Staat und Transformation in Russland

Mehr als zwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion (SU) ist ihr Nachfolger ein nicht weniger suspektes Objekt geblieben. Die gängigen Beschreibungen des russischen Staats bewegen sich in historischen Analogien, unterscheiden kaum zwischen Staat, Politik und Regime, sind hochgradig personalisiert und von politischen Wertungen durchzogen. In der politischen Öffentlichkeit und in außenpolitischen Statements westlicher Regierungen, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur, begegnet man pauschalisierten Stellungnahmen, die nicht nur begrifflich unbefriedigend sind, sondern auch fatale politische Perspektiven transportieren. Das vorherrschende Bild zeigt einen Rückfall vom demokratischen Aufbruch der 1990er Jahre in eine erneuerte „Autokratie“, in der Vladimir Putin mithilfe seines Geheimdienstes nicht nur den Staat übernommen, sondern auch weite Bereiche der Wirtschaft unter seine Kontrolle gebracht hat. Innenpolitisch eine Autokratie, wirtschaftlich ein ‚Petro-Staat’, außenpolitisch auf imperiale Restauration programmiert, wurde Russland vom Republikanischen Präsidentschaftskandidaten der USA als „geopolitischer Gegner No 1“ identifiziert (s. Arquilla 2012). Wie kommt es, dass Russland zwei Jahrzehnte nach Auflösung der Sowjet-union und des Warschauer Pakts, nach dem Rückzug seiner Truppen aus Ostdeutschland, Mittelosteuropa, Vietnam und Cuba, wiederum in der Sprache des Kalten Kriegs beschrieben wird?
Ich werde im Folgenden zunächst einige exemplarische Einschätzungen des gegenwärtigen Zustands der russischen Politik (im weiteren Sinn) anführen und daran anschließend argu-mentieren, dass sie auf unzulässigen Konfusionen basieren, die in die frühe Transformations-forschung zurückreichen. Der postsowjetische Wandel wurde seit den Tagen der Perestrojka als „Übergang“ zu Markt und Demokratie interpretiert und gemäß Russlands „Annäherung an das Leitbild der marktwirtschaftlichen Demokratie“ evaluiert (Bertelsmann Stiftung 2008, 76). Die komplementären Verkürzungen dieser Formel unterstellten nicht nur eine fragwürdige Finalität. Sie reduzieren die komplexen Prozesse einer ökonomischen Modernisierung auf die Herstellung von Märkten, die Probleme einer Neubegründung von Politik auf Elite-entscheidungen und Wahlen. Das zentrale Problem der postsowjetischen Transformation, an dem Gorbatschow und nach ihm Jelzin scheiterte, nämlich die Rekonstruktion von Staatlich-keit, wurde im antistaatlichen Zeitgeist der Transitionsliteratur weitgehend ausgeblendet, bes-tenfalls in normativen Kriterien von Rechtstaatlichkeit oder „guter Regierungspraxis“ reflek-tiert. Ein Großteil dieser Defizite geht auf ein verkürztes Staatsverständnis zurück, das bis heute theoretische Fehleinschätzungen nach sich zieht und in Verbindung mit dem außenpoli-tischen Konzept der „Demokratieförderung“ nolens volens selbst politisch geworden ist.
Demgegenüber möchte ich behaupten, dass die Dynamik der postsowjetischen Politik maß-geblich vom Kampf um die Strukturen des Staats, die Verfügung über (Macht-)Ressourcen und die Suche nach neuen Quellen der Herrschaftslegitimation bestimmt wurde. Die Politik der Putin-Ära ist weniger als Bruch mit einem vielversprechenden demokratischen Aufbruch in den frühen 1990er Jahren zu verstehen, denn als Versuch, die von Jelzins Machtstrategie in Kauf genommene Auflösung staatlicher Strukturen umzukehren. Der Erfolg von Putins Ge-genstrategie der staatlichen Rekonstruktion lässt sich daher nicht schlicht mittels einer der üblichen Demokratisierungsskalen messen. Es scheint äußerst zweifelhaft, dass das komplexe Bündel von Staatlichkeitsproblemen, das die Auflösung der SU hinterlassen hat, durch Wah-len und zivilgesellschaftliche Aktivität hätte gelöst werden können.

Russlands akzidentelle Demokratie
Dass Russland den Weg zur Demokratie verlassen hat, ist heute Common Sense in der west-lichen Berichterstattung, in der politikwissenschaftlichen Russlandforschung und nicht zuletzt in der russischen Opposition, deren öffentlicher Protest im Kontext der Wiederwahl Putins als beeindruckendes Signal einer konfliktbereiten Zivilgesellschaft gewertet wird. Man ist wenig überrascht, dass Putin nach seinem erneuten Amtsantritt am 7. Mai 2012 mit umso repressi-veren Polizeiaktionen und verschärften Gesetzen gegen den Rest an inländischer Opposition zurückgeschlagen hat und dass die Anführer der Proteste in der Diktion des alten Regimes als Agenten des Auslands diskreditiert werden, welche das Lied westlicher Geldgeber singen (Ryzhkov 2012). Derweil profiliert sich Putin im Verein mit der orthodoxen Kirche als Wahrer von Stabilität, der ein nationales Wiedererwachen und geopolitische Härte signalisiert. „Neo-imperiale Ambitionen“ nicht nur gegenüber den Spaltprodukten der früheren Sowjet-union, auch gegenüber Osteuropa, so der Eindruck zentraleuropäischer Intellektueller (Schöpflin 2007), gehen Hand in Hand mit der Machtübernahme der Sicherheitsapparate. Die New Yorker Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (2013) wertet die jüngsten Gesetze zur Regulierung der politischen Tätigkeit ausländischer Organisationen als den gra-vierendsten Anschlag auf die Zivilgesellschaft seit dem Ende der SU. Kein anderer als Gor-batschow warf Putin anlässlich des 20. Jahrestags des Augustputsches von 1991 vor, das Land in einen Zustand „tödlicher Stabilität“ manövriert zu haben (BBC 2011).
Die Enttäuschung über zwei Jahrzehnte postkommunistischer Politik reflektiert nicht nur die von außen an Russland herangetragene Erwartungen, sie ist vor dem Hintergrund der politi-schen Experimente der späten 1980er Jahre zu sehen. Michail Gorbatschow selbst und mit ihm die reformbereiten Fraktionen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) hatten die Öffnung des Systems als „Weg zur Demokratisierung“ bezeichnet und die Rechts-förmigkeit politischen Wandels zur „Grundsatzfrage“ erhoben (Gorbatschow 1987, 128-138). Den Auftakt zum politischen Wandel durch Wahlen im Unterschied zur bloßen Umgruppie-rung der herrschenden Eliten gab Gorbatschows Aufforderung an den Generalsekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, den Ausgang der Wahlen von 4. Juni 1989 zu akzep-tieren und die Macht abzugeben.
Der Machtverlust der KPdSU verlief allerdings auf weniger klar definierten Bahnen. Hier stand nicht allein die politische Herrschaft und deren Legitimation, vielmehr die Existenz des Staats als solcher zur Disposition. Gleichwohl wurde auch der Machtkampf, der zur Auflö-sung der SU und Neugründung des russischen Staats führte, noch im Namen der Demokratie ausgetragen. Nach den Wahlerfolgen des Bündnisses Demokratisches Russland traten die entschiedensten Unterstützer Boris Jelzins als „Radikale Demokraten“ den Parteien des alten Systems entgegen und verbaten die KPdSU.
Viele westliche Beobachter haben die Selbstdarstellung russischer Politiker beim Wort ge-nommen. Bis in die frühen 1990er Jahren hinein schien Russland auf dem Weg einer „Transi-tion“ zur Demokratie voran zu schreiten. Bereits vor der Auflösung der SU hatte Gor-batschow eingeschränkt freie Wahlen zugelassen; Jelzin ging im Juni 1991 als erster Präsident aus den Gründungswahlen der Russischen Föderation hervor, die als freiester Urnengang in der nachkommunistischen Geschichte galten, auch wenn sie ein zutiefst gespaltenes Parlament nach sich zogen. Die vorherrschende Sicht verzeichnete denn auch einen wie immer beschwerlichen Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie. Mitte des Jahrzehnts schätzte die Londoner Osteuropabank den Anteil des privaten Sektors auf über 50 Prozent. Damit schienen zugleich die sozialstrukturellen Grundlagen für eine wachsende Mittelklasse ge-schaffen, die auf eine reale Beteiligung an der Macht dränge.
Diese Vorstellung komplementärer wirtschaftlicher und politischer Reformen lag ganz auf der Linie der Transformationstheorie der frühen 1990er Jahre. Die Zerschlagung der Planbehörden durch die Einführung neuer Eigentumsverhältnisse, durch eine Politik des freien Marktes, war von vornherein eine politische Strategie, die der entstehenden Demokratie eine sozial-strukturelle Basis verschaffen sollte. Privatisierung galt daher als der Indikator für eine erfol-greiche Transformation schlechthin: „Those countries that have privatized most have also undertaken the most other structural reforms, and the correlation between liberalization and privatisation is close, which is a natural outcome” (Aslund 2002, 300). Die Behauptung eines „engen und funktionalen Zusammenhangs“ von wirtschaftlichen und politischen Reformen sollte denn auch eine „marktwirtschaftliche Demokratie“ begründen, so die Kurzformel eines einflussreichen Forschungsprojekts zum Vergleich unterschiedlicher Transformationen (Ber-telsmann Stiftung 2008, 76).
In diesem Kontext erschien Boris Jelzin als der radikale Demokrat, der einerseits den alten Machtgruppen in der Partei und in den zentralen Planbehörden den Boden entzogen hatte, der andererseits Mehrheiten für unpopuläre Reformen herstellen konnte. Selbst für autoritäre Methoden, wie die gewaltsame Auflösung des Parlaments durch den Einsatz der Armee im Jahr 1993 und eine Herrschaft per Dekret brachte man noch Verständnis auf. Michael McFaul bescheinigte Jelzins Aktion, die Polarisierungen der „ersten russischen Republik“ von 1991 bis 1993 in Fragen des Grenzverlaufs, politischer und wirtschaftlicher Reformen zugunsten eines relativ stabilen Gebildes überwunden zu haben’: „The regime in place since 1993, often referred to as the Second Russian Republic, may even meet Joseph Schumpeter’s procedural definition of democracy” (McFaul 2001, 3).1 Außenpolitisch schien die Demokratisierung mit der Überwindung des Kalten Kriegs zusammen zu gehen: Russland war zur internationalen politischen Gemeinschaft von „free market democracies“ hinzugestoßen, welche der Westen unter Führung der USA aufgebaut habe (Ikenberry 1997).
Die Projektion dieses normativen Modells auf die russische Politik hatte freilich mit einigen Anomalien zu kämpfen. Die Dynamik der Ereignisse war seit den späten 1980er Jahren, wie ich im Folgenden aufzeigen möchte, mehr von Versuchen geprägt, der wirtschaftlichen, sozi-alen und schließlich der politischen Desintegration Einhalt zu gebieten, als der Einführung eines liberalen Kapitalismus. Der Kampf um Macht im spätsowjetischen Staat ging in unver-söhnliche Auseinandersetzungen um die Rekonstruktion postsowjetischer Staatlichkeit über, in denen sich Jelzin um den Preis einer anarchischen Dezentralisierung durchsetzte. Die Re-zentralisierung von Macht mittels des internen und externen Einsatzes der Armee hatte weni-ger mit „Demokratisierung“ zu tun, als mit der Mobilisierung von Zustimmung zur Überwin-dung von Chaos und Gesetzlosigkeit. Mit anderen Worten: die russische Demokratie der 1990er Jahre war ein akzidentelles Beiprodukt von Machtkämpfen in einer Umwelt ungesi-cherter Staatlichkeit. Um diese Konstellation zu verstehen, ist es zunächst nötig, näher auf die Dekomposition des sowjetischen Staats einzugehen.

Umkämpfte Staatlichkeit
Die Erosion staatlicher Strukturen war bereits zur Zeit der Perestrojka weit fortgeschritten, ohne dass Gorbatschow, vom Flügelkampf innerhalb der KPdSU absorbiert, dies als eigen-ständiges Problem erkannt hatte. Dabei war die äußere Handlungsfähigkeit Moskaus durch eine eskalierende Außenverschuldung bereits stark eingeengt, während interne Reformen sich in einem zunehmend segmentierten Wirtschaftsraum tot liefen. Die Hoffnung, mithilfe einer demokratisch begeisterten Bevölkerung die dezentralisierte Reorganisation der Wirtschaft voranzutreiben, erwies sich als ebenso naiv, wie der Glaube, die Nationalitätenfrage gelöst zu haben. „Wenn das Nationalitätenproblem nicht grundsätzlich gelöst worden wäre, hätte die Sowjetunion nicht das gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und defensive Potential, über das sie heute verfügt“ (Gorbatschow 1987, 149) 2 – diese Einschätzung zeigte an, wie weit die Wahrnehmung der politischen Führung von der Realität entfernt war. Die von Gor-batschow eingeführten institutionellen Neuerungen und proto-demokratischen Verfahren wa-ren zu schwach, um eine Alternative zu den von der KPdSU verwalteten Strukturen anzubie-ten, und wurden durch ihre nichtintendierten Folgen ad absurdum geführt.
Ein erster Schritt war der Übergang zum einem Präsidialsystem. Von der Einführung eines Präsidentenamts nach französischem Muster im März 1990 versprach sich Gorbatschow, die Rigidität der KPdSU umgehen und eine Schaltzentrale außerhalb des Politbüros etablieren zu können. Für das Amt konnte er eine indirekte demokratische Legitimität reklamieren, indem er sich vom Kongress der Volksdeputierten bestätigen ließ, der seinerseits ein Jahr zuvor aus einer Wahl mit alternativen Kandidaten hervorgegangen war. Eine Demokratie konkurrieren-der Parteien blieb Gorbatschow, der die Perestrojka als eine „Initiative der Kommunistische Partei“ eingeleitet und unter Parteiendemokratie bis zum Herbst 1989 eine Erneuerung der Parteiorgane verstanden hatte, allerdings fremd (s. Gorbatschow 1989, 193).
Politikwissenschaftler haben die Inkonsequenz dieses Ansatzes kritisiert und vermutet, dass sich Gorbatschow zu diesem Zeitpunkt noch durch eine unionsweite Wahl volle demokrati-sche Legitimität hätte sichern können (Brown 2009, 552; Sakwa 2008, 41). Wie Juan Linz und Alfred Stepan (1996, 370-400) aufzeigen, hatte eine unklug arrangierte Sequenz von zuerst regionalen und erst darauf folgenden föderalen Wahlen das Auseinanderbrechen von Ju-goslawien und der SU befördert. Vielleicht hätten vorgeordnete unionsweite Wahlen, so legen sie am erfolgreichen Beispiel des postfrankistischen Spanien nahe, eine neue Agenda, neue Identitäten und neue Legitimität für eine reformierte Union schaffen können (ebd., 382). Die Konfliktlinien der spätsowjetischen Politik lassen allerdings daran zweifeln, ob eine direkte Wahl des Präsidenten noch eine realistische Option gewesen wäre. In den nichtrussischen Republiken wäre eine letztlich durch das Übergewicht russischer Stimmen entschiedene Ab-stimmung kaum noch akzeptiert worden (s. Matlock 1995, 336f.). Unabhängig vom Modus der Legitimation allerdings konnte das neue Amt mangels eines eigenen Apparats ohnehin keine exekutive Macht entfalten. Statt mit einem eigenen Kabinett, operierte Gorbatschow mit wechselnden Beraterkreisen.
Unter Jelzin erreichte die Zerlegung staatlicher Strukturen die neue Qualität einer politischen Strategie. So übernahm Jelzin Gorbatschows Idee des Präsidentenamt, um sich durch Wahlen eine Ersatzlegitimität, nun nicht nur außerhalb der Parteistrukturen, sondern auch außerhalb der SU zu verschaffen – ein Schritt, der von den Ersten Sekretären der KPs anderer Sowjet-republiken adoptiert wurde: Die Rhetorik der Demokratie fungierte als Technik der Sezession, die Rhetorik der Marktwirtschaft legitimierte die Aufteilung staatlichen Eigentums. In diesem Sinn erkannte Jelzin die Unabhängigkeit der Baltischen Staaten und ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen nicht nur umstandslos an, sondern forcierte darüber hinaus ein offensive-res Verständnis von Souveränität. Souveränität sollte nicht mehr nur, wie in der sowjetischen Verfassung von 1977, innerhalb der Union gelten, sondern der Verfassung und den Gesetzen der Russischen Föderation Vorrang gegenüber Unionsrecht einräumen.3 Bereits am 12. Juni 1990 hatte die vom ersten Kongress der Volksdeputierten der RSFSR verabschiedete Dekla-ration der staatlichen Unabhängigkeit Russlands den Vorrang russischer vor sowjetischen Ge-setzen postuliert. Der daran anschließende „Krieg der Gesetze“ um die Geltung russischen gegenüber sowjetischen Rechts unterlief alle Kontroversen um geeignete Reformprogramme. Die Diskussionen der späten Perestrojka drehten sich nicht um Sachfragen, sondern um rela-tive Positionsgewinne und mögliche Koalitionen im Spiel um die Macht.
Daher war Gorbatschows letztes Projekt, die SU durch einen neu auszuhandelnden Unions-vertrag zu reformieren, bereits im Vorfeld um seinen Sinn gebracht, nämlich Konsens über die horizontale und vertikale Machtverteilung auf dem Gebiet der SU zu erzielen. Der finale Konflikt zwischen Jelzin und Gorbatschow betraf die Existenz der sowjetischen Staatlichkeit: In Jelzins Interpretation der Vertragsentwürfe sollten die Steuerhoheit und alle Haushalts-rechte dem russischen Staat zustehen, darüber hinaus die großen Industrien und die Erdölfor-derung in russische Kontrolle übergehen. Nicht dem Vertrag beitretende Republiken hätten sich auf Weltmarktpreise für russische Energieträger und Rohstoffe einzustellen (s. Hough 1997, 373-403).
Genau dieses Szenario wurde nach dem gescheiterten Putsch im August 1991, der sich im Kern gegen die Aushebelung der sowjetischen Staatlichkeit richtete, in raschen Schritten rea-lisiert. Die Diskreditierung der alten Institutionen und Funktionsträger machte es Jelzin leicht, nicht allein die Organisationen der KP auszuschalten, sondern auch die den Industrieministe-rien unterstellten Unternehmen in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Der entscheidende Effekt dieser Aktionen war keine ökonomische Transformation im Sinn eines „Übergangs zum Markt“. Ausschlaggebend war die Entstehung neuer Opportunitätsstrukturen, innerhalb derer sich radikale Reformer und konservative Manager treffen konnten. Die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse und der Zugriff auf regionale oder lokale Ressourcen ließen sich umso erfolgreicher bewerkstelligen, je weiter staatliche Strukturen außer Kraft gesetzt waren. Die Ausweitung solcher Freiräume geschah denn auch typischerweise durch präsidentielles Dekret. Vom russischen Parlament hierzu ermächtigt, übertrug Jelzin die Kontrolle über die sowjetischen Devisen- und Goldreserven der russischen Regierung, zog das Personal aus dem sowjetischen Außenministerium ab und unterstellte die Sicherheitsapparate seiner Kontrolle. Im Oktober 1991 übernahm Russland die Aufsicht über den Außenhandel und bot an, für die Auslandsschulden der Union aufzukommen.
Damit war zugleich der riskanteste Zug im Spiel um die Macht gewonnen. Nachdem die Staatsbank der UdSSR ihre Ressourcen und Funktionen verloren hatte, musste sich die Ar-meeführung fragen, wer sie weiterhin unterhalten würde. Denn seit 1988 war bekannt, dass der bis dahin als Geheimsache behandelte Haushalt der SU seit 1976 Defizite aufgebaut hatte; 1990 hatte Gorbatschow eingestanden, die fiskalische Handlungsfähigkeit verloren zu haben. Von einer Armee, welche den Rückzug aus den Staaten des Warschauer Pakts als Demüti-gung verstand und sich durch den illegalen Verkauf von Ausrüstung finanzieren musste, konnte ihr alter Oberbefehlshaber keine Loyalität mehr erwarten.
Auf diese Weise kam eine höchst unwahrscheinliche Koalition zustande, in der sich allerdings die verschobene Legitimationsbasis postsowjetischer Macht reflektierte. Das von Jegor Gajdar angeführte wirtschaftsliberale Camp unter Jelzins Beratern traf sich mit regionalen Strategien des Machterhalts. Marktorientierte Reformer und russische Nationalisten stimmten darin überein, den Handel mit Energie und Rohstoffen auf Marktpreise umzustellen und die Subvention von Regionen außerhalb der russischen Föderation zu stoppen. Managern wichti-ger Unternehmen gefiel die Aussicht auf Deviseneinnahmen, Auslandskonten und Anteile an den zu privatisierenden Betrieben. Regionalen und lokalen Eliten, bereits in sowjetischer Zeit im empire-building erfahren, winkte die Verfügung über heimische Ressourcen. Es überrascht nicht, dass jene Regionen, die über relative reiche Bodenschätze verfügten und nationale Be-sonderheiten reklamieren konnten, am entschiedensten auf Souveränität pochten (Hale 2000).
Letzteres galt erst recht für die Unionsrepubliken, deren kommunistische Führungen sich eth-nisch umdefinierten, um sich an die Spitze nationaler Bewegungen gegen Moskau zu setzen. Der postsowjetische Nationalismus, insbesondere in Zentralasien, aber auch in der Ukraine, war weniger vom Drang nach ‚nationaler Wiedergeburt’ oder ‚Emanzipation’ von einem re-pressiven Zentrum motiviert, als durch die Chance, die seit der Perestrojka eröffneten Frei-räume zu kapitalisieren. Mit dem Schwinden zentralstaatlicher Autorität löste sich das Steuer- und Bankensystem auf, welches die Abgaben der Unternehmen nach Moskau kanalisiert hat-te. De facto hatten die Unionsrepubliken bereits die Steuererhebung in eigene Regie über-nommen und die Überweisungen an die Zentrale auf ein Viertel der Einnahmen reduziert (Goldman 1991, 129 u. 136). Die Lösung von Moskau versprach einen weiteren, innenpoliti-schen Legitimationsgewinn: Die Führungen von Belarus und der Ukraine konnten die Zumu-tungen einer von Moskau koordinierten Reformpolitik im Namen nationaler Unabhängigkeit zurückweisen, um ihre stark industrialisierten Republiken in einen patrimonialen Kapitalismus umzuformen. Während Belarus eine zentralisierte Kontrolle aufrechterhielt, konkurrieren in der Ukraine bis heute regional verankerte Elitegruppen, die ihre Gefolgsleute im Parlament postieren (Matsuzato 2004).
Noch vor der formellen Auflösung der SU also hatten sich die Machtverhältnisse soweit ver-schoben, dass es Jelzin und den Führern der slawischen Republiken im Dezember 1991 schließlich gelang, eine postsowjetische Realität zu definieren – ohne ihre Bevölkerungen zu konsultieren, die noch im März 1991 bei einer Wahlbeteiligung von über 80 Prozent mit Mehrheiten von über 70 Prozent für eine erneuerte Union gestimmt hatten, und ohne ihre zentralasiatischen Amtskollegen hinzuzuziehen. Auf einer geheimen Konferenz im weißrus-sischen Belowesch wurden die Strategien der maßgeblichen Akteure zur Deckung gebracht. Die dort getroffene Vereinbarung bezeichnete den „objektiven Prozess“ der Sezession von der Sowjetunion nicht schlicht als eine Realität. Mit der zugleich ausgesprochenen Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wurde die SU als Völkerrechtssubjet aufgelöst. Die Verantwortung für diesen Schritt wurde freilich ganz der „kurzsichtigen Politik des Zent-rums“ und der dadurch hervorgerufenen wirtschaftlichen Katastrophe zugeschoben (s. Suny 2003, 467f.). Die erstaunlich widerstandslose Aushebelung des sowjetischen Apparats wird üblicherweise als Erfolg eingeschätzt – als „demokratischer Durchbruch“ mit Jelzin in der Rolle des „prime mover“ (Aslund & Kuchings 2009, 26). Die Desintegration der SU wurde zu einer gleichsam logischen Folge des kommunistischen Machtverlusts stilisiert.4
Das erste postsowjetische Jahrzehnt wirft freilich Zweifel an dieser Sichtweise auf, und das in mehrfacher Hinsicht. Ein Blick auf die zentralen Arenen offenbart, dass keines der von der Perestrojka hinterlassenen Probleme durch die bloße Auflösung des Zentrums zu lösen war. So war der Versuch, den Herrschaftsverband der SU auf die vertragliche Basis einer Gemein-schaft Unabhängiger Staaten umzustellen, ein nicht sehr erfolgreicher Versuch, den „Krieg der Souveränitäten“ zwischen Zentralregierung, Republiken und Regionen beizulegen. Der Föderationsvertrag vom März 1992 schuf 21 Entitäten, die als souveräne Republiken innerhalb der Russischen Föderation oberhalb weiterer Verwaltungseinheiten angesiedelt wurden und wiederum untereinander unüberschaubare Vertragsverhältnisse eingingen. Die Führungen dieser „Föderationssubjekte“ sahen wenig Grund, ihre Freiheiten sogleich einer neuen Mos-kauer Führung unterzuordnen. Sie münzten ihre Unterstützung für Jelzin in bilaterale Verträge um, die ihnen die Verfügung über Land und natürliche Ressourcen sichern sollten. Die Folge war ein kaum zu durchdringendes Netz sich überlappender Jurisdiktionen, in dem letztlich selbst Städte wie Swerdlowsk (Jekaterinburg) Souveränität einschließlich einer eigenen Flagge und Währung reklamierten (Williamson 1997). Moskau konnte die nach innen sich fortsetzende Steuerverweigerung nur durch Konzessionen an Tatarstan und andere ressour-cenreiche Republiken und Regionen überwinden. Ein Verfahren, dass in Tschetschenien an seine Grenzen stieß: am Rande der Russischen Föderation gelegen und als Transitgebiet für Energie von geoökonomischer Bedeutung, unterband Jelzin den Anspruch der Republik auf staatliche Unabhängigkeit mit militärischer Gewalt (Hughes 1996). Auch hier ging es nicht um Freiheit vs. Repression, sondern um inkompatible Machtstrategien, die sich in diesem Fall nicht zur Deckung bringen ließen: „The strategies of both the Chechen and the Russian lea-dership reflected faulty perceptions of economic wealth and patronage relationships, as well as the fragility of the Russian state” (George 2009, 75). Mit anderen Worten: eine gegenüber allen Verhandlungsofferten kompromisslose russische Führung wollte ihren defekten Staat durch einen militärischen Schlag in der südlichen Peripherie rehabilitieren, der russische Prä-sident seine Popularität durch eine Parallelaktion zu Clintons Intervention auf Haiti zurück-gewinnen (ebd., 83f.).

Virtualisierung des russischen Staats
Es war eine heroische Abstraktion ökonomischer Theorien der „Transition“, den Zerfall staat-licher Institutionen als „Devolution“ zu interpretieren, das heißt als marktfunktionale Dezent-ralisierung von Macht, wie sie in westlichen Ländern zu beobachten sei. In Wirklichkeit zerfiel nicht nur der gemeinsame Wirtschaftsraum der früheren Sowjetunion. Auch die russische Ökonomie verlor jede Kohärenz und fiel in ein segmentäres Stadium zurück; während viele Regionen Handelsbeschränkungen und spezielle Regulierungen einführten, ging das ressour-cenreiche Tatarstan so weit, eine eigene Außenhandelspolitik und eigene Auslandsbotschaften anzustreben.
Unter solchen Voraussetzungen konnte von einer effizienten Devolution staatlicher Macht nicht die Rede sein konnte. Das kontraproduktive Ergebnis des Versuchs, durch die Freigabe von Preisen eine geldgesteuerte Ökonomie und marktkonformes Verhalten einzuführen, wur-de als „virtuelle Ökonomie“ charakterisiert: die Steuerung ökonomischer Aktivitäten durch Preise wurde durch Naturaltausch, Wechsel und Schuldverschreibungen unterschiedlicher Regierungsebenen ersetzt. Der primäre Effekt der 1992 eingeleiteten Schocktherapie lief auf eine Demonetisierung der Wirtschaft hinaus: der Anteil nichtmonetärer Transaktionen stieg von 8 Prozent des Sozialprodukts auf mehr als 50 Prozent im Jahr 1998 (OECD 2000, 84). Jelzins neues Russland war durch ausstehende Steuerzahlungen an den Staat, ausstehende Löhne und unbeglichene Rechnungen der Regierungen sowie zwischen den Unternehmen gekennzeichnet. 1998 beliefen sich die über Naturaltausch abgewickelten industriellen Transaktionen auf 45 Prozent des Sozialprodukts; nicht gezahlte Löhne, Gehälter und Sozial-versicherungsbeiträge waren auf über 10 Mrd. Dollar aufgelaufen (Clarke 1998).
Die Erklärungen für die „Virtualisierung“ der russischen Ökonomie gingen weit auseinander. Clifford Gaddy und Barry Ickes, die das Konzept einer virtuellen Ökonomie der russischen Literatur entlehnt hatten, deuteten den paradoxen Effekt der (auch von ihnen geforderten) Liberalisierungspolitik als die wohlüberlegte Strategie obsoleter Unternehmen, sich den harten monetären Restriktionen des Markts zu entziehen: Statt sich zu restrukturieren, täuschen sie produktive Aktivitäten vor, die sie sich durch staatliche Transfers aus dem einzig wert-schöpfenden Energiesektor finanzieren ließen (Gaddy/Ickes 1998; Gaddy 2008). Dieses Mo-dell stellte die Verhältnisse allerdings auf den Kopf. Es unterstellte einen hypothetisch funk-tionsfähigen Kapitalmarkt, der Kredite bereitgestellt hätte, wenn die Direktoren des veralteten Staatssektors nicht lieber auf rent seeking gesetzt hätten. Tatsächlich aber war durch die anarchische Dezentralisierung des Staats das Vertrauen in die nationale Währung soweit zer-rüttet, dass informelle Geldsurrogate verlässlicher erschienen. Der russische Staat hatte, mit anderen Worten, zwei zentrale Merkmale moderner staatlicher Souveränität verloren, nämlich „a) durchweg: das Monopol der Geldordnung durch Satzungen, b) in fast ausnahmsloser Re-gel: das Monopol der Geldschaffung“ (Weber 1922, 97).
Westliche Berater waren lange Zeit auf die technischen Aspekte radikaler Marktreformen fixiert und hatten einen handlungsfähigen Staat schlicht unterstellt. Verspätet ging auf, dass Russland keine der Bedingungen eines marktförderlichen Föderalismus erfüllte: eine klar de-finierte Hierarchie legitimer Autorität, regulatorische Kompetenzen untergeordneter Einheiten, einen Konsens über die Weisungsbefugnis der zentralen Regierung, ein einvernehmliches und stabiles Arrangement der Verteilung von Einnahmen und Ausgaben (OECD 2000, 115). Verspätet versuchte Jelzin, Verwaltungen und Unternehmen per Dekret zum Ausgleich von Zahlungsrückständen zu bringen und die fiskalischen Vollmachten lokaler Regierungen zu-rückzuschrauben. Selbst die Weltbank sah sich veranlasst, Russland im Interesse sozialer Sta-bilität einen Milliardenkredit zur Auszahlung ausstehender Löhne einzuräumen. Die ansonsten neoliberal argumentierende OECD zog die paradoxe Konsequenz aus zwei Legislaturperioden radikaler Marktreformen: „a continued strong federal presence is most likely unavoidable in the near future” (OECD 2000, 116).
Für die gesellschaftliche Machtverteilung hatte die „Virtualisierung“ der Ökonomie höchst reale Konsequenzen. Der Staat büßte seine Besteuerungskapazität und damit die Hoheit über das Budget weitgehend ein. In einer demonetarisierten Ökonomie konnten die Steuerschulden der Unternehmen allenfalls in Natura eingebracht werden: als vereinbarte Erfüllung öffentli-cher Aufträge. Damit waren die institutionellen Voraussetzungen moderner Staatlichkeit ab-handengekommen: nämlich ein „festes Steuersystem“, für das eine „durchgeführte Geldwirt-schaft aus bekannten allgemeinen Gründen die allein sichere Basis“ abgibt sowie das „Vor-handensein stetiger Einnahmen“ zur Finanzierung einer modernen Verwaltung (Weber 1922, 559). Im postsowjetischen Kontext lief das auf undurchsichtige Händel zwischen Unterneh-men und Behörden hinaus. Der Aushandlungscharakter der Staatseinnahmen eröffnete allen Beteiligten ungeahnte Bereicherungschancen auf Kosten der Gesellschaft. Dass dies in „gro-ßen Flächenstaaten“ ohne effektives Grenzregime ein nochmals gesteigertes Problem sein würde, war nach Max Weber zu erwarten. Nicht zufällig vermehrten die späteren Oligarchen ihr Anfangskapital durch irreguläre Exporte von Waffen, Energie und Edelmetallen und un-kontrollierte Importe von Konsumgütern.
All das zog eine Machtverschiebung vom Staat zugunsten der Unternehmen nach sich. Wäh-rend der Staat seine Steuerausfälle durch Kredite von den neu entstandenen privaten Banken zu kompensieren versuchte und inländische wie internationale Schulden akkumulierte, konn-ten die Eigner dieser Banken eine ihren Interessen konforme Privatisierung erwarten. In einem höchst unübersichtlichen Umfeld wurde die Privatisierung von mehr als 100.000 staatlichen Betrieben von alteingesessenen Managern und neuen Unternehmern als Chance für eine große Umverteilung zu ihren Gunsten genutzt. Diese Personengruppe beeinflusste nicht nur den Zuschnitt der Privatisierungsprogramme. Mangels realistischer Bewertungen, die in Ab-wesenheit von Kapitalmärkten auch nicht zu erwarten waren, konnten sie Unternehmensan-teile zu eher symbolischen Preisen übernehmen. Die erste Welle der Aufteilung des Staatsei-gentums erfolgte auf manipulierten Auktionen und durch politische Intervention von höchster Ebene (Hahn 2001, 509-521).
Die Bevölkerung stand diesem Prozess machtlos gegenüber. Nicht nur konnte sie die in der ersten Phase der Privatisierung erstandenen Eigentumsscheine (Voucher) nicht sinnvoll ein-setzen. In einer Situation inflationär entwerteter Ersparnisse, ausstehender Löhne und dro-hender Arbeitslosigkeit ließen sich die Belegschaften auf eine neue, nicht ganz freiwillige Art von sozialem Kontrakt ein: Unternehmer kompensierten ausstehende Zahlungseingänge durch die verspätete Auszahlung von Löhnen, während die Belegschaften Zugang zu rudimentären betrieblichen Dienstleistungen und eine Entlohnung in Naturalien der Arbeitslosigkeit vorzo-gen.5 Die Funktion der Gewerkschaften als autonome politische Interessenvertretung war in dieser Konstellation stark eingeschränkt, zumal die Belegschaften eine Identifikation mit den Betriebsführungen aufrechterhielten. Bereits zu diesem Zeitpunkt artikulierten Gewerkschaf-ten und Unternehmerverbände (bei allen Konflikten von Streiks bis zu Klagen) allerdings das gemeinsame Interesse, nach dem Verlust des Supermacht-Status ein Abrutschen der russi-schen Industrie in die Dritte Welt zu verhindern (Connor 1996, 169).
Die zweite Welle der privaten Aneignung der russischen Ökonomie verlief über den neu ent-standenen Bankensektor, ein bevorzugtes Tätigkeitsfeld von neuen Kapitalisten, die weniger an produktiven Investitionen als an der Übernahme der exportfähigen Firmen und der Medien, insbesondere aber an einer Nähe zur Politik interessiert waren. Die Finanzierung des defizitären Staats über den Kauf hochverzinslicher kurzfristiger Staatsanleihen und der 1995 einsetzende Tausch solcher Anleihen gegen Unternehmensanteile verschaffte einer Handvoll „Oligarchen“ einen historisch singulären Aufstieg in die obersten Ränge der Weltvermögenshierarchie.
Entscheidend an der ursprünglichen Akkumulation des postsowjetischen Kapitals war nicht, ob die von den Oligarchen übernommenen Unternehmen langfristig zum Aufschwung der russischen Wirtschaft beigetragen haben – was nicht verwunderlich war, handelte es sich doch um die Branchen der sowjetischen Ökonomie, die massiv von der Erholung der Rohstoffprei-se profitierten; ausschlaggebend war nicht so sehr der unmittelbare „politische Subtext“, dass nämlich die neuen Eigentümer durch die Finanzierung von Jelzins Wiederwahl im Jahr 1996 die befürchtete Rückkehr der Kommunisten an die Macht verhinderten.6 Richtungsweisend für die russische politische Ökonomie war die Subversion staatlicher Strukturen, für die der Begriff des state capture eingeführt wurde (Hellman et al. 2000). Die Annahme, die der rus-sischen Privatisierung zugrunde lag, dass die neuen Eigentümer unabhängig von ihren mora-lischen Qualitäten am Markt konkurrieren müssten und dadurch einen liberalen Kapitalismus herbeiführen würden, war von vornherein naiv. Die Wirtschaftseliten waren weder an einer unabhängigen Verwaltung und Rechtsprechung interessiert, die ihre Macht hätte beschränken, noch an Konkurrenten, die ihr Geschäftsmodell hätten untergraben können. Sie beeinflussten die Politik nicht nur durch gewöhnliche Korruption; die Aushandlung von Steuersätzen, Ge-bühren und Aufträgen waren nur Züge in einem Spiel, dessen Regeln sie zu ihren Gunsten formen wollten. Über die Finanzierung von Wahlkampagnen, die Meinungshoheit der privati-sierten Medien, den Kauf von Politikern aller Richtungen oder auch durch den direkten Ein-stieg in die Regierung verschafften sie sich eine ihren Interessen gemäße politische Umwelt.
Zu dieser Umwelt kann man den Zustand des russischen Staats in der zweiten Hälfe der 1990er Jahre rechnen. Jelzin hatte den Oligarchen nicht nur seine zunächst höchst unwahr-scheinliche Wiederwahl 1996 zu verdanken, er verschaffte ihnen persönlichen Eintritt in höchste Staatsämter. Der Präsident und sein Beraterkreis, zu dem auch seine Verwandtschaft zählte, nahmen selbst die Gewohnheiten der russischen Geschäftswelt an, indem sie Beste-chung, Kapitalflucht größten Ausmaßes und die Abzweigung von IWF-Geldern betrieben (LaFraniere 1999; Holmes 2006, 54; Kotz/Weir 2007, 223ff.). Die Übertragung westlicher Geschäftspraktiken hat hieran wenig geändert. Die westlichen Berater vom Harvard Institute of Development, die im Auftrag der US-Regierung den rechtlichen Rahmen der Privatisierung ausarbeiteten, nutzten ihre Position zur privaten Bereicherung (ebd., 228ff.). Schließlich musste Michel Camdessus, der damalige Leiter des IWF, einräumen, dass seine Institution nicht nur Betrugsmanövern der Russischen Staatsbank zum Opfer gefallen war, sondern durch ihre Politik zum Versagen des russischen Staats beigetragen hatte: „We contributed to creating an institutional desert in a culture of lies“ (s. BBC 1999). In der anarchischen Welt der 1990er Jahre waren Korruption und Wirtschaftsverbrechen denn auch kaum als solche zu identifizieren, da klare Maßstäbe hierfür nicht existierten.
Nicht erst gegen Ende seiner Amtszeit war Jelzin persönlich in außergesetzliche und verfas-sungswidrige politische Akte verstrickt. Da die russische Demokratie in den Augen mancher westlicher Experten aber bereits auf dem richtigen Weg zu sein schien, fiel die institutionelle Regression unter Jelzin erst rückblickend auf. Selbst ein erfahrener Beobachter wie Richard Sakwa hatte zunächst noch zugestanden, dass „die Anwendung von Elementen autoritärer Herrschaft durch präsidentielle Dekrete dem Prozess der Demokratisierung erlaubten voran-zuschreiten“ (Sakwa 1993, 408). Der weitere Verlauf der 1990er Jahre rückte Jelzins Re-gentschaft dann in ein anderes Licht: „It is precisely the deinstitutionalization of politics, with its focus in intrigues, elite conflicts, and personalized leadership, that prevented any demo-cratic consolidation under Yeltsin’s leadership. Elections were held on time, and although undoubtedly influenced by central and local authorities, were relatively free. But these elec-tions did not make the regime accountable“ (Sakwa 2005, 260).
Von einem in mehrfacher Hinsicht gescheiterten Staat waren demokratische Impulse freilich auch nicht zu erwarten. Russische Politik in den 1990er Jahren bestand nicht allein in der Re-gression auf die „Familie“ Jelzins, der in seinen Memoiren eröffnete, 1996 kurz davor ge-standen zu haben, das Parlament aufzulösen und die bevorstehenden Wahlen auszusetzen (Jelzin 2000, 24). Innenpolitisch hatte der russische Staat das Monopol physischer Gewalt-samkeit an private Armeen verloren. So beschäftige etwa Gazprom eine Sicherheitsgarde von 20.000 Personen, die Finanzgruppe MOST allein in Moskau 2.500 bewaffnete Agenten (s. Varese 2002, 65f.) Außenpolitisch war Gorbatschows Ambition, die Konfrontation des Kalten Kriegs in ein Europa „vom Atlantik zum Ural“ und eine multipolare Weltordnung unter dem Dach der UN aufheben zu können, am geopolitischen Realismus der USA gescheitert, welcher es vorzog, das postsowjetische Machtvakuum im Kaspischen Becken, im Kaukasus und Zentralasien für die eigene energiepolitische Agenda zu nutzen. Der russische Staat war auf eine international vernachlässigenswerte Größe geschrumpft: die Zusicherung der amerikanischen und deutschen Seite, die NATO nach dem Rückzug der sowjetischen Armee aus der DDR und Osteuropa nicht nach Osten auszuweiten, wurde zu einer unverbindlichen Möglichkeit herabgestuft (s. Sarotte 2010). Die von Jelzin zunächst fortgesetzte prowestliche Orientierung hatte keine politische oder auch wirtschaftliche Konzession bewirkt (Sachs 2005, 139-144). Russische Sicherheitsinteressen im postsowjetischen Raum wurden schlechthin als Neoimperialismus diskreditiert.

Vladimir Putin: Konsolidierung des russischen Staats
Um die Entwicklung der russischen Politik nach der Jahrtausendwende zu verstehen, hilft es wenig, einen „neuen Zarismus“ oder die Renaissance einer seit 500 Jahren dominierenden „moskowitischen Autokratie“ zu bemühen (Lucas 2008, 101; Rosefielde/Hedlund 2009, 139ff.). Jelzins allseits überraschende Kür des weitgehend unbekannten Wladimir Putins zum Präsidentschaftskandidaten und dessen Wahlerfolg im März 2000, in der er die russische KP weit hinter sich ließ, öffneten ein weites Feld für Spekulationen. Während Putins Personalpo-litik auf eine Fortsetzung des „Jelzinismus“ hinzudeuten schien, ließ seine Geheimdienstkar-riere einen Rückfall in kommunistische Herrschaftstechniken, sein Vorgehen im zweiten Tschetschenienkrieg eine Aufwertung des Militärs befürchten.
Für die Entschlüsselung der russischen Politik nach der Jahrtausendwende war die Biografie des neuen Präsidenten allerdings weniger hilfreich als ein Blick auf die Interessenlagen und die Balance zwischen den drei relevanten Machtgruppen. Aus dieser Perspektive wurde Putin die Kandidatur angetragen, da seine Verbindung zu den Petersburger liberalen Reformern um Anatoli Sobtschak einerseits eine Fortsetzung wirtschaftlicher Liberalisierungen, seine Ver-ankerung in den Sicherheitsapparaten andererseits eine Rekonsolidierung des Staats verspra-chen, ohne schließlich den Jelzin-Clan juristisch zur Rechenschaft zu ziehen.
Das primäre Ziel von Putins erster Amtszeit bestand darin, der quasifeudalen Dynamik der 1990er Jahre einen Staat entgegen zu setzen (s. Chebankova 2007; Willerton u.a. 2005; Sakwa 2008, Kap. 5; George 2009, 147ff.), der sich gegenüber regionalen Sonderinteressen, Se-zessionsbestrebungen, kriminellen Strukturen und wirtschaftlichen Eliten behaupten kann. Das hieß zunächst, die clanähnlichen Machtstrukturen aufzulösen, die sich um die Präsidial-verwaltung, die regionalen Führungen, das Parlament und den Föderationsrat aufgebaut hat-ten. Dass Putin hierzu mangels eines Parteiensystems auf Personal aus seiner Petersburger Zeit beim KGB und aus der Armee zurückgriff, wurde als Machtübernahme durch den Ge-heimdienst interpretiert. Der funktionale Grund hierfür war freilich eher darin zu sehen, dass der zum FSB reformierte Dienst im Unterschied zur Polizei und den Gerichten seine Loyalität nicht an regionale Machtstrukturen abgegeben, sondern an einem gesamtstaatlichen Selbst-verständnis festgehalten hatte. Wie Oxana Gaman-Golutvina (2008, 1039f.) aufzeigt, waren die Eliten unter Putin jedoch personell und ideologisch durchaus heterogen. Neben Befürwor-tern einer industriepolitischen Rolle des Staats fanden sich solche, die auf eine weitergehende Entstaatlichung drängten. Tatsächlich hat Putin liberalisierende Reformen der sozialen Siche-rungssysteme, des Wohnungssektors, der Landwirtschaft und des Steuersystems vorgenom-men, die ihm daheim viel Kritik, auswärts aber Lob selbst vom IWF eingebrachten.
Westlichen Beobachtern erschien des Weiteren die vielzitierte Vertikale der Macht suspekt, die Putin gegen die anarchische Föderalisierung der Jelzin-Ära einrichtete. Das war zunächst die Überformung der 83 territorialen Einheiten durch sieben Großbezirke, in denen vom Prä-sidenten eingesetzte Vertreter die Politik der Regionen auf ihre Konformität mit föderalen Gesetzen beobachten sollten. Darüber hinaus wurde das Eigengewicht regionaler Einheiten geschwächt, indem die ursprünglich gewählten Mitglieder des Föderationsrats seit 2004 durch zentral bestimmte Repräsentanten ersetzt wurden. Die damit bezweckte Abgleichung regio-naler Verfassungen und Gesetze mit dem nationalen Regelwerk, die Ablösung des undurch-schaubaren Dickichts von Vertragsverhältnissen, Geheimklauseln und Nebenabsprachen (Sakwa 2008, 189f.), die Herstellung eines einheitlichen Rechtsraums erscheint auch kritischen Analytikern als „eminently reasonable demand“ (Kahn 2002, 268).
Wer hierin lediglich die Ausschaltung von „Vetomächten“ und die Restauration zaristischer Generalgouverneure in einem „Blitzkrieg gegen die Regionen“ erblickt (Mommsen/Nußberger 2007, 36-39), bagatellisiert die oben beschriebene Subversion der russischen Staatlichkeit unter Jelzin. Die von Putin eingeleitete Rezentralisierung lässt sich als Kampf zwischen „seperationistischen“ und „integrationistischen“ Vorstellungen von lokaler Verwaltung und ihrer Autonomie verstehen. Dahinter verbirgt sich nicht die schlichte Alternative zwischen lokaler Demokratie vs. zentralistischem Durchgriff, sondern die mehrschichtige und ambivalente Ausrichtung föderaler Institutionen: sollen diese der zentralen Kontrolle dienen, die Interessen regionaler und lokaler Eliten repräsentieren oder die Durchsetzung übergreifender Entwicklungsprojekte forcieren? Auf diese Konfliktlinie bezogen, war die Schaffung übergreifender Bezirke ein institutioneller Mechanismus, um ethnischer Identi-tätspolitik und lokalen Partikularismen entgegenzuwirken (George 2009, 150). Die Verfahren, in denen die rechtlichen Grundlagen zur Machtverteilung zwischen föderaler, regionaler und lokaler Verwaltung ausgehandelt wurden, waren alles andere als ein „Blitzkrieg“, nämlich ein im Verlauf mehrerer Jahre von Kommissionen und Abstimmungen vorangebrachter Prozess (s. Campbell 2009).
Bis heute kontrovers erscheint schließlich die Entflechtung von wirtschaftlichen Eliten und Politik. Um die Privatisierung der Macht rückgängig zu machen, lenkte Putin die Konsultati-onen zwischen Politik und Geschäftswelt in institutionelle Formen um, die einen direkten Einfluss wirtschaftlicher Macht auf staatliche Entscheidungen begrenzten (Gaman-Golutvina 2008, 1037). Diese Initiative war weniger von der neo-bolschewistischen Ambition geleitet, die „Kommandohöhen“ der Wirtschaft zurück zu erobern, als von der Absicht, die russische Souveränität und wirtschaftliche Interessen kompatibel zu machen. Wie sehr die territoriale Integrität Russlands durch private Wirtschaftsinteressen infrage gestellt war, hatte die Unter-stützung des tschetschenischen Separatismus durch Boris Beresowskij vor Augen geführt, der seine Exportgeschäfte weiterhin über die unkontrollierten Außengrenzen im Kaukasus hatte abwickeln wollen (George 2009, 86).
Spektakulärer als Beresowskijs erzwungener Abschied von der Politik, die ihn ins britische Exil führte, war freilich der „Fall Chodorkowskij“. Auch Michail Chodorkowskij hatte sein Imperium durch manipulierte Auktionen, betrügerischen Bankrott und Anlagebetrug im in-ternationalen Stil aufgebaut. Anders als andere Oligarchen unterschätze er allerdings die von Putin eingeleitete Revision politischer Regeln und ging davon aus, die Gesetzgebung weiter-hin durch den Kauf von Abgeordneten aller Parteien gestalten und sich durch internationale politische Verbindungen gegen staatliche Sanktionen abschirmen zu können (Sixsmith 2010, 85f.). Der letzte Akt dieses Spiels wurde durch den Versuch eingeleitet, eine eigene Wirt-schaftsaußenpolitik gegen die erklärten Interessen des Staats durchzusetzen, nämlich über den Verlauf von Exportrouten zu bestimmen und den viertgrößten Ölkonzern der Welt an ameri-kanische Interessenten zu veräußern. Parteispenden in zweistelliger Millionenhöhe an Jabloko und die Vereinigung Rechter Kräfte sollten diese Strategie innenpolitisch absichern (Hoffman 2003, 495ff.). Wie tief diese Strategie in die Souveränität des russischen Staats einzugreifen versuchte, war für aufmerksame Beobachter offensichtlich (Goldman 2004). Selbst in den Versuchen, Chodorkowskijs Ambitionen im Namen einer postsouveränen demokratischen Politik zur rechtfertigen, schien dies durch: “Chodorkowskij wollte also bei der künftigen Nummer Eins [der russischen Erdölförderung] die Tür für das US-Kapital öffnen. Viele An-zeichen sprechen dafür, dass er damit ein heftiges Nachdenken über Souveränitätsfragen aus-löste. (...) Als Surfer auf den Wellen der Globalisierung fehlte ihm jedes Verständnis für die Engstirnigkeit der Souveränitätsbedenken“ (Erler 2004, 313). In der Tat fiel Chodorkowski beim Sprung zum ökonomischen Weltbürger über den harten Kern russischer nationaler Inte-ressen: Erlöse aus dem Ölexport waren seit Jahrzehnten ein Schlüsselposten sowjetischer Staatshaushalte; der von den USA und Saudi-Arabien Mitte der 1980er Jahre herbeigeführte Verfall der Energiepreise war ein zentraler Faktor des sowjetischen Zusammenbruchs. Schon daher war es höchst unwahrscheinlich, mit der Putin persönlich vorgetragenen Idee, Russlands Rekonstruktion mit dem Zugriff internationaler Konzerne auf russische Ölfelder zu verknüpfen, auf Resonanz zu stoßen.
Die westliche Überhöhung oligarchischer Geschäftspraktiken zu unverzichtbaren Moderni-sierungsmaßnahmen exemplifiziert zugleich, wie sehr die Wahrnehmung der russischen Politik durch fragwürdige demokratietheoretische Konzepte verstellt wird. Rückblickend wird die Dekomposition postsowjetischer Staatlichkeit zu den „Wilden Neunziger Jahren“ romantisiert, in denen wagemutige Jungunternehmer die russische Wirtschaft auf neue Beine stellten (Gujer 2013). Die nicht ganz sauberen Methoden Chodorkowskijs verschwinden im Image des „Anhängers einer modernen Unternehmenskultur, (der) als einer der ersten und pionierhaft über Gemeinwohlverpflichtungen der Großunternehmen nicht nur redete, sondern mit seiner ‚Open Russia’-Stiftung solche Prinzipien auch in die Tat umsetzte“ (Erler 2004, 306; s. dagegen Goldman 2003, 139ff.). Chodorkowskij erscheint als der „demokratische Dissident“, der „mit der größten öffentlichen und weltweiten Resonanz sich dafür einsetze, dass Russland demokratischer wird, dass rechtsstaatliche Grundsätze auch in Russland gelten“ (Löning 2010). Beresowskij, der sein Anfangskapital mithilfe tschetschenischer Mafia-Clans anhäufte und aus seinem britischen Exil zum gewaltsamen Umsturz der russischen Regierung aufrief (Guardian 24.3. 2013), sicherte sich durch seine International Foundation for Civil Liberties den unglaubhaften Ruf eines Vorkämpfers für Zivilgesellschaft, Menschenrechte und Rechts-staatlichkeit. Aus dieser Sicht gerät nicht nur die Dynamik der russischen Politik aus dem Blick; sie zeugt auch von einem eigentümlich naiven Verständnis von Demokratie.

Staatlichkeit und Demokratie
Was die Rekonstruktion von Staatlichkeit angeht, so liefert diese gewiss kein hinreichendes Kriterium für erfolgreiche Demokratisierung. Sie bietet jedoch eigene Kriterien zur Bewertung von Putins Versuchs, der anarchischen Desintegration der postsowjetischen Gesellschaft zu begegnen. Im Vergleich zu der von Jelzin hinterlassenen Situation hat sich die russische Staatlichkeit in einigen kritischen Problembereichen konsolidiert. Die Territorialität Russlands ist soweit gesichert, dass die Zerfallsprognosen aus den 1990er Jahren heute abwegig wirken; die ökonomische Existenz des russischen Staats ist durch seine Besteuerungskapazität sichergestellt, die Außenverschuldung ist auf ein Drittel des Werts von 1999 gefallen, die Währungshoheit ist trotz freien Kapitalverkehrs durch gestiegene Zentralbankreserven unter-legt. Die rechtliche Vereinheitlichung hat gleiche, von ethnischen Kriterien losgelöste Staats-bürgerschaftsrechte gegen die diskriminierenden Praktiken einiger Republiken zumindest formal hergestellt.
Das sind globale, gleichwohl fundamentale Kriterien und es macht weitaus mehr Sinn, die Defekte und Instabilitäten der Evolution der russischen Staatlichkeit vor diesem Hintergrund zu diskutieren (s. die Beiträge in Ross/Campbell 2009), als deren Legitimität von vornherein in Zweifel zu ziehen. Herrschaft im heutigen Russland basiert weder auf einem von Putin ver-einnahmten autokratischen Herrenrecht, noch auf einer integralen Ideologie, sondern auf einer Balance im Interessenkampf um staatliche Macht und die Verfügung über wirtschaftliche Ressourcen. Sie bezieht ihre Legitimation aus der Überwindung der Anarchie der 1990er Jahre und einer wirtschaftlichen Erholung, welche die Armut halbiert und die durchschnittlichen Einkommen im letzten Jahrzehnt verdoppelt hat.
Gleichwohl sind die Defekte des russischen Staats, gerade was seine Herrschaftsfunktionen angeht, nicht zu übersehen: informelle Praktiken, patrimoniale Karrierewege, unzureichende Aufsicht, Korruptionsanfälligkeit und mangelnde Professionalität sind weit vom Idealtyp einer „Weberianischen Bürokratie“ entfernt (Taylor 2011, 24-35). Die schwerer zu beant-wortende Frage ist, ob dies ein unbefriedigendes Durchgangsstadium staatlicher Evolution anzeigt oder eine konsolidierte Herrschaftsform. In dieser Hinsicht bleiben die Einschätzun-gen der Putin-Administration der konfliktgetriebenen Dynamik der russischen Politik ent-sprechend ambivalent: Indem er das state capture der 1990er Jahre beendet habe, „könnte Putin überraschenderweise längerfristige Veränderungen vorangebracht haben, die Russlands Demokratisierung letztendlich unterstützen “ (Tilly 2007, 137; vgl. Holmes 2006, 274). Andrej Shleifer und Daniel Treisman haben argumentiert, dass die russische Staatlichkeit dem Niveau entspricht, das von einem Land mit mittlerem Einkommen zu erwarten ist. Demnach wäre Russland ein „normales Land“, vergleichbar mit Chile, Kroatien, Malaysia oder Mexiko (Shleifer/Treisman 2004). Es ist hier nicht erforderlich, auf die daran anschließende Diskussion um geeignete statistische Indikatoren von staatlicher Kapazität einzugehen, um zu sehen, dass die weiterbestehende administrative Schwäche der russischen „Machtministerien“ (s. Taylor 2011, 289ff.) nicht in das Bild einer „Autokratie“ mit vollen Zugriff auf ihre Gesellschaft passt. Der minimalen Definition Adam Przeworskis entsprechend, könnte man die Wechselfälle der russischen Demokratie seit den 1990er Jahren als „kontingentes Ergebnis von Konflikten begreifen“, in der die Teilnahmechancen am Wettbewerb gewiss nicht gleichverteilt, dessen Ergebnisse aber auch nicht von vornherein ausgemacht waren (s. Prze-worski 1991, 10f.)7
Ein normativistisch ausgedünnter Demokratiebegriff ist freilich nicht darauf angelegt, die Verteilung politischer und wirtschaftlicher Macht in diesen Konflikten zu analysieren; er be-scheidet sich mit der Frage, wie weit sich Russland dem Ideal einer liberalen Marktdemokratie angenähert habe, die sich dann trivialerweise von selbst beantwortet: In der Demokratieskala von Freedom House (2011) ist Russland in den Status eines „konsolidierten autoritären Systems“ abgerutscht – auf ein Niveau mit dem Jemen und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Das ist nicht nur angesichts der anhaltend hohen Popularitätswerte Putins wenig plausibel. Im Gegensatz zu Jelzins Absturz Mitte der 1990er Jahre erzielte seine Amtsführung seit 2000 nie weniger als 51 Prozent an Zustimmung. Sein Nachfolger Medwedjew rangierte mit 70.2 Pro-zent der Stimmen um mehr als 50 Prozent vor dem nächstfolgenden, kommunistischen Kan-didaten Sjuganow, während die liberale Opposition unter Jawlinski seit 2007 nicht mehr in der Duma vertreten ist. Wie Thomas Ambrosio beklagte (2009, 190), habe der Wahlzyklus von 2007-2008 keine Chancen für einen „regime change“ geboten. Diese Tendenz hat sich fortgesetzt. Vier Monate nach seiner kontroversen Wiederwahl im März 2012, die Anlass zu den eingangs erwähnten Protesten gab, wurde Putin in Umfragen wiederum von zwei Dritteln der Befragten bestätigt.8 Es fällt schwer, den enormen Abstand Putins und Medwedjews zu ihren Konkurrenten aus (zweifellos vorhandenen) Manipulationen zu erklären. Er zeugt eher von einer eben doch vorhandenen Responsivität der russischen Politik, aus der Daniel Treis-man ihre Durchsetzungskraft über das letzte Jahrzehnt hinweg erklärt: „Populäre Präsidenten können weit mehr erreichen als unpopuläre. Darin gleicht Russland vielen anderen Ländern einschließlich der Vereinigten Staaten, in denen die Effektivität der Führer mit ihren Umfra-gewerten steigt oder fällt (Treisman 2011, 257).

„Kreml-Kritik“: Demokratische Alternativen?
Vor diesem Hintergrund liegt es näher zu fragen, ob die Opposition, die in der westlichen Publizistik unter dem assoziationsreichen Oberbegriff „Kreml-Kritik“ zusammengefasst wird, den in sie gesetzten Erwartungen überhaupt gerecht werden könnte. Im Kontext der Rekonstruktion postkommunistischer Staatlichkeit geht es dabei nicht in erster Linie um eine vergleichende Bewertung der russischen Demokratie, sondern um die von dieser Kritik verkörperten institutionellen Alternativen. Wie begründet ist die Annahme, dass die oligarchischen „Dissidenten“ der politischen Modernisierung Russlands einen Schub verleihen könnten? Was sollte eine Personengruppe, die hinter dem state capture der Jelzin-Ära stand, dazu veranlassen, ihre Praktiken auf eine Verrechtlichung des politischen Systems umzustellen? Stephen Holmes hält einen solchen Übergang für sehr unwahrscheinlich: von Plünderern, die ihren Reichtum niemals unter klaren und sanktionierten Regeln hätten erwerben können, ist nicht zu erwarten, dass sie ein System befördern, welches ihre spezifischen Fähigkeiten entwerten würde (Holmes 2003, 20f.). Die von Beresowskij und Chodorkowskij angebotenen Alternativen zu Putin waren in diesem Sinn nie ernst zu nehmen. Beresowskij wurde aus der von ihm selbst gegründeten Partei Liberales Russland ausge-schlossen, da ihm für seine Zwecke sogar eine Koalition mit den Kommunisten recht schien. Unabhängig von der Rechtsstaatlichkeit des gegen Chodorkowskij durchgeführten Verfahrens hat sich dieser spätestens 2003 für politische Ämter disqualifiziert, indem er die Duma-Abgeordneten der KP bestach, gegen ein Gesetz zur Besteuerung von Ölgeschäften zu stimmen (Economist 2004, 5). Die internationale Wirtschaftspresse hat freilich bereits mit Michail Prochorow einen neuen Kandidaten unter den russischen Milliardären ausgemacht, dem sie gute Chancen ausrechnet, Putins Nachfolge anzutreten (Soldak 2013).
Ein plausiblerer Indikator für den Zustand der russischen Opposition scheinen die Aktivitäten der „Zivilgesellschaft“ zu sein. Seit Dietrich Geyers Charakterisierung des traditionellen rus-sischen Herrschaftsverständnisses, das sich „Gesellschaft“ als eine staatliche Veranstaltung vorstellt, wurde die Herausbildung autonomer Organisationen als kritische Schwelle einer politischen Modernisierung im westlichen Sinn verstanden. Tatsächlich haben selbstorgani-sierte Protestbewegungen in der spätsowjetischen Zeit eine öffentliche Debatte über die Zu-stände der eigenen Gesellschaft eingeleitet und damit am Legitimationsverlust des Kommu-nismus mitgewirkt. Seit den 1990er Jahren sind die Aktivitäten von Basisbewegungen in den Bereichen Naturschutz, Verkehr, Stadtplanung und Korruptionsbekämpfung sprunghaft ge-stiegen. Die Bedeutung dieser Bewegungen für die Dynamisierung der russischen Gesell-schaft wurde von Putin formal anerkannt und seit 2006 in Rahmen einer „Gesellschaftskam-mer“ institutionalisiert und finanziell unterstützt.
Die Institutionalisierung zivilgesellschaftlicher Bewegungen wurde freilich von Anfang an mit größter Skepsis wahrgenommen und verdächtigt, gesellschaftliche Aktivitäten in typisch „russisch-sowjetischer Tradition“ für die Realisierung von Staatspolitik zu funktionalisieren (Luchterhand 2006). Dieser Anfangsverdacht lag insofern nahe, als NGOs in Putins Staats-verständnis private Interessen in gesellschaftliche Zielsetzungen übersetzen sollten. Tatsäch-lich ist die Zahl informeller Gruppen unterschiedlichster Ausrichtung, verteilt über alle Regi-onen der Föderation, von geschätzten 70.000 gegen Ende der SU auf 655.000 registrierte Or-ganisationen im Jahr 2007 gestiegen. Sie haben eine lokale Politik von unten initiiert, die in einigen Fällen spektakulär erfolgreich war. Präzise Aussagen über das gesamte Spektrum dieser Aktivitäten und ihre Erfolge sind entsprechend der Heterogenität der Szene schwer zu bekommen. Die Auswertung der verfügbaren Informationen bestätigt Luchterhands Verdacht einer „Gleichschaltung“ jedoch keineswegs (s. Javeline/Lindemann-Komarova 2010; Richter 2009).
Wenn aus den zivilgesellschaftlichen Ansätzen in Russland keine politische Gegenmacht zur gegenwärtigen Regierung hervorgegangen ist, so verweist das einerseits auf die theoretischen Grenzen des Konzepts, andererseits auf dessen außenpolitische Funktionalisierung, welche der Idee selbstorganisierter Bewegungen zuwider läuft. Die jüngere Begriff einer civil society ist aus der Selbstbeschreibung osteuropäischer Intellektueller hervorgegangen, die sich nach dem Scheitern des Reformkommunismus als moralische (und in diesem Sinn „antipolitische“) Gegeninstanz zu Machtinteressen definierten. Als moralische Instanz können selbstorgani-sierte Bewegungen zwar auf die Öffentlichkeit einwirken; sie besitzen jedoch weder die Schlagkraft, ein autoritäres System zu stürzen, noch die organisatorischen Mittel, einen de-mokratischen Staat aufzubauen. Die osteuropäischen Bürgerbewegungen, die sich als Anti-these zu politischen Strategien und ökonomischen Interessen begriffen, waren sich dieser Grenzen durchaus bewusst. Aus diesem Grund haben sie in keiner postkommunistischen Regierung eine konstitutive Rolle gespielt (s. Linz/Stepan 1996, 7f.).
Die westliche Aufmerksamkeit für die innenpolitische Szenerie Russlands hat dem civil society-Konzept allerdings eine funktionale Bedeutung untergeschoben und ist auf eine ver-gleichsweise kleine Gruppe von Organisationen und Personen konzentriert, deren gemeinsa-mes Merkmal in ihrer offenen Gegnerschaft zu Putins Regierung besteht. Da ist zum ersten die innerrussische Opposition. Nachdem die Russische Demokratische Partei Jabloko bei den Duma-Wahlen 2011 mit nur 3,4 Prozent der Stimmen gescheitert ist, haben sich die Hoff-nungen auf den Initiator der eingangs zitierten Anti-Putin-Demonstrationen verlagert. Andrej Nawalnyj ist aus der Welt politischer Bloggs, in der er sich seit 2007 mit der systematischen Aufdeckung der korrupten Vergabe öffentlicher Aufträge verdient macht, zu einer Führungs-person der Opposition avanciert. Nach den letzten Präsidentschaftswahlen hat ihm seine Twitter-Botschaft an “Nationalisten, Liberale, Linke, Grüne, Vegetarier und Marsianer” in-nerhalb einer Woche 135.750 „Follower“ eingebracht, von denen immerhin 5.000 auf die Straße gingen (Barry 2011). Die im Juli 2013 erfolgte Verurteilung Nawalnyjs scheint die von ihm ausgehende Gefahr für das Establishment zu unterstreichen: mit den neuen städtischen Mittelklassen im Rücken könne er den Präsidenten „herausfordern“ und einen „Umsturz“ be-wirken (Vosswinkel 2013).
Einschätzungen dieser Art sind insofern symptomatisch, als man einem Netzaktivisten ein politisches Mandat zugesteht, ohne auf sein politisches Programm und die Zusammensetzung seiner Gefolgschaft einzugehen. Eine Gefahr wäre Nawalnyj wohl zuerst für jene, die nicht in den von ihm propagierten „russischen Einheitsstaat“ (s. Goble 2013) passen, allen voran für die nichtrussischen Minderheiten und Migranten, denen Nawalny als Mitorganisator eines „Russischen Marsches“ den Kampf angesagt hat. Aufgrund nationalistischer, kaukasophober und islamfeindlicher Parolen wurde er denn auch aus Jabloko ausgeschlossen. Westliche Journalisten nehmen seine Slogans zur regierenden „Partei der Lügner und Diebe“ zur Kennt-nis, nicht aber seine Aufrufe zur „Deportation“ illegaler Immigranten oder zur territorialen Wiederherstellung der „organischen Einheit Russlands“ von der Kiewer Rus bis zur UdSSR (zu den extremen Positionen Nawalnyjs und ihrem Kontext s. Judah 2013, Kap. 8). Nawalnyjs Agenda zu einer demokratischen Alternative aufzuwerten, wäre daher mehr als nur analyti-sche Schwäche, nämlich politischer Leichtsinn – oder eine willkommene Gelegenheit, die Legitimität der gegenwärtigen russischen Führung einmal mehr von außen her in Frage zu stellen.
Genau in diesem Sinn konzentriert sich ein zweiter Fokus westlicher Aufmerksamkeit auf die Organisationen, die von westlichen Regierungen als Ansatzpunkt für eine Demokratieförde-rung von außen betrachtet werden: auf die Außenstellen deutscher Parteistiftungen, insbeson-dere aber auf die United States Agency for International Development (USAID) sowie das weitverzweigte Netz einer „democracy industry“ (s. Melia 2005; Epstein et al. 2007). Die dieser Industrie zuzurechnenden Organisationen und die ihnen assoziierten Think Tanks von Freedom House bis zur National Endowment for Democracy (NED) werden nicht nur vom US-Kongress und vom State Department finanziert; der strategische Nutzen ihrer Konzeptio-nen wird nach Kosten-Nutzen Kriterien evaluiert. Die einflussreichen privaten Stiftungen, allen voran die Soros Foundation, arbeiten in der Regel „im Tandem“ mit Regierungsbehörden (Melia 2005, 7). Die Förderung von NGOs gilt in diesem Kontext als Schwerpunkt einer „transformational diplomacy“ (Epstein et al. 2007, 2), die von der Politikwissenschaft Exper-tisen zur Identifizierung geeigneter Ansatzpunkte erwartet.
Nicht zufällig also verschwimmen in vielen Arbeiten zur „russischen Zivilgesellschaft“ die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Analyse, Politikberatung und politischer Strategie. Eine Demokratieforschung, die sich diese Verquickung nicht bewusst macht, läuft Gefahr, außen-politische Strategien zu rationalisieren oder Urteilfähigkeit einzubüßen. Wenn im jüngsten Report von Freedom House das russische System auf saudi-arabisches Niveau herabstuft wird, hängt das auch damit zusammen, dass ausländische Organisationen und die von ihnen finanzierten russischen NGOs einer verschärften Rechenschaftspflicht unterliegen. Human Rights Watch (2012) beklagt, dass vom Ausland unterhaltene Gruppen, die auf politischen Wandel und die öffentliche Meinung in Russland zielen, verpflichtet sind, sich als solche zu registrieren. Die amerikanische Regierung hat Anfang des Jahres ihre Zusammenarbeit in der civil society working group eingestellt, die Teil des Neuanfangs der Beziehungen zwischen den USA und Russland sein sollte. In Washington begreift man Russlands Ablehnung, über USAID zivilgesellschaftliche Programme mit jährlich 50 Millionen Dollar zu fördern, „als einen Affront gegen die USA“ (Herszenhorn/Barry 2012).
Dass es eine kategoriale Verkehrung ist, eine autonome Bürgergesellschaft durch die Stiftun-gen deutscher Parteien und Agenturen der amerikanischen Außenpolitik in Szene setzen zu wollen, kommt nicht in den Sinn. Man beklagt Russlands Abschottung gegen eine externe Demokratieförderung und stellt im Sinne der oben zitierten Äußerung Ambrosios’ fest, dass die Chancen für einen „regime change“ nicht gut stehen. Der russischen Regierung ist nicht entgangen, dass „in den Diskursen der westlichen Staaten die Demokratieförderung immer wieder explizit und überaus deutlich als strategisches Eigeninteresse formuliert wurde“ (Y-oungs 2004, 2). Von daher kann man vom russischen Gegendiskurs einer ‚souveränen Demo-kratie’ nicht überrascht sein (s. hierzu Philipp Casula in diesem Heft).

Anmerkungen
1 Noch dezidierter zu Jelzins militärischer Eskalation der Konflikte zwischen Präsidialamt und Parlament äußert sich Sestanovich (2007): “In that confrontation, it was he who was call-ing for elections to resolve a political impasse, and it was he who was insisting that Russia finally had to jettison Soviet-era rules and institutions and become a modern democracy. His show of force, shocking though it may have been, was followed by the adoption of a new constitution and an unbroken string of parliamentary and presidential elections“.
2 Zu diesem Zeitpunkt waren bereits ethnisch aufgeladene Konflikte mit Kasachstan und gewaltsame Exzesse in Armenien, Aserbaidschan, Georgien und im Baltikum ausgebrochen.
3 Zu den Wandlungen des postsowjetischen Souveränitätsverständnisses und seinen jüngeren Reinterpretationen zur Wahrung der Integrität des russischen Staats s. Antonov (2012, 101-110).
4 „Einige Staaten verdankten ihre Existenz allein der gesellschaftspolitischen Legitimation durch die kommunistische Herrschaft, so dass der Zusammenbruch des kommunistischen Parteisystems den Zusammenbruch der besonderen Staatlichkeit zur Folge hatte“, so Jahn /Maier (1992, 377). Den Autoren entging, dass sich in den nationalistischen und regionalisti-schen Exit-Strategien ehemaliger Kommunisten ein zentrales Element der sowjetischen Herr-schaftsorganisation fortsetzte, welches Lapidus/Walker (1994, 79f.) folgendermaßen charak-terisierten: „The design of the Soviet state as a federation of ethno-territorial ‘union republics’ that were, symbolically at least if not in fact, national states, both reified nationality as a cent-ral aspect of individual identity and created a setting in which liberalization would catalyse ethno-national mobilization”.
5 Die Komplexität dieser Konstellation wurde von Clarke (1998) beschrieben. Der entschei-dende Zusammenhang war, dass die neuen Banken eher die Regierung im Tausch gegen hochverzinsliche Staatspapiere finanzierten, als den Unternehmenssektor mit Kredit zu ver-sorgen (s. Marin 2000).
6 Wie Treisman (2010) in einer apologetischen Rekonstruktion dieses Zeitabschnitts be-hauptet. „Similar stories of rapid ascents to billionaire status, apparently facilitated by personal connections and controversial privatization deals, can be told about dozens of businessmen throughout Latin America and Asia” (ebd., 21). Treisman erwähnt freilich nicht, wie sehr diese relativ junge Erscheinung durch die Privatisierungsauflagen der Internationalen Finan-zinstitutionen und die auch von ihm geforderte Liberalisierungspolitik ermöglicht wurde. Selbstkritische Worte für das Skandalöse dieses Vorgangs, durch den dem russischen Staat um die 100 Milliarden Dollar entgangen seien, findet dagegen Jeffrey Sachs, ehemals Berater der russischen Regierung: „a shameless and criminal activity“ (Sachs 2005, 143).
7 Dieses konflikttheoretische Verständnis von Demokratie entspricht Charles Tillys herr-schaftssoziologischem Ansatz. Demzufolge geht „weit mehr an Kontingenz, Aushandlungen, Kampf und Anpassung in demokratische Prozesse ein als die simple Identifizierung von Breite, Gleichheit, Schutz und wechselseitig bindenden Konsultationen als Wesensmerkmale von Demokratie vermuten lässt. (...) Demokratisierung und Ent-Demokratisierung sind kon-tinuierliche Prozesse ohne Garantie eines Endpunkts in einer der Richtungen“ (Tilly 2007, 24).
8 Nach den Daten des Levada Zentrums vom 26.07.2012: http://www.levada.ru/print/26-07-2012/iyulskie-reitingi-odobrenie-i-doverie. Das „Allzeittief“ nach Erhebungen des Russian Center for the Study of Public Opinion lag im Dezember 2011 bei 51 Prozent. Die Werte für Jawlinksi lagen bei zwei Prozent, weit hinter Schirinowski und Sjuganow (acht bzw. zehn Prozent); s. Wall Street Journal Europe, 30. Dezember 2011.

Literatur
Antonov, Mikhail, 2012: Theoretical Issues of Sovereignty in Russia and Russian Law. Re-view of Central & East European Law 37 (1), 95-113.
Ambrosio, Thomas, 2009: Authoritarian Backlash. Russian Resistance to Democratization in the Former Soviet Union. Farnham: Ashgate.
Arquilla, John, 2012: Yes, Russia Is Our Top Geopolitical Foe. Why Mitt Romney is Right about Moscow. In: Foreign Policy, 17. September.
Aslund, Anders, 2000: Building Capitalism. The Transformation of the Former Soviet Bloc. Cambridge: Cambridge UP.
Aslund, Anders/Kuchings, Andrew, 2009: The Russia Balance Sheet. Washington, D.C.: Pe-terson Institute.
Barry, Ellen, 2011: Rousing Russia With a Phrase. New York Times, 9.12. 2011, A1.
BBC, 1999: Russia ‘Lied to IMF’, 31. 8. 1999. URL: http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/434454.stm (Stand: 17.09.2013).
BBC, 2011: Gorbachev says Putin ‘castrated’ democracy in Russia. 18 August 2011. URL: www.bbc.co.uk/news/world-europe-14580709 (Stand: 17.09.2013).
Bertelsmann Stiftung (Hg.), 2008: Bertelsmann Transformation Index 2008. Gütersloh.
Brown, Archie, 2009: Aufstieg und Fall des Kommunismus. Berlin: Propyläen.
Campbell, Adrian, 2009: Vertical or Triangle? Local, Regional and Federal Government in the Russian Federation after Law 131. In: Ross/Campbell (Hg.), 2009.
Chebankova, Elena, 2007: Putin’s Struggle for Federalism: Structures, Operation, and the Commitment Problem. Europe-Asia Studies 59 (2), 279-302.
Clarke, Simon, 1998: Trade Unions and the Non-Payment of Wages is Russia. Centre for Comparative Labour Studies, University of Warwick.
Connor, Walter D., 1996: Tattered Banners. Labour Conflict and Corporatism in Postcom-munist Russia. Boulder, Col.: Westview.
Economist, The 2004: A Survey of Russia, 22.5.2004.
Epstein, Susann et al. 2007: Democracy Promotion: Cornerstone of U.S. Foreign Policy? CRS Report for Congress, No 33, Washington, D.C.
Erler, Gernot, 2004: Der Fall Chodorkowskij. Zur Tomographie eines politischen Konflikts. In: Gorzka, G./Schulze P.W. (Hg.): Wohin steuert Russland? Der autoritäre Weg in die De-mokratie. Franfurt (M.): Campus.
Freedom House, 2011: Nations in Transit 2011. The Authoritarian Dead End in the Former Soviet Union. New York: Freedom House.
Gaddy, Clifford/ Ickes, Barry, 1998: Russia’s Virtual Economy. Foreign Affairs 77 (5), 53-67.
Gaddy, Clifford, 2008: Russia’s Virtual Economy. Washington DC: Brookings. URL: http://www.brookings.edu/research/articles/2008/02/virtual-economy-gaddy (Stand: 17.09.2013).
Gaman-Golutvina, Oxana, 2008: Changes in Elite Patterns. Europe-Asia Studies 60 (6), 1033-1050.
George, Julie, 2009: The Politics of Ethnic Separatism in Russia and Georgia. Houndsmill: Palgrave.
Goble, Paul, 2013: Navalny Again Calls for an End to Russia’s Federalism. Johnson’s Russia List , 28. 4. 2013. URL: http://russialist.org/navalny-again-calls-for-an-end-to-russian-federalism/ (Stand: 17.09.2013).
Goldman, Marshall, 1991: What Went Wrong With Perestroika. New York: Norton.
Goldman, Marshall, 2003: The Piratization of Russia. Russian Reform Goes Awry. London: Routledge.
Goldman, Marshall, 2004: Putin and the Oligarchs. Foreign Affairs 83 (6), 33-45.
Gorbatschow, Michail, 1987: Perestroika. München: Knaur.
Gorbatschow, Michail, 1989 [2011]: Gespräch mit den Mitgliedern des ZK der SED am 7. Oktober 1989. In: Galkin, Aleksandr (Hg.) 2011: Michail Gorbatschow und die deutsche Frage: Sowjetische Dokumente 1986-1991. München: Oldenbourg, 191-197.
Gujer, Eric, 2013: Boris Berewoswky und die Wilden Neunziger. NZZ, 25. März.
Hahn, Geoffrey, 2001: Russia’s Revolution from Above. New York: Transaction Publishers.
Hale, Henry, 2000: The Parade of Sovereignties. Testing Theories of Secession in the Soviet Setting. British Journal of Political Science 30 (1), 31­56.
Hellman, Joel et al., 2000: Seize the State, Seize the Day: State Capture, Corruption, and In-fluence in Transition Economies. World Bank Policy Research Working Paper, No. 2444, Washington, D.C.
Herszenhorn, David/Barry, Ellen, 2012: Russia Demands U.S. End Support of Democracy Groups. New York Times, 3. Mai.
Hoffman, David E., 2003: The Oligarchs. Wealth and Power in the New Russia. New York: Public Affairs.
Holmes, Leslie, 2006: Rotten States? Corruption, Post-Communism and Neoliberalism. Durham: Duke UP.
Holmes, Stephen, 2003: Lineages of the Rule of Law. In: Maravall, José Maria/Przeworski, Adam (Hg.): Democracy and the Rule of Law. Cambridge: Cambridge UP.
Hough, Jerry, 1997: Democratization and Revolution in the USSR, 1985-91. Washington: Brookings.
Hughes, James, 1996: Russia’s regions: Moscow’s bilateral treaties add to confusion. Transi-tion 19 (2).
Human Rights Watch, 2013: Laws of Attrition. Crackdown on Russia’s Civil Society after Putin’s Return to the Presidency. New York.
Ikenberry, John, 1997: Just like the Rest. Foreign Affairs 76 (2), 162-163.
Jahn, Egbert/Maier, Barbara, 1992: Das Scheitern der sowjetischen Unionserneuerung. Os-teuropa 42 (5), 377-395.
Javeline, Debra/Lindemann-Komarova, Sarah, 2010: Rethinking Russia: A Balanced As-sessment of Russian Civil Society. Journal of International Affairs 63 (2), 171-188.
Jeltzin, Boris, 2000: Midnight Diaries. New York: Public Affairs.
Judah, Ben, 2013: Fragile Empire. How Russia Fell in and Out of Love with Vladimir Putin. New Haven: Yale UP.
Kahn, Jeffrey, 2002: Federalism, Democratization, and the Rule of Law in Russia. Oxford: Oxford UP.
Kotz, David/Weir, Fred, 2007: Russia’s Path from Gorbachev to Putin. London: Routledge.
LaFraniere, Sharon, 1999: Yeltsin Linked to Bribe Scheme. Washington Post, 8. September, A1.
Lapidus, Gail/Walker, Edward, 1995: Nationalism, Regionalism, and Federalism: Cen-ter-Periphery Relation in Post-Communist Russia. In: Lapidus, Gail (Hg.): The New Russia. Troubled Transformation. Boulder, Col.: New Press, 79-113.
Linz, Juan/Stepan, Alfred, 1996: Problems of Democratic Transition and Consolidation. Bal-timore: John Hopkins UP.
Löning, Markus, 2010: „Da ist natürlich ein Stück Symbolkraft dahinter“. Der Menschen-rechtsbeauftragte der Bundesregierung zum Fall Chodorkowski. Deutschlandfunk, 28.Dezember.
Lucas, Edward, 2008: The New Cold War. Putin’s Russia and the Threat to the West. New York: Palgrave.
Luchterhand, Otto, 2006: Auf dem Wege einer Gleichschaltung der Zivilgesellschaft. Die Gesellschaftskammer Russlands. SWP Diskussionspapier, FG5 2006/ 4. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik.
Marin, Dalia, 2000: Trust vs. Illusion. What is Driving Demonetization in Russia? Discussion Paper 00-12, Department of Economics, Universität München.
Matlock, Jack, 1995: Autopsy on an Empire. New York: Random House.
Matsuzato, Kimitaka, 2004: A Populist Island in an Ocean of Clan Politics. The Lukashenka Regime as an Exception among CIS Countries. Europe-Asia Studies 56 (2), 235-261.
McFaul, Michael, 2001: Russia’s Unfinished Revolution: Political Change from Gorbachev to Putin. New York: Cornell UP.
Melia, Thomas, 2005: The Democracy Bureaucracy. The Infrastructure of American Democ-racy Promotion. Princeton Project on National Security Working Paper, September.
Mommsen, Margareta/Nußberger, Angelika, 2007: Das System Putin. München: Beck.
OECD 2000: Economic Surveys. Russian Federation. Paris: OECD.
Przeworski, Adam, 1991: Democracy and the Market. Cambridge: Cambridge UP.
Richter, James, 2009: Putin and the Public Chamber. Post-Soviet Affairs 25 (1), 39-65.
Rosefield, Steven/Hedlund, Stefan, 2009: Russia Since 1980. Cambridge: Cambridge UP.
Ross, Cameron/Campbell, Adrian (Hg.), 2009: Federalism and Local Politics in Russia. Lon-don: Routledge.
Ryzhkov, Vladimir, 2012: Anatomy of Putin’s Battle Against the Opposition. Moscow Times, 16 October 2012. URL: http://www.themoscowtimes.com/opinion/article/anatomy-of-putins-battle-against-the-opposition/469807.html (Stand: 17.09.2013).
Sachs, Jeffrey, 2005: The End of Poverty. Economic Possibilities of our Time. New York: Penguin.
Sakwa, Richard, 1993: Russian Politics and Society. London: Routledge.
Sakwa, Richard, 2005: Perestroika and the Challenge of Democracy in Russia. Demo-kratizasiya 13 (2), 255-275.
Sakwa, Richard, 2008: Putin. Russia’s Choice. London: Routledge.
Sarotte, Mary E., 2010: Perpetuating U.S. Preeminence. The 1990 Deals to “Bribe the Soviets Out” and Move NATO In. International Security 35 (1), 110-137.
Shleifer, Andrei/Treisman, Daniel, 2004: A Normal Country. Foreign Affairs 83 (2), 20-38.
Schöpflin, George, 2007: Russia’s Reinvented Empire. Open Democracy, 3. Mai.
Sestanovich, Stephen, 2007: Where There Two Yeltins? Foreign Affairs, 2. März. http://www.foreignaffairs.com/articles/64246/stephen-sestanovich/were-there-two-yeltsins
Sixsmith, Martin, 2010: Putin’s Oil. The Yukos Affair and the Struggle for Russia. New York: Continuum.
Soldak, Katya, 2013: From Olicharch to President. Forbes, Special Issue: Definitive Guide to the Richest People on Earth, 25. März, 40-49.
Suny, Ronald (Hg.), 2003: The Structure of Soviet History. Essays and Documents. Oxford: Oxford UP.
Taylor, Brian, 2011: State Building in Putin’s Russia. Policing and Coercing after Com-munism. Cambridge: Cambridge UP.
Tilly, Charles, 2007: Democracy. Cambridge: Cambridge UP.
Treisman, Daniel, 2010: ‘Loans for Shares’ Revisited. NBER Working Paper, No 15819.
Treisman, Daniel, 2011: The Return: Russia’s Journey from Gorbachev to Medvedev. New York: Free Press.
Varese, Frederico, 2002: The Russian Mafia. Private Protection in a New Market Economy. Oxford: Oxford UP.
Voswinkel, Johannes, 2013: Putin lässt alle Hemmungen fallen. Die Zeit, 18. Juli.
Weber, Max, 1922 [1976]: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr.
Willerton, John et al., 2005: Addressing the Challenges of Russia’s ‘Failing State’: The Leg-acy of Gorbachev and the Promise of Putin. Demokratizatsiya 13 (2), 219-230.
Williamson, Elizabeth, 1997: Urals ‘Tinkering’ With Independence From Russia. In A First Step, Minerals-rich Region Starts To Introduce Its Own Currency. Chicago Tribune, 2. Feb-ruar.
Youngs, Richard, 2004: International Democracy and the West. The Role of Governments, Civil Society, and Multinational Business. Oxford: Oxford UP.

Prof. Dr. Klaus Müller, Politikwissenschaftler, AGH University for Science and Technology, Krakau

Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 24 (2013) 3, S. 89-107