Entgiftung der Worte

Bundespräsident Gauck gehörte zu den Repräsentanten, die in Lüttich am 4. August an der Gedenkveranstaltung aus Anlass des Beginns des Ersten Weltkrieges gesprochen haben. Auf den ersten Blick hat er eine Rede im Sinne des Friedens gehalten. Aber hat er das wirklich? Das Wort Frieden kommt nur im Kontext mit der Europäischen Union vor. Er sagte: „Wie sind dankbar dafür, dass wir hier in Europa nun schon so lange in Frieden miteinander leben können. […] Gerade hier in Belgien, wo das verfasste Europa zuhause ist, ist der Ort, die europäische Einigung zu loben.“ Und so geht es denn weiter: Die EU sei der Ort des Friedens.

Ihr stellt Gauck den Zustand weiter Teile der übrigen Welt gegenüber: „Kriege und Bürgerkriege an so vielen Orten, Millionen Menschen leiden unter Gewalt und Terror, Millionen sind auf der Flucht.“ Und weiter: „Immer noch werden politische, völkische und religiöse Überzeugungen instrumentalisiert, um als Rechtfertigung von Gewalt und Mord zu dienen.“ Abgesehen davon, dass es nach dieser Lesart auch positive „völkische Überzeugungen“ geben müsste, wenn sie nicht instrumentalisiert werden – bei politischen und religiösen Überzeugungen ist jedenfalls jeweils auch eine positive Interpretation denkbar. Abgesehen davon also kein Wort zu den wirklichen Ursachen dieser gegenwärtigen Kriege und Bürgerkriege, an deren Zustandekommen der Westen und die EU in aller Regel nicht unbeteiligt sind, etwa in der Ukraine oder im Konflikt zwischen Israel und Palästina. Um nur zwei der Konflikte zu nennen, die gerade tobten, als der Bundespräsident seine Rede hielt.
Die Folgerung, die er dann ableitet, lautet so: „Wir sind deshalb als Repräsentanten so vieler Länder heute nicht nur im Gedenken vereint, wir erinnern uns auch daran, dass wir gemeinsam eine Verantwortung haben für die Welt. Wir können nicht gleichgültig bleiben, wenn Menschenrechte missachtet werden, wenn Gewalt angedroht oder ausgeübt wird.“ Hier bezieht er gewiss die USA nicht mit ein, obwohl sie jenes Land sind, das seit 1945 am häufigsten Gewalt nicht nur angedroht, sondern auch ausgeübt hat. Gauck hingegen sagt: „Wir müssen aktiv eintreten für Freiheit und Recht, für Aufklärung und Toleranz, für Gerechtigkeit und Humanität.“ Das klingt gut. Es sind aber vergiftete Worte. Nicht nur, dass Gauck den Frieden nur auf den Westen Europas bezieht, nicht aber auf ganz Europa, das heißt ausdrücklich nicht auf Russland – das aber war auch am ersten Weltkrieg beteiligt und hatte große Opfer zu beklagen: 1,7 Millionen Soldaten fielen (Deutschland zwei Millionen) und zwei Millionen Zivilpersonen kamen ums Leben (Deutschland 960.000); auch diese nicht ohne Zutun der deutschen Truppen. Die Pointe bei Gauck ist, dass er aus den Verbrechen des ersten Weltkrieges eine Verantwortung „des Westens“ in der Welt ableitet. Damit aber wiederholt er genau jenes Grundmuster der Argumentation, das schon damals die europäischen Mächte benutzt hatten, nur gegeneinander, nicht als gemeinsamen Anspruch.
Angesichts dessen ist dringend eine Entgiftung der Worte vonnöten, der jedoch eine andere Weltsicht zugrunde liegen muss. Heinz Theisen, Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln, hatte bereits 2006 ein Buch zu den „Grenzen Europas“ veröffentlicht und als Fazit formuliert: „Die Grenzen Europas zeigen sich an den Grenzen der Universalisierbarkeit der westlichen Kultur.“ Später nannte er die Grenzen Europas „überdehnt“. Das eigentliche Problem ist der westliche Universalismus – er ist nicht die Lösung anderer Probleme, wie Gauck meint. Solange sich der Westen als universal gültige Kultur verstehe, könne er – so Theisen in seinem 2012 erschienen Buch „Nach der Überdehnung. Die Grenzen des Westens und die Koexistenz der Kulturen“ – sich nirgends prinzipiell begrenzen, und solange er seine Einflusssphäre mit der Universalität der Menschenrechte gleichsetzt, drohe jedes Problem auf der Welt zu einem Problem des Westens zu werden: Tibet, die Frauen in Afghanistan, der Landverlust der Palästinenser. Das Grundproblem also ist: „Die vom Westen ausgehenden Globalisierungsprozesse überfordern auf allen Seiten erhebliche Teile der Bevölkerung, die sich in abgrenzenden Kulturfundamentalismus, Ethnozentrismus und Populismus flüchten. Nach Jahrhunderten der Expansion, von den Kreuzzügen, Entdeckungsreisen, vom Kolonialismus bis zum Interventionismus der NATO, hat sich der Westen so sehr verausgabt, dass heute seine Heimkehr, Selbstbegrenzung und Selbstbehauptung auf der Agenda stehen. Dieser Rückzug wird schwer und oft gefährlich sein. Es besteht die Gefahr, dass er in einen Niedergang der westlichen Zivilisation übergeht. Für seine neue Rolle muss der Westen vor allem ein neues Verhältnis zu den anderen Weltkulturen aufbauen.“
Die Überdehnungen des Westens sieht Theisen in verschiedenen Dimensionen: in Gestalt der „Weltfinanzkrise“ als „Entgrenzung der Funktionssysteme“ des Weltkapitalismus, in einer Überdehnung der Eurozone, der Überdehnung des europäischen Gedankens, einer kulturellen Überdehnung in dem Sinne, dass die „Fassadendemokratien des Balkans“ Eingang in die EU gefunden haben, außenpolitische und militärische Überdehnungen mit den Kriegen in Afghanistan, Irak und Libyen, von denen keiner erreicht hat, was der Westen ursprünglich proklamiert hatte. Theisen benennt auch die Überdehnung der EU in räumlicher und struktureller Hinsicht – wahrscheinlich, das konnte er beim Abfassen seines Textes noch nicht wissen, ist die derzeitige Auseinandersetzung um die Ukraine Ausdruck genau dieser Überdehnung der EU.
Theisens Kritik der Außenpolitik des Westens und Deutschlands leitet sich von einem konservativen Standpunkt her, der grundsätzlich gegen sozialistische oder links-gutmenschliche Positionen gerichtet ist und sich wesentlich aus der katholischen Soziallehre herleitet. Als Ausweg empfiehlt er die friedliche Koexistenz, insbesondere auch für das Verhältnis zur islamischen Welt: Der notwendige Paradigmenwechsel weg vom Universalismus und einer vorgestellt globalen Integration hin zu einer friedlichen Koexistenz der Kulturen könne sich am Vorbild des Kalten Krieges zwischen zwei inkompatiblen Ideologien orientieren. „Auch die westliche und islamische Kultur müssen ihre Inkompatibilität erkennen, zwischen ihnen sind keine dritten Wege oder Konvergenzen in Sicht. Der Islamismus stellt eine vergleichbare totalitäre Herausforderung wie der Kommunismus dar. USA und NATO müssen sich – heute besonders dringlich im Atomkonflikt mit dem Iran – der alten Strategie einer friedlichen Koexistenz aus dem Kalten Krieg erinnern, deren Mischung von Abschreckung, Eindämmung und Entspannung den Frieden bewahren half.“ In diesem Sinne lautet das Fazit: „Wir können uns eine Vorherrschaft des Westens, seiner Werte und Strukturen zwar noch wünschen, sie aber nicht mehr durchsetzen. [...] Der heute weit überdehnte Westen muss sich stärker begrenzen, um sich behaupten zu können.“ Das aber ist das Gegenteil dessen, was Gauck meinte.