Das Recht auf Referenz

Reproduktion, Rezeption und die künstlerische Praxis

in (03.09.2014)

„Caruso ist ein schrecklicher Sänger.“ – „Woher weißt Du das?“ – „Weil mir Rabinovich eines seiner Lieder vorgesungen hat.“ (Quelle unbekannt)

Lawrence Lessig beschreibt in Remix[1] den Versuch der Künstlerin Candice Breitz, das Einverständnis Yoko Onos für die Interpretation des Albums John Lennon / Plastic Ono Band (1970) in Form ihrer Arbeit Working Class Hero (A Portrait of John Lennon) (2006) zu erhalten. Diese mehrkanalige Videoarbeit zeigt 25 John Lennon-Fans beim a-capella-Singen aller Songs des Albums. Nach langwieriger Kommunikation wurde seitens Sony (der Inhaberin der betreffenden Rechte) eine vermutlich bewusst unverhältnismäßige Summe von etwa 45.000 US$ als Standardabgeltung für eine einmonatige Ausstellungsdauer festgelegt. In Anbetracht des Zeitdrucks konnte allerdings vereinbart werden, dass die Arbeit in zwei bereits geplanten Ausstellungszusammenhängen vorläufig ohne Rechteklärung gezeigt werden konnte. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Lessigs Publikation (mehr als 2 Jahre nach Beginn der Verhandlungen) war es jedenfalls noch zu keiner Einigung gekommen.[2] Lessig als Rechtsexperte hält fest, dass allein die bis dahin investierten (Zeit)ressourcen der Beteiligten bzw. die Honorare der involvierten Juristen den Gegenwert möglicher Lizenzkosten um ein Vielfaches überstiegen haben dürften. Es ging hier wohl weniger um Geld denn um Prinzipien und Behauptung hierarchischer Stellenwerte. Dieses Beispiel zieht eine Parallele zu der Behauptung Dirk von Gehlens am Beispiel der digitalen Verbreitung von Musik, dass „Juristen die im Auftrag der Musikindustrie am häufigsten mit der Digitalisierung befasste Berufsgruppe darstellen und nicht etwa die Marktforscher und Produktentwickler, die mit kreativen Ideen auf die veränderte Situation reagierten“[3] – ganz zu schweigen von den KünstlerInnen. Da davon ausgegangen werden kann, dass diese Berufsgruppe neben InteressensvertreterInnen der VerwerterInnen auch maßgeblich – jedenfalls in größerem Ausmaß als Kulturschaffende oder RezipientInnen – an der Weiterentwicklung des Urheberrechts beteiligt ist, ist es naheliegend, anzunehmen, dass sie auch finanziell davon profitiert bzw. die Gelegenheit nicht ungenutzt lässt, sich unentbehrlich zu machen.

Celia Lury zufolge ist das System der Regelung geistigen Eigentums, insbesondere der Verwertungsrechte, zwar juristisch determiniert, aber als Ergebnis politischer, ökonomischer und kultureller Auseinandersetzungen zu sehen.[4] Durch den Autorenbegriff konnten demnach kulturelle Werte erst zum Eigentum oder zur Ware und durch kontrollierte Produktion ihr entsprechender Wert festgelegt werden. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des hochkulturellen Kunstmarkts (in Unterscheidung zu Populärkultur) beschreibt sie die Entwicklung kultureller Barrieren und die bewusste Beschränkung des möglichen Angebots auf Unikate oder Objekte mit Seltenheitswert auf Basis festgeschriebener Originalitäts-, Authentizitäts- und Kreativitätsdefinitionen durch Gatekeeper wie KunsthändlerInnen und KritikerInnen als Reaktion auf das kleine Marktsegment eines potentiellen Oberschicht-Zielpublikums. Der nach wie vor verbreitete Kunstbegriff hat sich also dem zufolge nicht Markt-unabhängig entwickelt, sondern ist durch dessen Gesetzmäßigkeiten mitkonstituiert.

Viele VorläuferInnen und Positionen der Postmoderne haben sich in der Folge explizit fremde Werke angeeignet oder diese bearbeitet, um Kritik an der Konstruktion des Originals und am Schöpfermythos zu üben. An dieser Stelle ist der (obligate) Verweis auf Walter Benjamin angebracht, wie ihn beispielsweise Michael Lüthy in seiner Monographie über Andy Warhols Mona Lisa-Bearbeitung Thirty Are Better Than One zitiert: „In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle der Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.“[5] Lüthy entgegnet darauf: „Prüft man Benjamins Argumentation anhand des Falles der Mona Lisa – als das meistreproduzierte Kunstwerk der beste Prüfstein –, dann erweist sich die Argumentation als nur teilweise zutreffend. Durch die Reproduzierbarkeit ist weder „die Autorität“ des Originals „ins Wanken geraten“, noch hat es sich „von seinem parasitären Dasein am Ritual emanzipiert“. Das Gegenteil scheint der Fall. Seit die Mona Lisa in ihren Reproduktionen „dem Aufnehmenden entgegenkommt“, reißt der Strom derjenigen, die nun ihrerseits das Original aufsuchen, nicht mehr ab.“[6] Das Original profitiert also von der Verbreitung durch Wiedergabe oder Vervielfältigung, indem der Grad seiner Bekanntheit dadurch gesteigert wird. Den Riesen zu benennen, auf dessen Schultern wir stehen – die Kultur, auf die wir aufbauen –, entspricht in vielerlei Hinsicht dem Interesse von KünstlerInnen, wahrgenommen und verbreitet zu werden und auch dem im kontinentaleuropäischen Urheberrecht festgeschriebenen Persönlichkeitsrecht auf Namensnennung. Trotzdem kann dieser Vorgang gleichzeitig nach rechtlichen Gesichtspunkten negative Konsequenzen haben, wenn er im Kontext einer nicht-autorisierten Bearbeitung geschieht.

In einer mit eingangs beschriebener Situation vergleichbaren befand sich die Künstlerin Fiona Rukschcio bei der Vorbereitung ihrer Neuverfilmung bzw. Bearbeitung des Films Rape (Yoko Ono, John Lennon 1969) mit dem Titel Retaped Rape (2012). Darin übernimmt sie die Rolle des im Original männlichen Kamerateams und zeichnet die beklemmende Verfolgung einer jungen Frau durch London bis in eine Wohnung nach, allerdings unter Auslassung der Protagonistin. Rukschcio unternahm eine ausführliche Recherche zu den Produktionsumständen von Rape, unter anderem auf Grundlage des Originalkonzepts und Gesprächen mit dem Kameramann und der Schwester der inzwischen leider verstorbenen Protagonistin. Es wurden auch unterschiedliche Rechte bei Yoko Ono angefragt (u. A. das Einverständnis für Bearbeitung und Bildrechte), allerdings ohne Antwort zu erhalten. Da die Bearbeitung durchaus als „freie“ (im Sinne des UrhG) verstanden werden kann, wurde trotz der damit einhergehenden Risiken eine Produktion und Veröffentlichung der Arbeit entschieden.

Bearbeitung, Aneignung oder andere Formen der Bezugnahme sind, wie dieses Beispiel zeigt, als eine Methode der Auseinandersetzung mit der künstlerischen Aussage eines Vorbilds zu verstehen, die im Ergebnis sowohl Züge einer Hommage als auch die einer kritischen Hinterfragung tragen kann. Diese Methode kann auch zu einer Erweiterung der Rezeptionsgeschichte der Vorlage beitragen, wie ein weiteres Beispiel zeigt: Im Rahmen des künstlerischen Forschungsprojekts Matt und Schlapp wie Schnee hat sich Stefanie Seibold 2009-2011 intensiv mit der Arbeit der Performancekünstlerin Gina Pane und mit deren Rezeption beschäftigt, indem sie als zentrale Forschungsmethode die Performance Discours mou et mat bewusst partiell – unter Auslassung der bekannten Selbstverletzungsmomente, auf die die Arbeit der Künstlerin häufig reduziert wird – rekonstruierte und mit Zusätzen versah, die üblicherweise in der Vermittlung der Arbeit von Gina Pane ausgeblendete Aspekte wie Hautfarbe und Gender als Kommentar einfügten. Mittels dieser Form des bearbeiteten Restagings wurden Fragen nach der Dokumentierbarkeit von Performancekunst vor dem Hintergrund kunsthistorischer Auslassungen gestellt, insbesondere „nach jenen Mechanismen, die entlang von Kategorisierungen, Publikations- und Distributionslogiken Ausschlüsse und Benachteiligungen produzieren“[7].

Diese Mechanismen des institutionellen Vermittlungssystems kontrollieren (gemeinsam mit denen des Marktes, s. auch weiter oben) einerseits über Ausschlusskriterien und Regelwerke die Zugänglichkeit zu und in der Folge die Verbreitung von kulturellen Gütern, gleichzeitig etablieren sie die Kriterien ihrer Vermittlung mittels Vereinbarungen zwischen EntscheidungsträgerInnen und Ausbildungssystemen, etwa über standardisierte Verweissysteme als Grundlage wissenschaftlichen oder auch künstlerischen Arbeitens. Während Kultur und ihre Weitergabe auf Vorgänge wie Reproduktion und Imitation angewiesen ist, ohne die Kulturtechniken wie das Schreiben nicht erlernt werden könnten[8], wird die dafür unabdingbare Technik des Kopierens zunehmend problematisiert. Das zeigt insbesondere die Erfindung des Begriffs „Raubkopie“, der juristisch insofern unkorrekt ist, als „Raub“ bedeutet, dass einer Person „eine fremde bewegliche Sache (...) mit Gewalt oder unter Anwendung von Drohungen (...)“[9] weggenommen wird. Nicht erst seit Möglichkeiten technischer Vervielfältigung entwickelt werden, muss insbesondere im Zusammenhang mit dem Vorgang des Kopierens zwischen materiellen und immateriellen Gütern unterschieden werden. Kopie bedeutet grundsätzlich, dass etwas vermehrt wird, also auch Kultur, Wissen oder Information – schließlich lautet die Übersetzung des lateinischen Begriffs copia unter Anderem „Vermögen, Überfluss, Menge“.[10]

Gleichzeitig kann es keine Kopie ohne Original geben, was bedeutet, dass diese Begriffe sich gegenseitig bedingen. Es handelt sich bei ihrer Unterscheidung eher um „ein soziales Konstrukt als eine objektive Kategorie“.[11] Oder, wie Rosalind Krauss es in ihrem bekannten Aufsatz über die Originalität der Avantgarde formuliert: „If the very notion of the avant-garde can be seen as a function of the discourse of originality, the actual practice of vanguard art tends to reveal that ‚originality’ is a working assumption that itself emerges from a ground of repetition and recurrence“[12]. Darüber hinaus sei auf Aneignung als Methode imperialistischer Dominanzkultur verwiesen: „Most of what we call history is arguably the history of appropriation, and the history of one group stealing from another group and claiming those people’s bodies, minds, properties, lands, or cultures as their own. This history continues today unabated, and it brings up the philosophically complex problem of belonging. (...) The act of hiding, disguising, or naturalizing appropriation serves to support a particular power structure (based on domination)“[13]

Fragen der Identifikation von Originalität bzw. Authentizität haben mich u. a. auch in meiner Videoinstallation Appropriated Beggars beschäftigt, die gemeinsam mit den oben erwähnten Arbeiten von Fiona Rukschcio und Stefanie Seibold in der von mir kuratierten Gruppenausstellung Copie Non Conforme[14] zu sehen war und die auch den konzeptuellen Ausgangspunkt dieses Projekts darstellt. Diese Arbeit ist ein Remake der Videoinstallation Beggars (Kutlug Ataman, 2010), das die Aussage der Vorlage um die Frage erweitert, wie authentisch Armut dargestellt werden muss, um als solche erkannt zu werden (analog zur Frage der Authentizität und Rollenperformativität, was das Verständnis von Identität oder Erwerbsarbeit in allen gesellschaftlichen Bereichen betrifft), indem Performerinnen und „echte“ BettlerInnen auf relativ ununterscheidbare Weise dargestellt werden bzw. sich selbst darstellen. Außerdem wird mit dieser Bearbeitung bewusst der Begriff der urheberrechtlich nicht schützbaren aber eventuell künstlerisch zentralen Idee bzw. Form thematisiert. Ein solches Hinterfragen von scheinbaren Normen oder Klischees sehe ich als zentrale Aufgabe künstlerischer Arbeit.


Amina Handke lebt und arbeitet in Wien. www.amina.at
Dieser Text entstand im Zusammenhang mit Überlegungen zur Konzeption der von ihr kuratierten Gruppenausstellung Copie Non Conforme (Kunstraum Niederösterreich, 2014).

 

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 32, Sommer 2014, „Re:Produktion“
 



[1] Lawrence Lessig, Remix, Bloomsbury Academic, London 2008, S. 5 ff.

[2] Inzwischen ist die Arbeit auch auf der Website der Künstlerin http://candicebreitz.net/ veröffentlicht.

[3] Dirk von Gehlen, Mashup – Lob der Kopie, Suhrkamp, Berlin 2011, S. 136

[4] Celia Lury, Cultural Rights – Technology, legality and personality. Routledge, London 1993 S. 4

[5] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, zit. nach Lüthy 1995

[6] Michael Lüthy, Andy Warhol – Thirty Are Better Than One, Insel 1995, S. 61

[7] Stefanie Seibold, images = images, Camera Austria, Graz 2013.  Wie von Seibold in der Publikation zu ihrem Projekt außerdem beschrieben, spielt in diesem Zusammenhang auch die oftmals restriktive Haltung der RechtsnachfolgerInnen eine Rolle, die vermutlich häufig nicht unbedingt im Sinne der UrheberInnen agieren.

[8] S. z. B. von Gehlen S. 64 ff.

Als Beispiele aus der künstlerischen Ausbildung seien hier das Kopieren von Bildern zum Erlernen von Techniken genannt oder die Verwendung von Ansichtskopien von Werken der Medienkunst, deren Kenntnis nötig ist, um sich auf VorläuferInnen beziehen zu können und sich nicht ad absurdum wiederholen zu müssen.

[9] Zit. nach von Gehlen S. 117

[10] Vgl. Marcus Boon, In Praise of Copying, Harvard, Harvard University Press 2010.

[11] von Gehlen S. 36

[12] Rosalind Krauss, The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, MIT Press, Cambridge 1986

[13] Boon S. 205/216

[14] Kunstraum Niederösterreich, Wien, Januar bis März 2014