„Er stand bis zum Ende auf der Bühne, um über Bürgerrechte, Freiheit und Demokratie zu sprechen“

Pierpaolo Farina über Enrico Berlinguer und dessen Aktualität.

prager frühling: Pierpaolo, du hast jüngst ein Buch Reden und Texten von Enrico Berlinguer herausgegeben und bist Mitbetreiber der Homepage www.enricoberlinguer.it. Aber wieso Berlinguer? Was ist so faszinierend an dieser Person?

Pierpaolo Farina: Berlinguer war der Vorsitzende der größten kommunistischen Partei des Westens. Er übernahm sie, als sie bei Wahlen 25% erzielte und führte sie zu einem Stand von 34%. Dafür alleine verdient er ein Denkmal, weil wahrscheinlich selbst in der UdSSR die Kommunisten nicht in der Lage waren eine solche Unterstützung in der Bevölkerung zu generieren. Für uns heute ist vor allem wichtig zu sehen, dass Berlinguer sein Leben einem Ideal widmete. Er steht im scharfen Kontrast zum Bild des modernen Politikers: Er war niemals zynisch, korrupt oder arrogant. Enzo Biagi, ein wichtiger italienischer Journalist, schrieb einmal, er sei der einzige ihm bekannte Politiker, der seine Versprechungen auch halten würde. Schließlich liegt etwas Heroisches in seinem Tod: Eine politische Führungsperson, die bis zum Ende auf der Bühne stand, um über Bürgerrechte, Freiheit und Demokratie zu sprechen. Die Bilder seines Zusammenbruchs auf der Bühne sind schlimm, aber sie zeigen Berlinguers Leidenschaft und waren der Grund, wieso wir vor fünf Jahren die Seite www.enricoberlinguer.it ins Leben gerufen haben, die jetzt mehr als 40.000 Nutzer hat.

prager frühling: Und wieso Berlinguer gerade heute, im Jahre 2014? Was ist seine Aktualität?

Pierpaolo Farina: Er nahm eine ganze Reihe an wichtigen politischen Fragen der letzten 30 Jahre vorweg. Wir sehen ihn als eine Art Beispiel, weil in dieser Zeit in Italien nichts war: Seine Erben haben seine politischen Inhalte verraten und haben in der Regierung mehr Abbaumaßnahmen durchgesetzt als die Rechte. Es ist eigentlich keine Überraschung, dass wir zu Berlinguer zurückkehren und seinen Überlegungen zur Bedeutung von Frieden, zur Frauenfrage oder zu den Chancen junger Menschen – und nicht zuletzt zum Kampf gegen die Macht der Mafia. Berlinguer war so, wie ein Politiker sein sollte: Er wurde niemals reich, hatte das Gehalt eines Metallarbeiters, der Rest ging zur Partei. Politik heute dagegen ist, gerade in Italien, einfach nur noch ein Mittel für den sozialen Aufstieg.

prager Frühling: Ist das nicht ein bisschen nostalgisch und idealisierend?

Pierpaolo Farina: Das Problem haben wir erst kürzlich diskutiert. Wir haben jetzt fünf Jahre damit verbracht die Ideen von Berlinguer einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, in sozialen Netzwerk und im Internet. Wir wollten ein Bild mit Licht und Schatten zeichnen, denn auch er hat Fehler gemacht. Aber zur Zeit vereinnahmen viele italienische Politiker Berlinguer und nutzen seinen 30. Todestag als Waffe, um sich im Wahlkampf gegen andere zu behaupten. Sie verbreiten ein doppelt verzerrtes Bild: Hier Berlinguer als Lichtgestalt und Mythos, dort Berlinguer als Buhmann und archaische Person. Ich weise einen Berlinguer-Mythos zurück: Er war ein normaler Mann. Ihn zum Heiligen zu erklären ist Nonsense, aber wir brauchen ihn, um Inspiration für die Kritik des Systems zu gewinnen. Der Erfolg unserer Seite liegt genau darin, dass wir nie versucht haben, seine Person in einen solchen Mythos zu verwandeln.

 

Pierpaolo Farina lebt in Mailand. Er ist Herausgeber des Buches „Casa per Casa, Strada per Strada“ (2013) mit Reden und Texten von Enrico Belinguer und ist Mitbetreiber der Internetseite www.enricoberlinguer.it.