Chile 1973 - ein apokalyptischer Moment für das Projekt von Demokratie und Sozialismus

Mit dem Militärputsch in Chile am 11.9.1973 sollte durch Massenmord, Folter, Ausnahmezustand und Staatsterror die Hoffnung darauf erstickt werden, dass im Zusammenspiel von parlamentarischer Regierung und Volksbewegungen eine Revolutionierung der Verhältnisse zugunsten der Bevölkerungsmehrheiten zu erreichen ist. Die Niederschlagung des sozialistisch-demokratischen Projektes war ein apokalyptischer Moment in der Geschichte des Kapitalismus. An diesen Tag ist hier und heute zu erinnern.

Apokalypse heißt: Aufdeckung der Wahrheit. Als Literaturgattung strebt Apokalyptik die Enthüllung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Sicht derer an, die in die »Keller der Menschheit« (Carlos Mesters) gesperrt und auf den unbeleuchteten Teil der Geschichtsbühne gedrängt sind. Als Untergrundliteratur nutzt sie vor unmittelbarer Verfolgung und Repression schützende Verschlüsselungscodes, die auf erinnernder Vergegenwärtigung beruhen und der Gemeinschaft im Widerstand Klarheit über aktuelle Vorgänge schaffen. Apokalyptik im befreienden Sinn will Unterscheidungsfähigkeit angesichts des blendenden Lichtes, das die Mächtigen und Gewalthaber auf die gewaltsam erlittene Geschichte werfen. Umgeben vom Grau des Alltags und dem Grauen, das ins Alltägliche einbricht, soll zum Aushalten ermutigt werden, und zwar auch dadurch, dass ein gewisses Ende des Jetzigen angekündigt und die Konturen des Kommenden skizziert werden. Dazu braucht es Kultivierung und Kommunikation politischer Kritik, Entwirrung der herrschenden Ideologien und Unbeirrbarkeit der Hoffnungen gegen die überwältigende Realität. Denn im Moment apokalyptischer Ereignisse ist kaum auszumachen: Ist es schon die Dämmerung des ersehnten neuen Tages oder eine noch lang dauernde fürchterliche Nacht, die wir erleben?

Das Datum des 11.9. ist überlagert von den New Yorker/Washingtoner Terroranschlägen von 2001, die als eine Katastrophe der freien Welt und als turning point der Weltgeschichte interpretiert wurden; als solche konnte Nine Eleven eine breite Öffentlichkeit und Politik vereinnahmen, wenngleich bei näherer Betrachtung die Katastrophendeutung vor allem diejenigen teilten, die auf der beleuchteten Seite der Bühne mitspielen, und sei es als Komparsen. Vielen Mitspielern und Claqueuren dämmert heute, dass es ein verlogenes Stück ist. Daher gerät der fortgesetzte war on terror ins Stocken und die Reaktion des »Westens« auf die neuen Revolutionen wirken desorientiert, im Gegensatz zum Handeln der USA angesichts der die Ordnung bedrohenden revolutionären Vorgänge im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts.

Auch der Nine Eleven von Santiago hatte weltweit Wirkung. Chile wurde nach dem Putsch in ein Experimentierfeld für eine radikal neoliberale Ideologie verwandelt. In einem Land mit christ- und sozialdemokratischen Politikansätzen wurden Privatisierung und Deregulierung, Abbau sozialer und gesundheitlicher Dienste implementiert, gepaart mit Repression und Etablieren einer individuellen Moral der Konkurrenz und des Egoismus. Die Ereignisse vor 40 Jahren hätten auch dem reichen Teil der westlichen Welt zeigen können: ein sozialstaatlich gerahmter Kapitalismus ist keine Bestandsgarantie für einen Kapitalismus »mit menschlichem Antlitz«. In der aktuellen europäischen Krise erfahren das ganze Regionen, etwa, wenn Schwerkranke nicht ärztlich behandelt und Familien Arbeitsloser dem Hunger ausgeliefert werden.

Die apokalyptische Bedeutung des Chilenisch-US-Amerikanischen Militärcoups hat seinerzeit der Theologe Helmut Gollwitzer angesprochen: »Spätestens jetzt kann jeder wissen, was Klassenkampf ist: immer zuerst Klassenkampf von oben, der Klassenkampf der Privilegierten, zäh entschlossen zu jeder Brutalität, zu jedem Rechtsbruch, zu jedem Massaker, auch zur Abschaffung der Demokratie, wenn sie nicht mehr zur Sicherung der Klassenherrschaft taugt.«1

In der Gewaltbereitschaft des Kapitalismus sieht Gollwitzer die Analogie zwischen 1933 und 1973. Zornig-prophetische Kritik ist ihm jedoch kein Selbstzweck. Er belässt es nicht bei Aufschrei und Empörung, sondern zieht politische Konsequenzen für das historische Projekt von »Demokratie und Sozialismus«, vor Ort, in der alten BRD und international: Bewusstseinsarbeit in der sich bei Krisen nach rechts wendenden Mittelschicht, wirksame Kontrolle von Militär und Polizei, vereinte öffentliche Praxis von Christen, Sozialisten und anderen Gruppen. Die Versammlung seinerzeit ermahnt er zur Kritikfähigkeit sich selbst gegenüber und fordert angesichts der gescheiterten zivilen Revolution und der siegreichen ›Revolution von oben‹ – ein revolutionäres Ethos. Dieses begreift unbeirrt den Sinn des Engagements aus seiner Praxis heraus, ohne dass ihm sein Erfolg garantiert ist. Dazu gibt es nach Gollwitzer keine Alternative. Denn: »Jeder Rückschlag des Sozialismus ist ein Schritt zum Untergang der Menschheit, den uns der Kapitalismus in seiner Blindheit auf vielfältige Weise herrichtet. Die Menschheit kann sich den Kapitalismus nicht mehr leisten, sie stirbt an ihm. Darum ist es ein Kampf auf Leben und Tod. Er verlangt von uns Disziplin, Hingabe und Selbstlosigkeit.«

Viele der angesprochenen Aspekte der chilenischen Vorgänge werden in der nachfolgenden Rede von Raul Zelik rekonstruiert und in ihrer internationalen Bedeutung beleuchtet. Zudem vergleicht er sie mit politischen Umbrüchen im heutigen Lateinamerika und fragt, mit den Erfahrungen von Chile und der internationalen Solidarität im Kopf, nach dem politischen Raum für alternative Projekte. Wie Gollwitzer hebt er die Notwendigkeit wirksamer Zähmung des Militärs und die Koalitionsfähigkeit weltanschaulich verschiedener Gruppen hervor. Die Formen von Ermutigung und Widerstehen unterscheiden sich. Dass es sie braucht und dass sie verbunden sind mit der Hoffnung auf das Ende der mörderischen Gewalt – in der Sprache der apokalyptisch geprägten Befreiungsliteratur: das Ende dieses Äons – ist mit Blick auf die unbeleuchteten Seiten des veröffentlichten Tagesgeschehens überaus klar.

Sabine Plonz

1 >Lehrstück Chile<, DA 81/1973, 649-52.

DAS ARGUMENT 304/2013 ©, 661-662

 

Unterstellt, dass es im politischen Leben so etwas wie »Erweckungsmomente« gibt – bestimmte Wahrnehmungen oder Erfahrungen, die einen Politisierungsschub auslösen –, dann war für mich Chile dieser Moment.1 Die Solidarität mit Chile, die in den 1970er und 1980er Jahren wie eine Klammer in der zersplitterten Linken wirkte, warf wichtige politische Fragen auf, die ein guter Ausgangspunkt für politisches Denken waren und bis heute nichts an Gültigkeit verloren haben. Da ist zum Einen die Tatsache, dass der Übergang zum Sozialismus in Chile von einer Regierung betrieben wurde, die innerhalb des bürgerlich-repräsentativen Systems gewählt worden war und sich ständig darum kümmern musste, Mehrheiten für ihr Projekt zu mobilisieren. Um die Bedeutung dessen zu verstehen, muss man sich vielleicht das Grunddilemma vergegenwärtigen. Im 20. Jahrhundert gab es drei große politische Strategien: revolutionäre Machtübernahme, Reformpolitik und Basisprojekte, z.B. Genossenschaften. Die großen, erfolgreichen Revolutionen zogen so tiefe gesellschaftliche Brüche nach sich, dass sie die Mehrheitsunterstützung einbüßten und zunehmend autoritär verteidigt werden mussten. Der sozialdemokratische Reformismus lief auf ein Gemütlichmachen in den Verhältnissen hinaus und brachte Arbeiterparteien und Gewerkschaften dazu, sich den bürgerlichen Machtstrukturen komplett anzupassen. Die eher anarchistischen Basisprojekte schließlich sind zwar sympathisch und vermitteln wichtige Erfahrungen, beschäftigen sich in erster Linie dann aber doch mit sich selbst. (Dieses Problem ist von Erik Olin Wright in Envisioning Real Utopias ziemlich gut beschrieben worden.)2

Ich würde nun behaupten, dass die Unidad Popular in Chile, ohne das Dilemma in dieser Form definiert zu haben, eine Antwort darauf zu entwickeln versuchte. Allendes Linke – und damit meine ich auch Parteien und Bewegungen, die wie der MIR gar nicht an der Regierung beteiligt waren – stellte die schnelle Machtübernahme nicht in den Mittelpunkt ihrer Politik, sondern setzte auf eine Ermächtigung von Arbeitern und Bauern. Der Staat wurde eingesetzt, um Machtstrukturen aufzubrechen, z.B. durch die Vergesellschaftung von großen Industrien oder die Landreform. Es ging aber nicht in erster Linie darum, den Staat zu stärken und Veränderungen durchzupeitschen. Die revolutionäre Reformpolitik der Allende-Jahre, die von einer starken Basisorganisierung begleitet wurde, zielte darauf ab, die gesellschaftliche Unterstützung für das Projekt zu verbreitern. Es war, wenn man so will, ein »hegemoniales Projekt« im gramscianischen Sinne: Die Veränderung sollte nicht »aus den Gewehrläufen« kommen, also letztlich militärisch erzwungen werden, sondern durch Organisationsprozesse, gesellschaftliche Debatten, soziale Kämpfe und direkte Aktion durchgesetzt werden.

Die zweite große Frage, die von Chile aufgeworfen wurde, ist die Gewaltfrage. Wir wissen alle, dass die Unidad Popular militärisch zerschlagen wurde. Für meine Politisierung in den 1980er Jahren war das eine beunruhigende Erkenntnis, die mich selbst sehr radikalisierte: Es kann innerhalb der bürgerlichen und internationalen, sprich imperialistischen, Herrschaftsverhältnisse, offensichtlich gar keine Veränderung ohne militärische Gewalt geben. Der bewaffnete Kampf schien nicht nur ethisch legitim, er schien auch überzeugender als alle legalistischen Strategien.

Als Jugendlicher hätte ich diese beiden Probleme sicher nicht in dieser Form artikulieren können, aber auf diffuse Weise waren sie uns durchaus bewusst: Der Sozialist Salvador Allende, der in mancher Hinsicht links von der Kommunistischen Partei Chiles stand, war uns sympathisch, weil er ein radikales, demokratisierendes Projekt verfolgte. Chiles Aneignungsreformrevolution war eben nicht wie die Staatssysteme in der Sowjetunion, China, Jugoslawien oder auch Kuba als Ein-Parteien-Modell gedacht. Keine Organisation konnte einen Alleinvertretungsanspruch formulieren, die gesellschaftliche, künstlerische und politische Dissidenz wurde nicht in Frage gestellt. Die chilenischen Sozialisten haben – wie man in Dokumentarfilmen sehen kann – auf Fabrikversammlungen radikaler gesprochen als viele Autonome: Es ging um die Ermächtigung von unten, um Selbstorganisation, um Klassen-, nicht Parteimacht. Und genau deshalb wurde diese Regierung aus dem Weg geräumt und ihre Anführer ermordet.

Das alles war auch ohne große politische Vorkenntnisse zu verstehen.

Und dann die Bilder vom Putsch: Selten in der Geschichte ist so deutlich geworden, wer die Guten und die Bösen sind. Zunächst hatte die chilenische Rechte mit Hilfe der US-Geheimdienste (oder umgekehrt) über Jahre hinweg ein Klima der Anspannung und Verunsicherung geschaffen: Lebensmittelverknappung, Unternehmer-Lockout, terroristische Aktionen unter fremdem Namen, die Hysterisierung der Mittelschichten usw. Und dann ergriff die von preußischer Militärkultur geprägte Armee die Macht, unterband jede Form von Protest und ertränkte die Gesellschaft in Terror. Tausende wurden als politische Gefangene ins Stadion von Santiago verbracht. Unter ihnen Viktor Jara, der wichtigste Vertreter der Nueva Canción. Dem Musiker und Gitarristen wurden die Hände gebrochen, bevor man ihn ermordete. Diese Vorgänge haben für mich ein für alle Mal die Frage geklärt, welche Bedeutung dem Menschenrechtsdiskurs der bürgerlichen Staaten beizumessen ist. Der »freie Westen«, den wir als Jugendliche durchaus als freier oder zumindest als weniger unfrei wahrnahmen als die Staaten des Warschauer Pakts, sozusagen als kleineres Übel, bewies in Chile, dass er in einer Krisensituation ohne Skrupel auf das gesamte Repertoire des Terrors zurückzugreifen bereit ist. Demokratie ist nur so lange von Bedeutung, wie diese den Kapitalismus nicht in Frage stellt. (Wie ich Jahrzehnte später gelernt habe, ist das eine zentrale These Carl Schmitts, des ehemaligen NS-Kronjuristen und autoritären Staatstheoretikers: Das verborgene Gravitationszentrum politischer Macht ist der Ausnahmezustand, der ein reiner Willkür- und Terrorakt ist.)

Der Fall Chile verwies nicht nur auf grundlegende Fragen der Politik. Er steht auch für ein zeitspezifi sches konkretes Bewegungsspektrum. Die breite Solidaritätsbewegung, die 1973 entstand und kirchliche, kommunistische, sozialdemokratische und linksradikale Gruppen gleichermaßen umfasste, bereitete das Terrain für eine neue Generation von Solidaritätsbewegungen. Der Aktivismus der 1960er, 1970er und 1980er Jahre in Europa und Lateinamerika war viel internationalistischer als die Linke heute, gleichzeitig aber auch viel weniger globalisiert. Es war seltener, dass Leute im Ausland arbeiteten, man reiste weniger, man beherrschte andere Sprachen schlechter. Und trotzdem war das politische Bewusstsein zumindest ab 1967 extrem internationalisiert. Der Vietnam-Krieg, die Kämpfe im Iran, die antikolonialen Kriege in Afrika, die Black Panther in den USA und das, was sich davon in schwarzer Musik und Blaxploitation-Filmen reflektierte, die lateinamerikanischen Stadtguerillas, der Pariser Mai oder auch der antifranquistische Widerstand in Spanien – das war der politische Erzählungsraum der 1970er Jahre.

Chile stellte in dieser internationalistischen Stimmung einen Kristallisationspunkt dar. Ein Land wurde zum konkreten und dauerhaften Bezugspunkt einer Solidaritätsbewegung. Das hatte Nachteile – weil sich internationalistisches Selbstverständnis in eine Art NGO-Politik verwandelte –, aber eben auch Vorteile: Die Solidaritätsbewegung beschäftigte sich wirklich tiefgründig mit den Verhältnissen in Chile und Lateinamerika und baute ein Netz von Beziehungen zu und mit lateinamerikanischen Linken auf. Die Mittelamerika-Solidaritätsbewegung in den 1980er Jahren war meiner Erfahrung nach in vieler Hinsicht eine Fortführung dieser Chile-Solidarität.

 

Chiles Transformation

In einem zweiten Schritt möchte ich jetzt versuchen, die Entwicklung im Land selbst in groben Zügen zu skizzieren.

In der linken Geschichtsschreibung beginnen die Veränderungen in Chile normalerweise mit dem Regierungsantritt Allendes. Ich denke jedoch, dass das nicht stimmt und einen falschen Eindruck von Transformationsprojekten schafft. Die parteipolitische Zusammensetzung von Regierungen ist nicht bedeutungslos, aber viel entscheidender sind gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und Konstellationen.

Die chilenische Veränderungspolitik, z.B. die Landreform oder die Teilverstaatlichung der Kupferminen, setzt unter dem Christdemokraten Eduardo Frei ein, der 1964 bis 1970 Präsident ist. Wie kann das sein? Die Politisierung auf dem Kontinent, die sozialen Kämpfe von Bauern, Slumbewohnern und Arbeitern, die Angst vor einer Revolution wie in Kuba und das Erstarken einer relativ radikalen Wahllinken sorgten dafür, dass sich die politische Rechte in Chile ausdifferenzierte und die Christdemokratie progressive Positionen einnahm: Landreform, Förderung von Genossenschaften, Teilverstaatlichungen usw. Aus Sicht von Präsident Frei und seinen internationalen Verbündeten stellten solche Reformen Maßnahmen dar, um einen radikaleren Bruch zu verhindern. Doch das ändert nichts daran, dass die Christdemokratie selbst die Transformation einleitete. Der Wandel war also nicht in erster Linie das Ergebnis von Wahlen, sondern er wurde gesellschaftlich erzwungen: Die chilenischen Intellektuellen, gerade auch die Ökonomen, verteidigten mehrheitlich marxistische oder dependenztheoretische Konzepte (eine Lesart postkolonialer, antiimperialer Ökonomiekritik) und die sozialen Kämpfe von unten, z.B. die Landbesetzungen, nahmen manche Veränderungen faktisch vorweg. Zudem setzte die befreiungstheologische christliche Linke die Christdemokratie an der Basis unter Druck. So funktioniert eine realistische Reformpolitik!

Unter Allende radikalisierte sich der Wandel – wobei es innerhalb der Unidad Popular gravierende Differenzen gab. Die Kommunistische Partei, die sich an den Interessen der UdSSR orientierte, stand in vielen Fragen rechts von den chilenischen Sozialisten und strebte, das war Moskaus Politik in ganz Lateinamerika, eher nach einem Bündnis mit national und demokratisch gesonnenen Teilen des Unternehmer- und Bürgertums. Die christliche Linke der MAPU, die revolutionäre Linke der MIR und Teile der Sozialisten hingegen wollten eine radikale Aneignungspolitik von unten, was auf eine Verschärfung der Klassenkonflikte hinauslief.

Der Putsch – und daran sieht man, dass nackte Gewalt aus Sicht der Herrschenden eine sehr rationale und effiziente Strategie sein kann – zerstörte beide Strömungen gleichermaßen. Er unterband die Annäherung der reformistischen Linken an die Christdemokratie und schüchterte die Bauern-, Stadtteil- und Arbeiterbewegungen so ein, dass die sozialen Kämpfe zum Erliegen kamen.

Der 11. September wirkte in dieser Hinsicht weit über den südamerikanischen Cono Sur hinaus: Von Linken wird häufig darauf hingewiesen, dass Pinochets Chile ein Labor für den Neoliberalismus der ›Chicago Boys‹ gewesen sei. Im Nachhinein stellt sich diese Entwicklung vielleicht geradliniger dar, als sie im historischen Moment tatsächlich war. Aber es ist doch richtig, dass sich in Chile zum ersten Mal zeigte, wie effektiv sich Gewalt und Schock einsetzen lassen, wenn es darum geht, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu brechen. Der Putsch zerschlug die Arbeiterbewegung, die kritische Intelligenz verstummte, und die bürgerliche Mitte, die sich aufgrund des gesellschaftlichen Drucks nach links bewegt hatte, rückte wieder weit nach rechts.

In Chile war diese Strategie ein voller Erfolg. Wenn man heute durch das Land reist, ist man erstaunt, wie tief sich neoliberales, also individualisiertes, tauschwertförmiges Denken in die Gesellschaft hineingefressen hat. Selbst Familien sind oft ökonomisierte Orte, in denen finanzielle Leistungen kalkuliert werden. Die Privatisierung des Bildungswesens zwingt die Menschen dazu, schon als Kinder und Jugendliche solche ökonomischen Kalküle zu verinnerlichen. Der Marktradikalismus, der den Export von Naturressourcen forcierte, hat Chile, v.a. seit dem Ende der Militärdiktatur, hohe Wachstumsraten beschert, das gesellschaftliche Klima aber unerträglich gemacht. Und bis zur Studierendenbewegung seit 2011 gab es keine gesellschaftliche Kraft, die diesen Konsens in Frage hätte stellen können.

Doch Chile war nicht nur ein Labor neoliberaler Krisenbewältigung, das dann auf andere Länder und Weltregionen ausstrahlte. In dem südamerikanischen Land wurde auch ein Exempel statuiert. Wahrscheinlich hatte das US-Außenministerium gar nicht so hochgesteckte Ziele, als es auf einen Putsch hinzuarbeiten begann. Der Putsch hatte eine wichtige geopolitische Dimension. Er signalisierte der Wahllinken, also sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien gleichermaßen, dass Washington eine Annäherung an radikalere Positionen nicht dulden werde. Auf diese Weise wurde auch die europäische Linke diszipliniert, die nach 1968 wieder über echte Transformationspolitik nachzudenken begonnen hatte. In Südeuropa, v.a. in Italien, wo Anfang und Mitte der 1970er Jahre – heute kaum noch vorstellbar – eine vorrevolutionäre Situation herrschte und ganze Stadtteile von Basisorganisationen kontrolliert wurden, kam die Botschaft besonders deutlich an. Sie führte faktisch zu einem strategisch-politischen Konflikt: Die Kommunistische Partei erwies sich Ende der 1970er Jahre als verlässlicher Verbündeter der bestehenden Verhältnisse und leistete einen aktiven Beitrag zur Niederschlagung der Revolte. (Es ging dabei nicht nur um Terrorbekämpfung: Die Repression betraf nicht in erster Linie bewaffnete Gruppen wie die Roten Brigaden, sondern v.a. auch die Bewegungslinke, wie sie beispielsweise von Toni Negri repräsentiert wurde.) Die KPI-Führung begründete ihre Haltung dabei stets mit der Furcht vor einem chilenischen Szenario.

In den 1970er Jahren haben Linke in Europa, aber auch in Chile selbst viele Erklärungen zum Scheitern der Allende-Regierung geliefert. Für die einen war der Putsch der Beweis, dass es ohne leninistische Avantgarde und entschlossene Machtübernahme eben doch nicht gehen kann. Andere äußerten, dass man früher und entschlossener bewaffnete Strukturen hätte schaffen müssen. Beiden Analysen ist gemein, dass sie letztlich mehr Führung verlangen.

Auf den ersten Blick scheint das plausibel, doch auf den zweiten halte ich die These für falsch. Im Nachhinein wird deutlich, dass gerade der Mangel an Führung und Avantgarde, der in Chile Anfang der 1970er Jahre zu beobachten war, vielleicht auf etwas Neues verwies. Klaus Meschkat schrieb 1974 über seine Begegnung mit der Selbstorganisierung in Chile:

Es kam auf den Gesichtspunkt an, dass die Arbeiterklasse […] ihre Autonomie nicht nur in der langfristigen Zielsetzung, sondern auch und vor allem in der Ausbildung neuer Aktions- und Organisationsformen zum Ausdruck bringt. Die Formen des Kampfes sind von seinen Inhalten nicht zu trennen: autonome Organisation der Arbeiter beinhaltet eine antikapitalistische und antibürokratische Stoßrichtung […]. Voraussetzung dafür, dass die organisierte Klasse die Machtfrage stellen kann, ist der Kampf gegen die eigene Bürokratie in der Arbeiterbewegung, die ihre Monopolstellung nur dann behaupten kann, wenn sie die Atomisierung der Basis aufrechterhält – also jenes Prinzip, auf dem sich bürgerliche Demokratie gründet. Bei den Verfechtern der Unidad-Popular-Strategie wurde der Respekt vor den Institutionen der gegebenen Verfassungsordnung, der sich aus taktischen Gründen zuweilen rechtfertigen lässt, oft zu einer durchgängig bestimmenden Grundhaltung, die auch das Verhältnis der Parteispitzen zu der Klasse prägt, die sie vertreten wollen. Ein dialektisches Verständnis des Verhältnisses von Avantgarde und Klasse, das deren reale Bewegung in den Mittelpunkt rückt, ist einem zurechtgestutzten Leninismus fremd, wie er sich bei ›reformistischen‹ wie ›revolutionären‹ Parteien in verschiedenen Varianten auffinden lässt. Nicht zufällig wird in vielen Chile-Analysen marxistisch-leninistischer Parteien und Gruppen […] festgestellt, es habe dem Proletariat eben an der richtigen Führung gefehlt. Dass das Prinzip der Führung selbst ein Problem impliziert, bleibt im Dunkeln. (Konfrontationen. Streitschriften und Analysen 1958 bis 2010, hgg. u. Vorwort v. U.Müller-Plantenberg, Hannover 2010, 155)

Gerade das Fehlen der Führung, nämlich die Tatsache, dass Demokratie als Ausgangspunkt der Transformation begriffen und die Selbstermächtigung von unten als treibender Motor anerkannt wurde, ist also wahrscheinlich das Zeitgemäße am Chile der Unidad Popular.

In der Solidaritätsbewegung gab es immer Diskussionen darum, ob die Ereignisse eher als Scheitern (selbstverantwortet) oder als Niederlage (die fremdverantwortet ist) zu begreifen sind. In Chile selbst dürfte heute das Gefühl des Scheiterns überwiegen – es ist wenig geblieben, die Erinnerung an die 1960er und 1970er Jahre scheinen im Ausland lebendiger als im Land selbst. Trotzdem würde ich behaupten, dass es sich nicht um ein Scheitern, sondern um eine Niederlage handelt, die Optionen eröffnet. Anders als der Staatssozialismus, der immer gewonnen hat, bis er von innen zerbröselte, hat das Projekt »demokratischer Sozialismus«, verstanden als hegemoniale Bewegung, die die Machtverhältnisse grundlegend verändern will und somit auch auf einen Bruch hinarbeitet, aber die militärische Entscheidung nicht in den Mittelpunkt stellt, nichts an Gültigkeit verloren.

 

Lateinamerika: Die Rückkehr demokratisch-sozialistischer Politik?

Ich würde das auch vor dem Hintergrund der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte behaupten. Der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« macht diskursiv und zum Teil auch symbolisch viele Anleihen bei Allendes demokratischem Weg zum Sozialismus. Dabei sind die Gemeinsamkeiten zunächst kleiner, als man von Europa aus vermuten könnte. Anders als in Chile um 1970 spielt die kritische Intelligenz heute kaum eine Rolle. Die meisten Intellektuellen sind in Venezuela weit nach rechts geschwenkt; eine echte Transformationsdebatte oder eine politisch-ökonomische Analyse, die der Dependenztheorie der 1960er Jahre vergleichbar wäre, gibt es unter chavistischen Intellektuellen nicht. Auch die populare Selbstorganisierung ist in Venezuela und Bolivien, von Ecuador ganz zu schweigen, schwächer als in Allendes Chile, wo die Arbeiterkoordinationen der Industriegürtel wirklich Ausdruck von Klassenmacht waren.

Und doch stimmt, dass man in Venezuela und Bolivien heute an Chile anknüpft. Man versucht, eine politische Hegemonie für ein sozialistisches Projekt zu entwickeln und hat Raum für die Selbstorganisierung von unten geöffnet – oder diesen zumindest, anders als in leninistischen Szenarien, nicht verschlossen. Die Rechte hat darauf mit ganz ähnlichen Mitteln reagiert wie einst in Chile: Sie hat mit Hilfe von Massenmedien, der Hortung von Lebensmitteln, Unternehmer-Lockouts und Kapitalflucht für Verunsicherung gesorgt und mit gezielter, auch gewalttätiger Eskalation ein Klima permanenter Anspannung geschaffen. Durch die Konfrontation mit der Opposition, die letztlich eine andere Klasse repräsentiert, scheint für die linke Transformationsdebatte kaum Platz. Außerdem sind die Eigentums- und Machtverhältnisse nach wie vor kaum angetastet. Die alten Eliten sind in Venezuela und Bolivien geschwächt worden, doch im und beim Staat haben sich neue »sozialistische« Eliten herausgebildet, deren Klasseninteressen denen der alten recht ähnlich sind. Besonders in Venezuela kann man das beobachten: Militärs und höheres Management schaffen, mittels der Kontrolle von Staatsunternehmen und der Vergabe von Staatsaufträgen, immense Geldbeträge beiseite. Das immerhin war in Chile anders: In drei Jahren blieb kaum Zeit für einen echten Korrumpierungsprozess.

So skeptisch das stimmen mag, so bleibt doch anzuerkennen, dass die südamerikanischen Linksregierungen dem Neoliberalismus eine schwere Niederlage zugefügt haben und das Konzept »demokratischer Sozialismus« zumindest wieder diskutierbar machen. Es ist gelungen, die Putschversuche (2002 und 2008) abzuwehren, die erstaunliche Parallelen zu den Ereignissen 1971-73 in Chile aufwiesen, dann aber doch auch ganz anders verliefen. Da es kein kommunistisches Lager mehr gibt, agierte Washington in Venezuela 2002 weniger aggressiv als 1973 in Chile. Der venezolanische Putsch wurde unterstützt, solange er in den Massenmedien als demokratisch legitim erschien; als sich dies aufgrund von Massenprotesten änderte, begann Washington zurückhaltender zu agieren. Und in Bolivien verlor 2008 der rechte Umsturzversuch in dem Moment an Unterstützung, als die UNASUR-Staaten der gewählten Regierung von Evo Morales demonstrativ den Rücken stärkten. Politische Legitimität scheint heute wichtiger zu sein, so offen tyrannisch wie 1973 will man heute nicht vorgehen. Zum anderen geht es auch um weniger als damals: Die Linksregierungen können den Neoliberalismus in Frage stellen, nicht aber den kapitalistischen Weltmarkt.

Die populistische Linke Südamerikas scheint aus dem Putsch 1973 gelernt zu haben: Die Unterstützung der Militärs für das Projekt ist in Venezuela unter Chávez konstituierend gewesen und in Bolivien ebenfalls von großer Bedeutung. Die politischen Kosten sind allerdings beträchtlich: Viele hochrangige Militärs, die massiver Korruption bezichtigt werden, sind in Venezuela unangetastet geblieben, weil Chávez das Bündnis mit der Armee nicht gefährden wollte. Und in Bolivien garantiert der Sozialist Evo Morales den Folterern der Militärdiktatur weiterhin Straffreiheit, damit niemand auf den Gedanken kommt, sich einem Umsturzversuch anzuschließen.

Der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« hat sich gehalten, weil er Lehren aus Chile gezogen und strategische Bündnisse geschlossen hat. Politisch erfolgreicher war er aber nicht unbedingt. Weder hinsichtlich der Basisorganisation noch der gesellschaftlichen Debatte ist Venezuela heute mit dem Chile der frühen 1970er zu vergleichen – natürlich auch, weil sich die internationale Situation völlig verändert hat.

 

Kapitalismus ohne Demokratie

Was bleibt also vom Chile der Unidad Popular? Für viele Chileninnen und Chilenen ein bitteres Gefühl der Niederlage, der zerstörten Hoffnungen, aber auch die Gewissheit, dass es ganz anders sein könnte. Freunde berichten von der unglaublichen Euphorie und Freude jener Jahre, in der es möglich schien, eine andere Gesellschaft ohne militärischen Zwang aufzubauen. Es bleibt der Schock, dass eine der stärksten Bewegungen der lateinamerikanischen Linken weitgehend ausradiert werden und das ihr folgende neoliberale Modell 40 Jahre Bestand haben konnte. Es bleibt die Erinnerung an den Sieg über die Diktatur, aber auch der Frust darüber, dass der Widerstand, der Pinochet in den 1980er Jahren an die Wand drängte, durch das Referendum gebrochen und danach eine Art Elitenpakt ausgehandelt werden konnte. Die Sozialistische Partei und der MIR – einst wichtige Referenzpunkte in der internationalen Debatte – verloren jede Anziehungskraft. Karrieristen, die im Namen ihrer Organisationen Vereinbarungen mit dem Establishment trafen, sorgten dafür, dass aus der Niederlage wirklich ein Scheitern wurde. Doch immerhin stellt die Studierendenbewegung der letzten Jahre unter Beweis, dass kollektives historisches Wissen nie völlig verschwindet.

International scheint mir die Bilanz positiver. Das Chile der Unidad Popular hat bewiesen, dass es andere Sozialismuskonzepte gab und gibt. Salvador Allende ist ein Symbol dafür, dass es den demokratischen Sozialisten, der über Reformen zu einer anderen Gesellschaft kommen will, wirklich geben kann, dass Sozialdemokratie nicht immer und überall auf eine Anpassung an die Macht hinauslaufen muss. Und das Beispiel Chile zeigt auch, dass es die internationale Solidarität wirklich gibt: Zehntausende wurden privat aufgenommen, außer Landes geschafft, mit Papieren – legalen oder illegalen – versorgt. Das war nicht nur heroisch, das war v.a. menschlich anrührend. Ein Hinweis, dass das abstrakte Wort »Solidarität« ganz konkret-menschlich etwas mit Empathie, Freundschaft, Liebe zu tun hat. Manchmal auch mit und für Leute, die man gar nicht kennt.

Das Wichtigste und Aktuellste, was vom 11. September 1973 bleibt, ist wahrscheinlich die Erkenntnis, dass Kapitalismus und Demokratie, anders als die Vertreter des »freien Westens« seit Jahrzehnten betonen, nicht zwingend aufeinander bezogen sind. Die demokratischen Errungenschaften, die wir heute schätzen, obwohl sie so begrenzt sind, sind das Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe. Der Kapitalismus kann sich der Demokratie sehr schnell entledigen, wenn es nötig wird. Wir erleben die Aktualität dieser Erkenntnis, wenn Angela Merkel von der »marktkonformen Demokratie« spricht und die europäischen Technokraten ihr Krisenmanagement gegen gesellschaftliche Mehrheiten durchsetzen. Über die Instabilität dieser Verbindung von Demokratie und Kapitalismus sollten wir viel genauer nachdenken. Demokratisierung hat eine starke antikapitalistische Komponente; Sozialismus verstanden als alternatives Projekt einer Bedürfnis- (und nicht Profi t-) orientierten Ökonomie muss ein demokratischer Prozess sein, in dem die Gesellschaft die Kontrolle über Leben, Arbeit, Wohnen, Konsum usw. erlangt.

Trotz des Schreckens, der im Übrigen relativ war – in der kolumbianischen Demokratie sind mehr Oppositionelle verschwunden als in der chilenischen Militärdiktatur –, sollten wir uns bei Chile nicht nur und nicht in erster Linie an eine Niederlage erinnern. Chile, das war die Vorwegnahme einer anderen Form von Sozialismus, in der sich reformistische, revolutionäre und die Politik der direkten Aktion miteinander verbanden. Chile, das war auch kollektive Euphorie und der Beweis, dass sozialistische Politik ein Akt der Freude ist. Chile hat die politische Biographie von Hunderttausenden geprägt, und es liegt an uns, das damals erworbene Wissen nicht zu vergessen.

Raul Zelik

 

1 Rede gehalten bei einer Veranstaltung der LINKEN am 4. September 2013 in Duisburg. Für den Abdruck im Argument wurde sie redaktionell bearbeitet. Die Originalrede ist abrufbar unter: http://www.raulzelik.net/kritik-literatur-alltag-theorie/427-nach-chile-40-jahre-putsch-gegen-allende-veranstaltungsbeitrag-duisburg-4-9-2013.

2 Vgl. Erik Olin Wright »Wege zu einem Sozialismus gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit«, in: Das Argument 291, 53. Jg., 2011, H. 2, 202-10.

DAS ARGUMENT 304/2013 ©, S. 663-670