Marx und Marxismus. Über sie hat erstmals Rosa Luxemburg nachgedacht. Sie erklärt 1903 diese Diskrepanz damit, dass »das eigentliche theoretische Bedürfnis der Arbeiterbewegung im großen und ganzen befriedigt« gewesen sei durch die Theorie der kapitalistischen Ausbeutung und durch die Analyse der zu ihrer Überwindung tendierenden Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Das habe den »geistig führenden Ideologen« der Arbeiterbewegung »sehr enge Schranken in der intellektuellen Tätigkeit gewiesen«. Infolgedessen liege »das Wertvollste« der marxschen Lehre weitgehend »unbenutzt« da (GW 1/2, 366f). »So rächen sich«, sagt sie, »die von Marx theoretisch aufgedeckten sozialen Daseinsbedingungen des Proletariats in der heutigen Gesellschaft an den Schicksalen der Marxschen Theorie selbst.« (368)

Die 1903 noch kaum ahnbaren Entwicklungen des »Zeitalters der Extreme« (Hobsbawm), die Luxemburg das Leben kosten sollten, haben diese »Rache« auf die staatliche Ebene verlagert: im Osten durch die revolutionäre Staatswerdung der Mehrheitslinie des russischen Marxismus in einem despotisch regierten Entwicklungsland, im Westen durch die Absorption des dortigen ursprünglichen Mehrheitsmarxismus im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat auf Grundlage der Massenproduktion und des Massenkonsums fordistischer Prägung und seiner feindlichen Übernahme durch den »Nationalsozialismus«.

In der Gegenwart stellen sich diese Fragen anders. Der transnationale Hightech-Kapitalismus hat die traditionelle Arbeiterbewegung geschwächt und die Arbeitsverhältnisse prekarisiert durch eine früher unbekannte globale Fragmentierung der Arbeiterklasse. Deren partielle Intellektualisierung oder sogar Verwissenschaftlichung und hunderte Millionen erfassende Verwandlung in virtuelle Bürger des weltweiten Internet hat ihre Ausdifferenzierung zur Zersplitterung gesteigert. Eine transnationale Arbeiterbewegung als »Defragmentierungsprogramm«, wie der niederländische Theologe Ton Veerkamp sagt,14 ist bislang noch nicht erfunden. Die Fragen stellen sich erst in dem von Bloch stark gemachten Modus der objektiven Möglichkeit, die nur marginal verwirklicht wird.

Sich der Aufgaben an jener doppelten Problemfront anzunehmen, pflegt auf die Formeln »Mit Marx über Marx hinaus« und »neu bei Marx ansetzen« gebracht zu werden. Bei der letzten Formel muss im Sinne der ersten das Neu betont werden. Denn der Rückgriff meint nicht, bei Marx zu bleiben.

Althusser ging weiter. Er wollte Marx neu erzeugen. Zwar proklamierte er Rousseau zum »Vater des Vaters« Marx, doch in Wahrheit war er selbst es, den es nach dieser Position verlangte. In seinem Lebensbericht spricht er aus, was er in Amiens unausgesprochen praktiziert. Seinen archimedischen Punkt, von dem aus er gedenkt, den marxschen Text aus den Angeln des marxschen Selbstverständnisses zu heben, nennt er dessen Ungedachtes.15 Er lokalisiert es in den neuen Kategorien der Dialektik, die er in Marxens Kapital und in Lenins Praxis wirksam werden sieht, ohne dort schon »ihren Namen [zu] tragen« (Être marxiste, 63f). In einem der ›richtigen Namen‹, die Althusser der marxschen Dialektik zu geben beansprucht, sehe ich einen wichtigen Fortschritt für marxistisches Philosophieren. Er zielt auf das hegelsche Totalitätsdenken, dessen Kritik er in dem aus Marx herausinterpretierten Alternativbegriff des »Ganzen« verankert. In diesem kategorialen Unterschied des Ganzen von der Totalität, der dem naiven Bewusstsein spitzfindig vorkommen mag, sieht Althusser den entscheidenden qualitativen Sprung über Hegel hinaus, mit dem Marx auf materialistischem Boden lande. Friedrich Engels’ Präzisierung, dass die ökonomischen Verhältnisse das gesellschaftliche Sein und Bewusstsein nicht unmittelbar, sondern erst in »letzter Instanz« determinieren, versteht er als befreiende Absage an das vermeintlich letzte Wort im Sinne eines ökonomistischen Determinismus und als Auftrag an Theorie und Forschung, eine Pluralität von Instanzen im Innern jenes Ganzen zu denken (61). Wie Lukács in seiner Ontologie des gesellschaftlichen Seins baut er unter das marxsche und engelssche Denken neue Fundamente, mit denen er dieses Denken besser als Marx zu begründen beansprucht, und zwar auf eine Weise, die es verändert.

In der Kritik des Totalitätsdenkens folgte ich Althusser, als ich nach der Rückkehr aus Roskilde das berliner Forschungsprojekt Ideologietheorie gründete.16 Althussers »Ganzes«, dessen Plausibilität ich in marxschen Begriffen wie denen des »Gesamtarbeiters«, des »ideellen Gesamtkapitalisten« oder des »ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse« bestätigt fand, fasste ich mit Sartre als »unganzes Ganzes« und wandte mich dessen Prozesscharakter zu. Am 1. September 1977 notierte ich: »Das Ganze ist nicht, es wird. Das Ganze ist nicht, es ist umkämpft.

Das unganze Ganze, la totalité détotalisée.« Unmittelbar davor probierte ich aus, ob ich Althussers Umgang mit Marx auf mich selbst anwenden könnte, als wollte ich mein eigener Vater werden: »Mein derzeitiges Hauptproblem: Verallgemeinerung und Kategorisierung meiner operativen Philosophie. Sie ist da in Applikation, nicht in Explikation.« Doch dann verschiebe ich den Sinn der Aufgabe, die ich mir stelle: »Daher meine Position, sobald umkämpft, schlechter zu halten. Althusser dagegen kämpft (bzw. betreibt Theoriemarketing) ganz ausgezeichnet. Seine Abstraktionen sind gängig, leicht weiterzusagen, allerdings oft hohl.« Dieses böse Wort »hohl«, das ich damals in Bezug auf Althusser nicht öffentlich über die Lippen gebracht hätte, mag hier noch selber hohl klingen, doch bezog es sich auf Althussers Methode der Gegen-Übertreibung. Zu ihr hatte er sich 1975, in Amiens, als seinem Stilprinzip bekannt, dem »eine ganze Theorie von der Wirksamkeit des Wahren« als Eingriff ins Kräfteverhältnis zwischen herrschender und beherrschter Ideologie zu Grunde liege (56f). Er wolle »die Ideen zu einer Veränderung zwingen«, statt bloß »das Wahre in seiner ganzen Nacktheit« zu zeigen »und abzuwarten, dass seine anatomische Existenz die Geister ›aufklärt‹«, was 18. Jahrhundert sei. Argumentieren hieß für ihn »die Logik eines gesellschaftlichen Kampfprozesses« (57) bedienen. Dabei war ihm klar, dass er so das Falsche propagieren konnte, und er akzeptierte das als »das Risiko jeder Philosophie«. Denn hier gebe es »keine Instanz, die zu entscheiden in der Lage wäre« (58). Mir erschien das als Aufhebung des theoretischen Gewissens, als der Stil des imaginären Mitträgers einer idealisierten Diktatur des Proletariats, während ich eher von Gramsci das Zuhören, das kritische Hineinlauschen ins Diskursmaterial der Zeit zu lernen im Begriff war, das mit meinem Verständnis von Materialanalyse in sozioanalytischer Perspektive verschmolz.

Als ich in Vorbereitung des heutigen Vortrags Althussers postum veröffentlichte Konfessionen las, entdeckte ich, dass er dort seine Arbeitsweise gnadenlos als die eines Menschen beschreibt, der die »rhetorische Überzeugungskraft« (155) über die Forschung stellt. Mündlich wie schriftlich habe er die meisten Themen ohne große Sachkenntnis behandelt. »Doch war ich fähig, eine Abhandlung zu ›machen‹«, schreibt er, »und mein Unwissen, wie es sich gehört, unter einer apriorischen Behandlung von egal welchem Gegenstand zu verbergen« usw.17

Diese Haltung stieß mich ab. Doch fand ich in Althussers Weise, »Vater des Vaters (Marx)« zu sein, ein Stück meiner eigenen Arbeitsweise mit beschrieben. Man konnte Marx nicht tragfähig interpretieren, ohne ihn zu verändern. Was tat ich anderes in meiner Kapital-Einführung, wenn ich die marxsche »dialektische Methode«, die er auch seine »Entwicklungsmethode« nennt, konsequent praxeologisch rekonstruierte, wo sie bei Marx noch zur Wesen-Erscheinungs-Metaphysik hinüberschillerte?

Der Tabubruch war nicht zu umgehen. Indem Althusser ihn aussprach, sprach er unser aller Geschäftsgeheimnis aus, dass wir Marx in dessen eigenem Namen überschreiten müssen. »Ja«, schreibt Althusser in seinen Konfessionen, »mir ist ganz klar, dass ich quasi eine Philosophie für Marx fabriziert habe, die sich vom Vulgärmarxismus unterscheidet, doch da sie dem Leser eine nicht mehr widersprüchliche sondern kohärente und verständliche Darstellung bot, dachte ich, das Ziel erreicht und mir zugleich Marx ›angeeignet‹ zu haben, indem ich ihm seinen Anspruch auf Kohärenz und Verständlichkeit zurückgegeben habe. […] Man konnte ihn uns also wirklich als Zeitgenossen wiedergeben.« (L‘avenir, 214) Soweit erkenne ich mich in diesem Programm wieder. Doch verlangt es nach den Tugenden der Philologie, der dieses Problem seit der Antike bestens vertraut ist. Althussers Aufforderung, »dass wir uns vom marxschen Wortlaut lösen, um ihn seinem eigenen Denken verständlich zu machen« (ebd.)18, geht an die Grenze zur Hybris, jenen Wortlaut dem eigenen Denken zu opfern. Hier enterbt dann der Sohn den Vater. »Ich hatte so gut gelernt, den ›Vater des Vaters‹ zu spielen«, schreibt Althusser, »und solchen Gefallen daran gefunden, dass dieses Unternehmen, an seiner Stelle zu denken, was er hätte denken müssen, um er selbst zu sein, mir wie angegossen saß.« (L‘avenir, 215)19

 

5. Zwei Weisen, das Paradox marxistischen Philosophierens zu leben

In wichtigen Fragen ziehe ich am selben Strang wie Althusser. Beide haben wir viel von Hegel gelernt, doch beide widersetzen wir uns der Rehegelianisierung von Marx. Uns eint die Liebe zu Epikur und zu Spinoza, auch der Respekt für Machiavelli. Dann wieder trennen sich unsere Wege. Er möchte sein wie Rousseau und neidet ihm sein Genie. Ich neide keinem von beiden das ihre und philosophiere mit Brecht und Gramsci. Er übermalt Marxens Kritik des Ideologischen mit einer existenzialontologischen Verewigung der Ideologie, ich bemühe mich, das Übermalte wieder freizulegen und die an Marx anknüpfende Ideologietheorie an der geschichtlichen Wirklichkeit der letzten hundert Jahre zu erproben und weiterzuentwickeln. Er versteckt Gramscis Hegemonietheorie unter seiner These über die Ideologischen Staatsapparate, ich hole Gramsci darunter vor und mühe mich um seine Übersetzung – in meine Muttersprache zunächst, doch vor allem in die Wirklichkeit von heute.

Wie es scheint, hat Althusser fast nur über Theorie geschrieben, kaum theoretisch über Wirklichkeit. Wirklichkeit aber ist immer konkret und besonders. Unabhängig von einzelnen Positionsunterschieden deutet sich hier zwischen uns eine, um es mit Hegel zu sagen, andere »Stellung des Gedankens zur Objektivität« an.20 Meine Kritik der Warenästhetik ist zugleich allgemein und gegenständlich konkret; allgemein, weil einen Phänomenbereich insgesamt erschließend; gegenständlich konkret, weil dessen Entwicklung an den Phänomenen entlang von den ersten spontanen Formen bis in die hightech-kapitalistischen Raffinessen der Gegenwart verfolgend, einschließlich eines Ausflugs in den Staatssozialismus. Auch die allgemeinen, für alle Klassengesellschaften geltenden Umrisse einer Theorie des Ideologischen habe ich alsbald gemeinsam mit anderen historisch in vielen Facetten (Philosophie, Sozialpsychologie, Psychiatrie, Justiz, Religion, politische Rituale usw.) an konkreten Gegenständen wie den patriarchalischen Geschlechterverhältnissen, der Subjektkonstitution unter kapitalistisch-bürgerlichen Verhältnissen oder am Beispiel der Faschisierung des bürgerlichen Subjekts oder den Do-it-yourself-Mobilisierungspraxen im Hightech-Kapitalismus erforscht. Die wiederum allgemeintheoretisch anhebende epistemologische Klärung der Kapital-Lektüre setzte ich alsbald um in Analysen zum fordistischen Kapitalismus, an die sich an der Wende zum 21. Jahrhundert ein Versuch begrifflicher Durchdringung des transnationalen Hightech-Kapitalismus anschloss. Gleiches lässt sich sagen von meinen Elementen einer Philosophie des Kulturellen, wo ich das Moment der in unser aller Leben mikrologisch allgegenwärtigen kulturbildenden Unterscheidung in seine konkreten sozialen Schicksale verfolge. Die theoretischen Thesen zu Sozialismus und Stalinismus habe ich 1989 umgesetzt in eine Untersuchung zum Perestrojkaprojekt unter Michail Gorbatschow, aus dem Stimmengewirr der Intellektuellen die konkrete Diagnose des Scheiterns der Sowjetunion herauslösend.

Nie war es die Theorie als solche, die mich interessierte, immer die Wirklichkeit, deren gedankliche Erschließung ihr Sinn ist. Gerade deshalb habe ich mich wieder und wieder mit Theorien, auch mit solchen von Althusser, kritisch auseinandergesetzt, wo ich fand, dass sie den Weg zur Wirklichkeitserkenntnis blockierten.

Die einzige konkrete Analyse, die ich von Althusser kenne, ist seine Selbstanalyse. Vielleicht spielt mit, dass marxistische Theorie für ihn eine Art Mitgliedschaft war, weil er sich erst sekundär, als Kommunist, zum Marxisten machte. Es ist, als sei diese ›theoretische Mitgliedschaft‹ sein eigentlicher Gegenstand gewesen, den bearbeitend er an die Identität der anderen ›Mitglieder‹ des Marxismus rührte.

Für ihn bedeutet Marxismus vor allem Materialismus, weniger Dialektik und Geschichte. In seinen Konfessionen legt er eine weitere Spur. Er schildert sich als Gefangenen des Dualismus von Geist und Körper, einer fast gnostischen Zweiweltenlehre von reiner Theorie und unsauberer Stofflichkeit. Zum Marxismus gekommen sei er durch sein Verlangen, diese ideologische Körperlosigkeit zu durchdringen und dem eigenen Körper, der weltverändernden Hand usw. Rechnung zu tragen, was er damit in Zusammenhang bringt, dass er mit siebenundzwanzig zum ersten Mal onaniert habe (L‘avenir, 216). Offenbar bedeutete für ihn Materialismus, sich einen gleichsam theoretisch legitimierten Körper zu erobern. So auch der Theorie: Indem er Sigmund Freuds überaus nützlichen Begriff der »Überdeterminierung« einander widerstreitender Impulse, erweitert um den Begriff der »Unterdeterminierung«, in den Marxismus einbrachte, ebnete er den Weg für die Analyse der immer ›unsauberen‹, das heißt, aus differenten und divergenten Impulsen resultierenden Realität.

Beide haben wir trübe Kompromisse gesprengt und Klärungsprozesse in Gang gesetzt. Doch wo er verkündet, erkunde ich. Er möchte überwältigen, ich überzeugen, aber nicht durch Rhetorik, sondern indem ich Argumente und Belege anbiete, aufgrund derer sich meine Adressaten selbst überzeugen können.

Daher wirke ich vorbereitend, er im Ton der Endgültigkeit, wirke langsam, wo er schnell und durchdringend wirkt. Am Schluss lege ich mein Werk ins Archiv des general intellect, als »Flaschenpost«, wie Jameson den ersten Band des HKWM bezeichnet hat. Er aber, sein eigener Herostrat, zerstört sein Werk. Der »Vater des Vaters«, der er zu sein versuchte, stürzte sich am Ende selbst, sein eigener gegen ihn aufbegehrender Sohn, in einem paradoxen Akt des Vatersturzes, der Züge der Rache angenommen hat.21 Während er 1975 in Amiens noch erklärt hatte, die marxsche Philosophie zeige »den Ort an, von dem aus Marx begriffen werden kann, weil sich dort seine Position resümiert« (Être marxiste, 60), verkündet er Ende der 1970er Jahre und vollends in der Autobiographie, das Philosophische an Marx sei nicht neu, »ausgenommen die ›qualmige‹ und buchstäblich undenkbare Theorie des Arbeitswerts, die Marx als seine einzige authentisch persönliche Entdeckung beansprucht« (L‘avenir, 203f). Sein großer Widerruf machte zwei-drei Jahre nach der Rede von Amiens die Krise des intellektuellen Marxismus seines Umfelds manifest. Wo er eben noch die theoretische Strenge des Kapital betont und mit der Mathematik verglichen hatte, sah er nurmehr inkohärente und inkonsistente Entwürfe. Es ist, als lebte er sein eigenes Zerbrechen als das Zerbrechen des Werkes von Marx.

In unseren Niederlagen begegnen wir uns von entgegengesetzten Seiten. Er kommt vom Leninismus her, den Stalin als Fassade seines Regimes der mit Kommando und terroristischer Zwangsgewalt betriebenen Industrialisierung kodifiziert und kanonisiert hat. Mehr aufs Argument und auf Einsicht bauend, komme ich von dem her, was der schwedisch-deutsche Schriftsteller Peter Weiss die »Linie Luxemburg-Gramsci« genannt hat, eine Linie, in der ich auch Brecht verstehe und mit ihm den anderen Lenin, von dem Brecht sagt: »Die Befehle Mi-en-Lehs [Lenins] waren kurzgefasste Überzeugungen. Mi-en-Leh konnte nicht sagen, die Übermacht seiner Gegner zwinge ihn, zu befehlen: Sie zwang ihn, zu überzeugen. Ni-en [Stalin] hatte weniger Gegner und befahl.« (W 12, 530)

Von seinen Konfessionen sagt Althusser, er vertraue »dieses sehr persönliche Buch« der Öffentlichkeit an, »um definitiv in die Anonymität einzugehen« (L‘avenir, 202f). Ich weiß nicht, ob ihm klar war, dass er sich mit der Ausstellung seiner Existenz am Rande der Psychose in die Philosophiegeschichte als der Nietzsche des Marxismus eingeschrieben hat. »Wir sind gekommen, um in unserer eigenen Intervention zu verschwinden«, hatte er 1974 in einer Vorlesung übers Schicksal der Philosophen gesagt.22 In diesem Widerspruch wird er bleiben, ein Märtyrer der condition philosophique eines kommunistischen Marxisten des 20. Jahrhunderts.

Er hat der Passion des Denkens Monumente gesetzt, ich habe versucht, künftiger Praxis Wege ins Wirkliche zu bahnen, und werde in den Wegen aufgegangen sein, von denen ich erwarte, dass sie als begehbar erfahren oder vergessen werden. Wie Althusser in seinen Bekenntnissen, verschwinde ich im Projekt der historisch-kritischen Selbstreflexion des Marxismus.

 

Auf dem Spiel steht die geschichtliche Denk- und Handlungsfähigkeit im Einklang mit dem Ziel einer solidarischen und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft. Der Krisenraum der Kluft zwischen Marx und Marxismus angesichts des Wirklichkeitsverlusts und der ausstehenden Auf-den-geschichtlichen-Tag-Bringung, katholisch kurz aggiornamento, ist der Ort marxistischen Philosophierens.

 

1 Vortrag zur Entgegennahme der Ehrendoktorwürde an der Universität Roskilde, 20. September 2013. Für Anregungen danke ich Manfred Bürger, Hartmut Haberland, Frigga Haug, Sabine Plonz, Jan Rehmann, Klaus Schulte und Thomas Weber.

2 Zit.n. dem Wiederabdruck im Anhang zu meinen Neuen Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, Hamburg 2006, 257.

3 Rousseau kündigt sie in seiner Vorbemerkung an als »das einzige, exakt naturgetreu und in seiner vollen Wahrheit gemalte Porträt eines Menschen, das existiert und vermutlich jemals existieren wird«.

4 Zit.n. P.Schöttler, »Ein lebendiger Toter«, in: DIE ZEIT, 5. Juni 1992, 14 (www).

5 Vgl. H.Ridder, »Wer darf des Grales Hüter sein?«, in: Das Argument 143, 26. Jg., 1984, 5-9.

6 Laut Protokoll des VI. Philosophiekongresses der DDR vom 17.-19. Oktober 1984, Berlin/DDR 1984, dokumentiert in Das Argument 156, 28. Jg., 1986, 240.

7 H.Jung und W.Schwarz, »Karl Marx ist Gegenwart – Bundesdeutsche Marxrezeptionen und Merkwürdigkeiten im 100. Todesjahr – Ein Überblick der Haupttendenzen«, in: Marx ist Gegenwart, hgg. v. IMSF, Frankfurt/M 1983, 356.

8 A.Labriola, Über den historischen Materialismus (1896), hgg.v. A.Ascheri-Osterlow u. C.Pozzoli, Frankfurt/M 1974, 164.

9 G.Heyden, Art. »Klasse«, in: M.Buhr u. G.Klaus (Hg.), Philosophisches Wörterbuch, 6.A., Leipzig 1969, 569.

10 Vgl. den gleichnamigen Eintrag in HKWM 8/II.

11 L.Althusser, Für Marx, Frankfurt/M 1968, 182.

12 »Die Veränderung der Welt hat kein Subjekt. Notiz zu den Thesen über Feuerbach«, aus d. Franz. v. B.Heber-Schärer, in: Neue Rundschau, 106. Jg., 1995, H. 3, 9-16.

13 So Ernst Bloch für Hans Heinz Holz, der ihn noch nach dem Untergang des Sowjetreiches mit vielen Verbeugungen aus dem Marxismus hinauskomplimentiert hat, wie er das auch, mit weniger Verbeugungen, mit Frigga Haug getan hat, als sie gewagt hatte, Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse zu denken.

14 Vgl. T.Veerkamp, »Gott«, in: HKWM 5, 2001, 930.

15 Dieses Ungedachte resultiere, wie er etwas wolkig sagte, aus dem »Gesamtprozess […], der hinter dem Rücken des Bewusstseins dieses Bewusstsein produziert« (Être marxiste, 63).

16 Aus ihm sind ein Dutzend Bücher und zwei weitere Forschungsprojekte hervorgegangen, eines zur Philosophie im deutschen Faschismus, ein anderes zu Geschlechterverhältnissen in der Philosophie.

17 »Mais je savais ›faire‹ une dissertation et dissimuler convenablement mes ignorances sous un traitement a priori de n’importe quel sujet, et naturellement dans l’ordre d’un bon exposé universitaire, avec tout le suspens théorique désirable« (154).

18 »...nous détacher de la littérarité de Marx, pour le rendre intelligible à sa propre pensée«.

19 »…j’avais tant appris et aimé à jouer au ›père du père‹ que cette entreprise de penser à sa place ce qu’il eût dû penser pour être lui-même m’allait comme un gant« (215).

20 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, W 8, 93.

21 »Ich werde mich nicht umbringen«, sagte er im August 1980 zu Étienne Balibar, »sondern etwas sehr viel Schlimmeres tun. Ich werde alles zerstören, was ich gemacht habe. Ich werde zerstören, was ich für mich und andere bin.« (Zit.n. Balibar, Für Althusser, Mainz 1994, 29)

22 Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler (1974), Hamburg 1985, 24.

DAS ARGUMENT 304/2013 ©, S. 671-688