Marx' Spinoza-Hefte

Marx war zweifellos ein aufmerksamer Leser des politischen Spinoza. Zu einer substanziellen Aneignung kam es zwischen 1841 und 1842 in seiner ›demokratischen‹ Phase, die der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie und der Überwindung des republikanischen Liberalismus von Bauer und Ruge vorausging. Hegels Methode folgend, weist Marx den politischen Spinozismus zurück – nicht weil er ganz falsch wäre, sondern weil er sich nicht auf den entwickeltsten Standpunkt des Liberalismus hinaufarbeitet, der derjenige Hegels ist. Marx begreift den Spinozismus als einen für die Entwicklung des Liberalismus wesentlichen und notwendigen Standpunkt, verwirft aber das System als solches und betrachtet Spinoza als ein der politischen Philosophie Hegels untergeordnetes Moment. Wie Marx Spinoza begreift, in seiner Totalität, seinen Begrenzungen und blinden Flecken, hängt mit dem Moment zusammen, in dem er selbst zum ›Vatermord‹ an Hegel ansetzt.

Der ›Mohr‹ aus Trier liest kritisch den ›Marranen der Vernunft‹ aus Amsterdam. Wie die komplexe Gleichung, so das Rätsel. Selbst unter den spinozianischen Experten ist die Frage der Montage der Hefte von 1841 offen, und unter den Marxologen gibt es unvollständige Hypothesen oder, schlimmer, Missverständnisse und Schweigen. Wenn es eine Kontinuität in der Linie Spinoza-Marx gibt, besteht sie ausschließlich als Negation der Negation im Rahmen der Hegelkritik. Wenn man in dieser Hinsicht eine philosophische Vergangenheit für Marx finden will, mehr als für Hegel, muss man sich dann an Spinoza wenden? Wir können das als anormale Übung in Philosophiegeschichte tun, aber nur um zu beweisen, dass diese zweifelhaften Kriterien den wirklichen Marx zum Verschwinden bringen und seine konkrete Entwicklung verdunkeln. Man darf das Heil nicht in Textverdrehungen suchen.

Worin liegt die Bedeutung Spinozas für Theorie und Praxis des jungen Marx? Das wichtigste Dokument dieser Aneignung sind die in Berlin zwischen März und April 1841 geschriebenen Spinoza-Exzerpte. Der Text ist von Marx’ Handschrift, der Titel – Spinoza’s Theologisch-politischer Tractat – von fremder Hand. Wie ist aber dann das folgende, wiederum von Marx geschriebene »von Karl Heinrich Marx. Berlin. 1841« zu verstehen? In dem Band Jugendarbeiten-Nachträge datiert Rjazanow sie präzis und lanciert die Hypothese, sie könnten angesichts der Möglichkeit einer akademischen Karriere bei Bruno Bauer an der Universität Bonn geschrieben worden sein (MEGA(1), I.2, XXIf). Maximilien Rubel meint, Spinozas Denken habe Marx in seinem Entschluss bestätigt, in »Deutschland das Signal zum Kampf für die Demokratie zu geben [...]. In Spinozas, nicht in Hegels Schule, hat Marx gelernt, Notwendigkeit und Freiheit zu versöhnen.« (1962/1974, 172). Alexandre Matheron spricht von einer »regelrechten und authentischen Montage« des jungen Marx (1977, 160). Doch es besteht kein Zweifel, dass das Spinoza-Heft ein eigenständiger Text ist; es sind Spinozas Worte, aber es ist nicht mehr Spinoza.

Die Herausgeber der neuen MEGA ordnen das Heft den sogenannten »zusammengestellten Exzerpten« zu (IV.1, Apparat, 773), ein Ausdruck, den sie auch für andere Hefte verwenden, wie z.B. die Kreuznacher Hefte von 1843 mit der berühmten Kritik an Hegels Staatsrecht oder die Pariser Manuskripte von 1844. Die Berliner Hefte, besonders die Spinoza gewidmeten, können nicht als bloße Vorarbeiten betrachtet werden, etwa als Investition in kulturelles Kapital hinsichtlich einer akademischen Karriere, sondern sie sind Zeugnisse des intellektuellen Interesses des Junghegelianers Marx. Die Spinoza-Hefte verweisen nicht auf die Vergangenheit des jungen Marx, sondern, im Gegenteil, auf seine unmittelbare Zukunft. Spinoza ist eine Waffe in den Parteikämpfen um den preußischen Rechtsstaat, um die Überwindung des Liberalismus monarchischer wie republikanischer Prägung. Spinoza ist ein Schritt in der Emanzipation der Politik von der Theologie. Zu Beginn des Jahres 1841 ist Spinoza für Marx einer der »intellektuellen Heroen der Moral«, auf Augenhöhe mit Kant und Fichte, nicht jedoch mit Hegel. »Alle diese Moralisten gehen von einem prinzipiellen Widerspruch zwischen Moral und Religion aus, denn die Moral ruhe auf der Autonomie, die Religion auf der Heteronomie des menschlichen Geistes.« (MEW 1, 13) In einem anderen Text aus der gleichen Zeit ordnet Marx Spinoza in einer typisch hegelianischen Abfolge denjenigen zu, die das »Gravitationsgesetz des Staats« entdeckt hatten, angefangen mit »Machiavelli, Campanella, später Hobbes, Spinoza, Hugo Grotius bis zu Rousseau, Fichte, Hegel herab«. Ihnen kommt das Verdienst zu, »den Staat aus menschlichen Augen zu betrachten und seine Naturgesetze aus der Vernunft und der Erfahrung zu entwickeln, nicht aus der Theologie« (MEW 1, 103).

Die Spinoza-Hefte lassen sich als Illustration des politisch-philosophischen Projekts der Junghegelianer lesen. Der erste Abschnitt (Kap. VI, XIV, XV des Traktats) konzentriert sich auf das Thema des Wunders, wobei in Übereinstimmung mit der bauerschen Kritik die menschliche, empirisch-praktische Seite des Phänomens und der unversöhnliche Widerspruch zwischen Vernunft und Theologie (der Heiligen Schrift) offengelegt wird; der Grund des Wunders liegt im Egoismus und der Ohnmacht des homo religiosus und ist eine anthropologische Tatsache. Im zweiten Abschnitt der Hefte (Kap. XX bis XVI, in dieser Reihenfolge!) befinden wir uns im Gravitationszentrum des marxschen Interesses für Spinoza. Thema sind die Meinungsfreiheit und die ihr entgegenstehenden Formen des Staates. Spinoza geht es um die Trennung von Glaube und Philosophie, eben die Aufgabe, die sich Bauers Partei und Marx gestellt haben. In seiner Spinoza-Montage setzt Marx diese Passage kursiv: »dass zwischen Glauben oder Theologie und der Philosophie keinerlei Gemeinschaft und keinerlei Verwandtschaft besteht« (MEGA IV.1, 236).

Der Montage von Kapitel XX gibt Marx willkürlich den seinem Inhalt keineswegs entsprechenden Titel »de libertate docendi« (Von der Freiheit des Wortes) und passt es damit dem Kampf für die Lehrfreiheit und das Ende der Zensur an – ganz in der Weise, wie Bauer (1842/1968, 91), Ruge und die Junghegelianer den Kampf seit 1839 führten. Marx unterstreicht vor allem die Bedeutung der Freiheit des Denkens, libertas loquendi, als eines unveräußerlichen Rechts, indem er eine komplexe Montage von Spinozas Originaltext durchführt. Matheron hat sie Schritt für Schritt mit dem Original verglichen (1977, 174). Marx’ Exzerpte zeigen insbesondere sein Interesse für die republikanische Staatsform, die liberale Verfassung und die Frage des Freiheitskriegs, womit er sich das radikale Motto Spinozas zueigen macht: »Der Zweck des Staates (rei publicae) ist in der Tat die Freiheit.« (MEGA IV.1, 237) Marx stellt zwei Formen des Staates einander gegenüber: einerseits den konfessionellen, theokratischen und autoritären Staat (wovon sich der preußische Staat herleitet?), der mit Hilfe religiöser Mystifikationen über die Menge herrscht; andererseits der demokratische Staat, der sich die geistige Freiheit zum Ziel setzt und sich auf Vorschriften beschränkt, die das Wohl des Volkes betreffen. Daraus folgt, dass das Oberste Gesetz jederzeit sich am Wohl des Volkes orientieren muss, was allein durch das imperium democraticum erreicht werden kann. Marx forciert Spinozas Text, wenn er die demokratische Staatsform als die einzige gelten lässt, der die vier grundlegenden Attribute einer guten Regierung, eines »Staatsrechts« zukommen: 1. die Meinungsfreiheit als durch die Staatsform selbst garantierte (ein Attribut, das er in seinen künftigen Artikeln über die Zensur verteidigen wird); 2. nicht-gewalttätige und konsensuale Mechanismen politischer Herrschaft; 3. Verwandlung der Menge in Volk (positive und aufbauende Energie); 4. Stabilität des Verfassungsvertrags, dem freilich stets eine gewisse Spannung innewohnt. Von den Überlegungen zum »jüdischen Staat« bewahrt Marx nur das, was unmittelbar Licht auf die Attribute des konfessionellen und damit unterdrückenden Staates wirft, d.h., die reaktionäre Rückständigkeit Preußens ins Bild bringt.

Sowohl Marx’ Montage (abgefasst im besten Stil der bauerschen Kampfschriften) wie die Struktur der Dekonstruktion Spinozas verweisen auf einen Text, der für den kurzen Moment der Kritik der Politik der Junghegelianer (1841-1843) vor ihrem schließlichen Zerfall gemacht wurde. Die Obsession für theologische Themen hat die zentrale Stellung der politischen Kritik und besonders der Rolle von Hegels Rechtsphilosophie von Anfang an verdunkelt, als die hegelsche Linke ihre Tagesordnung festlegte. Es ist kein Zufall, dass der ›Vatermord‹ an Hegel 1843 mit der Kritik am politischen Hegel einsetzt, nachdem die mit Bauer geteilte Matrix im Streit um die »Judenfrage« zerbrochen ist. Diese Staatskritik kommt spät; die marxsche Rezeption-Zurückweisung von Spinoza muss mit der wachsenden, in den Kreisen der hegelschen Linken evidenten Negation des politischen Hegel zusammengebracht werden.

Marx entwickelt seine junghegelianischen Thesen mit Hilfe von Spinoza. Was dabei die Idee des Staates betrifft, ist Marx ganz Hegelianer in der bauerschen Version: die einzige Staatsräson ist der »regierende Verstand«, der auf der »freien Vernunft« gründet, die sich nicht von der Theologie herleitet. Oder wie es bei Bauer heißt: »Der Mensch ist mehr als ein Wurm. Ihn adelt die Form. Und diese Form gibt ihm der Staat.« (1842/1974, 15) Spinozas Theorie des (vormodernen) Staates erwies sich als unbrauchbar, seine Auffassung der menschlichen Freiheit (die dem marxschen Naturgesetz widerspricht) als beschränkt, seine Vorstellung von der Volkssouveränität als falsch bzw. nicht vorhanden. Wenn schon Bauer und die hegelsche Linke diesen grundlegenden Mangel beim politischen Hegel kritisiert hatten, das Fehlen eines adäquaten Prinzips für eine Theorie gemeinsamen, autonomen Handelns und die illusorische Gemeinschaftlichkeit seiner Staatsidee, so waren diese Defizite bei Spinoza noch ausgeprägter. In beiden Fällen ist es aufgrund dieser Voraussetzungen unmöglich, dass die Bürger sich mit dem vernünftigen Staat, mit der Republik aktiv identifizieren. Für die Junghegelianer bleibt das dem objektiven Geist innewohnende intersubjektive Potenzial aufgrund der institutionellen Struktur und einer falschen Theorie der Praxis blockiert. All das bringt Marx in seiner Kritik von 1843 auf den Punkt, die sowohl die Defizite des bauerschen rigorosen Republikanismus wie den monarchischen Konstitutionalismus Hegels aufs Korn nimmt.

Daraus lässt sich ohne weiteres ableiten, dass Marx sich nicht nur über die Grenzen des politischen Spinoza im Klaren war, sondern dass er darüber hinaus seine polemische Schlagkraft ausschließlich auf den konjunkturellen Kampf der Bauer-Partei gegen die preußische Reaktion konzentrierte. In diesem ›bauer-marxschen‹ Spinoza sind zwei Typen von Staat einander entgegengesetzt: der konfessionelle und unterdrückerische, der seine legitime Stellung über der großen Menge mit theologischen Mystifikationen bestreitet, und der mit seinem Wesen im Einklang stehende Staat, die organische Staatsvernunft, dessen Zweck die an der republikanischen Maxime der Lex salus orientierte geistige Freiheit ist. Doch bewegen wir uns hier bereits jenseits von Spinoza. Marx hatte sich Bauers Kritik an Hegels inkohärenter Synthese von Spinozas Substanz und Fichtes Ich angeschlossen; er hat Bauers rigorosen Republikanismus von 1840-1842 übernommen, weshalb Spinoza weder den Notwendigkeiten der reinen Kritik genügen, noch gegen den Rechtsstaat in Anschlag gebracht werden konnte, um gegen den Besitzindividualismus und die als Idee der Freiheit daherkommenden Partikularismen Front zu machen. Tatsächlich brauchte sich Marx über die ideologisch auf der Hand liegenden »Defizite« der praktischen Philosophie Spinozas nicht schriftlich auszubreiten. Ihre Richtigstellung lässt sich problemlos nachvollziehen, wenn man die Textmontage der Hefte von 1841 heranzieht. Die eigenwillige Auslegung des Textes ist die Kritik des ›liberaldemokratischen‹ Marx, des Bauerianers Marx am politischen Spinoza.

 

Aus dem Spanischen von Peter Jehle

 

Literatur

Bauer, Bruno, »Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit« (1842), in: ders., Feldzüge der reinen Kritik, hgg. v. H.-M. Sass, Frankfurt/M 1968

ders., »Was ist die Lehrfreiheit?« (12.4.1842), in: Marx, Karl, Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe, Nachdruck Leipzig 1974

Marx, Karl, »Spinoza’s Theologisch-politischer Tractat« u. »Spinoza’s Briefe«, MEGA IV.1, Exzerpte und Notizen bis 1842, Berlin/DDR 1976, 233-276

Matheron, Alexandre, »Le Traité Théologico-Politique vu par le jeune Marx«, in: Cahiers Spinoza, I, 1977

Rubel, Maximilien, »Marx et la démocratie« (1962), in: ders., Marx critique du marxisme, Paris 1974, 171-82

 

 

© DAS ARGUMENT 307/2014, 209-212