Über die Schwierigkeit, ein Experte für »Alltag und Herrschaft in der DDR« sein zu wollen

Nach den gesellschaftlichen Umbrüchen im Herbst 1989 veränderte sich im Osten alles für alle. Wer an der DDR hing, verlor seine Heimat. Wem sie egal war oder wer sie hasste, wurde oft trotzdem arbeitslos oder litt an bis dahin unvorstellbaren Zumutungen der Bürokratie, der sozialen Unsicherheit, der Geldabhängigkeit. Spätestens seit dem Tod von Heiner Müller 1995 kursierte der Begriff »Wende-Krebs«. Auf »Wende-Depressionen« hatten bereits Anfang der 90er Jahre vor allem die Verantwortlichen in Psycho-Beratungszentren und an Krisentelefonen aufmerksam gemacht, 1992 auch der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Aber – im Unterschied zu der Zeit nach dem Ende der Nazi-Herrschaft gab es nach dem Ende der DDR weder im Privaten noch in der Öffentlichkeit die Phase des großen Schweigens. Im Gegenteil, der Büchermarkt ist inzwischen überfüllt von mehr oder weniger autobiographisch angelegten Publikationen über das Leben in der DDR.

Ob es den Autorinnen und Autoren dabei gelingt, den schmalen Pfad zwischen Verklärung und Verteufelung der »ersten sozialistischen Staatsbildung auf deutschem Boden« (Schreiber 1969, 129) zu finden, ob ihnen also ein Werk von geschichtlicher Relevanz gelingt, hängt wohl davon ab, wie sie ihr eigenes Denken und Tun im Rückblick auf die DDR beurteilen. Wenn sie den Mut haben, sich und anderen einzugestehen, dass sie auch selbst an den Defiziten der DDR mitgewirkt haben, dann vielleicht. In einem Interview sagte mir ein Lehrer aus Sachsen: »Ich musste mein ganzes Leben infrage stellen. Das unterscheidet mich bis heute von meinem West-Kollegen.« In einem anderen Gespräch brachte eine Achtzigjährige den Anspruch auf den Punkt, den sie an Insider-Publikationen stellt: »Wenn wir uns zur DDR äußern, dann muss es weh tun«.

Stefan Wolle ist Insider – ein Jahr nach DDR-Gründung geboren, Studium an der Humboldt-Universität Berlin, Promotion an der Akademie der Wissenschaften der DDR, jetzt Wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums.

Er legte drei umfangreiche Publikationen vor, die dem Untertitel nach auf ein Gesamt-Konzept verweisen könnten:

- Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949–1961, Christoph Links, Berlin 2013 (438 S.), zit. A;

- Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961–1971, Christoph Links, Berlin 2011 (440 S.), zit. B;

- Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Christoph Links, Berlin 1998 (479 S.), zit. C.

Wer die Lektüre hinter sich hat, weiß, dass es ein solches Gesamtkonzept nicht gab. Denn zahlreiche historische Fakten werden mehrfach, oft mit ähnlichen Formulierungen interpretiert. Der Band »Die heile Welt …« – als erster veröffentlicht – enthält außerdem Verallgemeinerungen, die die chronologische Logik sprengen. Aber all das stört wenig.

Für das Quellenstudium insgesamt – Stasi-Akten, Bundesarchivakten, Veröffentlichungen aus der DDR und der alten und neuen Bundesrepublik, Kunstwerke u.ä. – ist Wolle zu danken. Wer wissen will, was Walter Ulbricht und Nikita Sergejewitsch Chruschtschow am 1. August 1961 in dem legendären zweistündigen Telefonat besprochen haben, der kann es hier nachlesen (B, 61ff), der findet auch den Beleg dafür, dass der oft zitierte Ulbrichtsatz vom 15. Juni 1961 »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten« damals keine bewusste Lüge war (59f). Auch die turbulente Geschichte um Fürnbergs »Lied der Partei« (A, 70f) oder auch die um den so genannten Neuen Kurs (246ff) oder um die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« bzw. um die »sozialistische Konsumgesellschaft« (C, 47) werden eine interessierte Leserschaft finden. Nicht zuletzt versteht es Wolle, das politische Hin und Her um damals heftig diskutierte Kulturereignisse, etwa um das Theaterstück »Die Sorgen und die Macht« von Peter Hacks (B, 225-263), anschaulich zu vermitteln.

An vielen Stellen allerdings hätte ich mir einen Hinweis auf die exakte Quelle gewünscht, um dem Eindruck eines unverbindlichen »Erzählerchens« zu entgehen (z.B. A, 121, 263ff, 327, 338 oder auch B, 200, 272, 369, oder auch C, 36, 95, 235, 260). Der Quellenhinweis »nach der offiziellen Statistik« oder auch »nach amtlichen Angaben« reicht nicht aus, weil es auch in der DDR viele Statistiken und viele Ämter gab. Vor allem, wenn Wolle mitteilt, was die SED-Führer ahnten (A, 249) oder was »unter der Hand von der Partei verbreitet wurde« (B, 87), oder was in Moskau hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde (180) oder was für Erich Honecker der »größte Triumph seiner politischen Laufbahn« (C, 73) war, interessiert mich brennend, woher er das weiß.

Schließlich gibt es auch Passagen, in denen seine Darstellungen meinen Quellenkenntnissen widersprechen, etwa dort, wo es um die Begriffsbestimmung des »neuen Menschen« geht (A, 331) oder auch dort, wo die (kurzzeitige) DDR-Jugendpolitik der ersten 60er Jahre als »zarter Hauch« der westlichen 68er Bewegung gedeutet wird (B, 23ff) bzw. als die übliche Unentschlossenheit der SED-Führung (198) oder auch dort, wo ohne Quellenangaben Probleme mit dem Großrechner R300 (166) bzw. mit überraschenden Wendungen in der soziologischen Forschung (182) behauptet werden. In jedem Fall meine ich, es besser zu wissen.

Gleichwohl, an den Quellen liegt es nicht – weder an der heute zur Verfügung stehenden Gesamtheit, noch an der Auswahl des Autors daraus –, dass Zweifel anzumelden sind, was die geschichtliche Relevanz dieses dreibändigen Werkes betrifft. Schlimmer noch, ich muss Stefan Wolle unterstellen, dass ihm seine Leserinnen und Leser nicht wichtig sind. Dafür vier Belege.

Erstens. Er beginnt mit seiner Analyse erst 1949 und reflektiert die Vorgeschichte der beiden deutschen Staaten nicht – nicht den Beginn des Kalten Krieges weltweit, nicht die politischen Ziele der vier Besatzungsmächte und vor allem auch nicht das gesellschaftliche (100 Jahre zuvor entstandene) Konzept, nach dem die DDR funktionieren sollte. Ganz sicher war das kein Versehen. Denn nur auf diese Weise kann er immer wieder von der »angeblichen Hetze des Klassenfeindes« (A, 14), von dem »angeblichen Bildungsprivileg der bürgerlichen Intelligenz« (134), vom »überflüssigen Klassenkrieg« (330), von der vorgeblichen Kultur der Arbeitsklasse (B, 25) oder auch von den »propagandistischen Pappkameraden des Kalten Krieges« (C, 56) sprechen. So, als hätte es Klassenkampf, Bildungsprivileg oder den kalten Krieg nicht wirklich gegeben. Bewusst in die Irre geführt betrachte ich mich auch an den Stellen, an denen mir Zweideutigkeiten zugemutet werden, obwohl Eindeutiges bekannt ist. So hätte etwa das Ende der DDR aus ökonomischer Sicht »alle Züge eines betrügerischen Bankrotts getragen« (265). Oder: die Meldungen im August 1968 hätten den Eindruck erweckt, »dass auch Kampfeinheiten der Nationalen Volksarmee auf dem Territorium der Tschechoslowakei operieren würden« (B, 17). Wolle weiß gewiss, dass die DDR bis zuletzt kreditwürdig war (u.a. Most 2009, 11) und dass die Soldaten der NVA nicht direkt an der Zerschlagung des Prager Frühlings teilgenommen haben, und bevorzugt deshalb verdächtigende Formulierungen.

Zweitens. Einerseits ist für Wolle die kommunistische Vision – Gerechtigkeit durch Überwindung der Klassenschranken, insofern durch Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln –, für die im 20. Jahrhundert Millionen Menschen lebten und auch starben, bestenfalls geeignet, abfällige Urteile über die »kommunistische Heilserwartung« (A, 85) und die zugehörige Philosophie (91) zu fällen. Dabei verwendet er gern einprägsame, auch geheimnisvolle Bilder. Die DDR sei nicht nur ein Unrechtsstaat gewesen, sondern eine »historische Missgeburt aus asiatischer Despotie und preußischem Militarismus« (40), die »in ihrem vierzigjährigen Lebensgang und in ihrem Nachleben an den missgestalteten Wechselbalg« erinnert, der nur durch eine gutmütige Fee Schönheit verliehen bekam. Und zwar sowohl zu Beginn seines Lebens, als auch auf dem Totenbett, was die Trauergemeinde nun zu reichlich Tränen veranlassen würde (408f). Aber auch die böse Fee hätte ihre Hand im Spiel gehabt. So sei die Orientierung auf das »sogenannte Volkseigentum« (41) einer von fünf Flüchen gewesen, die die böse Fee im Oktober 1949 in die Wiege des neuen Staates gelegt hätte. In den 60er Jahren dagegen war es keine Fee, sondern der Weltgeist, der aus sieben Elementen einen geheimnisvollen Zaubertrank gemixt hätte (B, 110ff). Und so weiter. Andererseits mischt sich in die Berichterstattung über den Prager Frühling plötzlich die Trauer über die niedergewalzten »emanzipatorischen und freiheitlichen Wurzeln der kommunistischen Idee« (22); in die Beschreibung der lähmenden Trostlosigkeit der wissenschaftlichen Weltanschauung plötzlich die Erinnerung an das »Feuer der frühen Texte, etwa des ›Kommunistischen Manifestes‹ von 1848« (A, 88); in das Reflektieren des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (NÖSPL) Anfang der 60er Jahre plötzlich das Bedauern, dass damals der Mut zur realen Utopie fehlte (B, 154) oder in die Verurteilung der Mauer als Bauwerk der »zynischen Gewalt« (92) plötzlich die Erkenntnis, dass Mauern auch schützen können, denn »es gab nicht wenige, die davon träumten, zum humanistischen Wesenskern der kommunistischen Idee zurückkehren zu können […]« (A, 403). Fühlt sich Stefan Wolle etwa der DDR bzw. dem Sozialismus mehr verbunden, als er zugeben möchte? Oder meint er, es käme bei der Lektüre seiner Schriften nicht so sehr auf das Verstehen an?

Drittens. Breiten Raum nimmt die Frage ein, ob man zwischen der Politik im Hitler-Deutschland und der DDR-Politik ein Gleichheitszeichen setzen darf. Wolle tut es und tut es auch nicht und mutet der Leserschaft viel Verworrenes zu. Aus seiner Sicht ist das propagierte Feindbild der SED-Anhänger, das durch ständige Enthüllungen über alte Nazis in hohen Positionen des Adenauerstaates gespeist wurde, die Ursache dafür, »dass auch intelligente, gebildete und von humanistischem Pathos erfüllte Menschen blind und taub [waren] für die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen dem […] staatlich gelenkten Massenterror in beiden Systemen.« (B, 57f). Wohlgemerkt, er spricht nicht von der Realität, sondern von dem Bild, das die SED von ihr malte. Und die Menschen, die darauf hereinfielen, waren auch nicht vom Humanismus erfüllt, sondern vom humanistischen Pathos. Jedenfalls hätte es nicht der Totalitarismusdoktrin bedurft, um die Parallelität zwischen beiden Systemen wahrzunehmen (ebd.). Die Bevölkerung Halles hat – verstehe ich Wolle richtig – wohl nicht einmal gemerkt, dass 1945 das Ende der ersten und der Beginn der zweiten totalitären Herrschaft stattfand. Denn die Beschreibung des 17. Juni 1953 lautet: »Am Nachmittag versammelten sich ungefähr 60 000 Menschen. Niemals hat Halle eine größere Demonstration gesehen. Nach zwanzig Jahren totalitärer Herrschaft hat sich das Volk erhoben, nimmt die Geschicke in die eigene Hand. Es war wie ein Rausch – und noch heute fallen auf den Fotos die lachenden Gesichter auf.« (A, 267) Wüsste man nicht, dass Wolle damals erst zwei Jahre alt war, könnte man denken, er beschreibt eigenes Erleben. Eine Quelle dafür gibt er nicht an, aber er begründet, warum es klug war, alte Nazis in bundesdeutschen Behörden einzusetzen. »Adenauer war davon überzeugt, dass diese Personenkreise in die Demokratie integriert werden müssten. Und der Erfolg schien ihm Recht zu geben. Die Karrierebeamten, Diplomaten und Juristen dienten der Demokratie so treu und gewissenhaft, wie sie vorher Hitler gedient hatten.« (B, 134). In der DDR allerdings sei ein »Fall Globke« undenkbar gewesen. »Das war man dem offiziell ausgestellten Antifaschismus schuldig« (138), der sich offensichtlich (?) vom tatsächlichen Antifaschismus unterschied.

Wer aus all dem schließt, dass Wolle eine Gleichsetzung zwischen Hitler-Diktatur und SED-Diktatur befürwortet, wird dennoch eines Besseren belehrt. Nur auf der moralischen Ebene ließen sich Ähnlichkeiten erkennen, auf der ökonomischen, politischen und ideologischen nicht. »Schließlich – und das ist der entscheidende Punkt – gab es in der DDR weder rassisch motivierte und begründete Verfolgungen noch industriell organisierten Massenmord« (C, 97). Wie er diesen entscheidenden Punkt mit den genannten Ebenen und den vorherigen Aussagen in Verbindung bringt, bleibt sein Geheimnis.

Viertens. Auch nach dem Lesen der fast 1360 Seiten bleibt unklar, warum Wolle diese Bücher geschrieben hat. Hält er nach wie vor ein alternatives Gesellschaftskonzept für notwendig, interessiert er sich also deshalb für die Ursachen des Scheiterns der DDR? Möchte er gewissermaßen mit der Weisheit einer Niederlage für nachfolgende Generationen festhalten, was sie nicht noch einmal tun sollten? Oder möchte er im Rahmen der pauschalen und in den Mainstream passenden Abwertungen – im Interesse historischer Gerechtigkeit – auf erhaltenswerte Aspekte im 40-jährigen Leben der DDR aufmerksam machen? Auf solche und ähnliche Motive verweisen zumindest Autorinnen und Autoren, die seit 1990 ihre Erfahrungen und ihr Wissen über dieses »verlorene Land« (Engler 2000) öffentlich gemacht haben. Meist wenden sie sich mit einem Vor- oder Nachwort direkt an die potenzielle Leserschaft. Wolle hält das nicht für notwendig, betont lediglich am Ende seiner Ausführungen, dass der Herbst 1989 »die glücklichste Stunde der deutschen Geschichte [war]. Um dieser Stunde und ihrer Akteure willen lohnt es sich, die Erinnerungen an das Leben in der DDR wachzuhalten.« (C, 446)

Ich gehörte zu den Hunderttausenden, die am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz für eine andere DDR demonstrierten, und ich fühlte mich im Einklang mit Friedrich Schorlemmer, Christa Wolf, Stefan Heym und vielen anderen, die dort ins Mikrofon oder auch direkt mit mir sprachen. Muss ich nun befürchten, dass Wolle seine Analyse für solche wie mich veröffentlichte? Erst von ihm habe ich erfahren, dass sich auf dieser Kundgebung, von Kulturschaffenden und ihrem Wunsch nach Gewaltlosigkeit geprägt, die »Kräfte der Beharrung« und die »Volksbewegung für bürgerliche Demokratie, Marktwirtschaft und nationale Einheit« gegenüberstanden und dass erstere desorientiert zurückblieben (443). Gleichzeitig meint er, dass »die Teilnehmer weder in Reden und Sprechchören noch in ihren Spruchbändern und Plakaten das einige deutsche Vaterland« (94) einklagten. Wieso dann Volksbewegung für nationale Einheit? Wiederum gleichzeitig ist zu lesen, dass der Aufbruch im Herbst 1989 von etwa 40-jährigen Menschen getragen wurde, die den Geist des demokratischen Sozialismus bewahrt und konserviert hätten, allerdings einen Geist, der schnell in Staub zerfallen sei (B, 418f). Nein, so darf ein verantwortungsbewusster Autor nicht mit der glücklichsten Stunde der deutschen Geschichte umgehen.

Warum in keinem der drei Bände von der Sportpolitik der DDR die Rede ist, hat sich mir nicht erschlossen. Die internationalen Erfolge auf sportlichem Gebiet ließen sich doch mit dem Doping-Hinweis oder auch nur mit dem Doping-Verdacht trefflich relativieren. Vielleicht fühlt sich Wolle auf diesem Gebiet nicht informiert genug. Andererseits: Auf dem Gebiet der DDR-Frauenpolitik bzw. des sozialistischen Patriarchats ist er erwiesenermaßen auch nicht informiert genug und äußert sich trotzdem (B, 219ff; C, 232-242). Bei diesem Thema, konkret bei der Behauptung, dass DDR-Mütter den kleinsten Schnupfen ihrer notorisch anfälligen Krippen- und Kindergartenkinder genutzt hätten, um sich selbst krankschreiben zu lassen (241), war ich versucht, die Lektüre des Werkes einzustellen. Und ganz sicher bin ich nicht die einzige Leserin, die hier verleumdet wird.

Dass die DDR tot ist, weiß Stefan Wolle. Ich frage mich, was treibt einen Mann in den besten Jahren dazu, einen solchen Nachruf zu schreiben. Er ist gut ausgebildet worden und befindet sich mit seiner politischen Haltung im Mainstream, muss nach meiner Vermutung weder Arbeitslosigkeit noch Armut noch öffentliche Diffamierung befürchten. Er könnte doch mit großer Gelassenheit über die DDR nachdenken. Nun gut, er ärgert sich über die Tränen der Trauergemeinde (A, 408), vielleicht weil er auf Grund seiner Biographie keinen Grund für Tränen sieht. Akzeptiert. Vielleicht ärgert er sich auch über das ungebrochene Interesse an »Ostschrippen« (vgl. C, 268) oder über die »erstaunlich gute Presse« (55), die Erich Honecker in den 80er Jahren im Westen erhielt. Aber all das reicht aus meiner Sicht nicht aus, um wie besessen auf einer Leiche herumzutrampeln. Oder hat er Angst, dass da noch Leben drin stecken könnte? Und warum hat er keine Angst, sich lächerlich zu machen?

Selbst über so belanglose Themen wie die TV-Sendung »Mit dem Herzen dabei« kann er bis heute nicht sachlich distanziert sprechen. »Zeremonienmeister war ein Entertainer namens Hans-Georg Ponesky, dessen Markenzeichen sein ewiges schmieriges Grinsen und seine salbungsvolle Stimme waren« (B, 180). Nichts als Abfälligkeit auch für die DDR-Kinderpolitik, bis hin zu dem Kinderlied »Kleine weiße Friedenstaube« (114) und die zahlreichen Kindereinrichtungen (A, 165), die zum Teil bis heute in den ostdeutschen Ländern existieren und Anerkennung genießen. Bunte Farbtupfer im Einheitsgrau seien allein die vielen Fahnen und Transparente gewesen, die den Aufbau des Sozialismus agitatorisch begleiteten (B, 40). Auch die »Bilderbuchrevolution« in Kuba einschließlich des legendären Kampfes in der Schweinebucht (36) – alles wird bestenfalls mit einem arroganten Lächeln bedacht.

Wie nun umgehen mit einer solchen Publikation? Stefan Wolle wird oft mit dem Satz zitiert, er wisse, dass seine Veröffentlichungen für manche ein Ärgernis seien. Für mich nicht. Ich kann mich über Stefan Wolle nicht ärgern, weil er mir leid tut. Er darf die DDR weder verklären noch verteufeln, weil das seinem gegenwärtigen Status schaden könnte. Er kann aber auch den schmalen Pfad dazwischen nicht wählen, weil er dazu – wie jener Lehrer in Sachsen – auch sein eigenes Leben infrage stellen müsste. Zu diesem schmerzhaften Prozess ist es offensichtlich noch nicht gekommen. Vielleicht fehlen ihm auch die Freundschaften, die diesen Prozess unterstützen können. So bleibt uns ein zerrissener Text, in dem Alltag und Herrschaft in der DDR nicht im realen Zusammenhang dargestellt werden, sondern als zwei unterschiedliche Bereiche, von unterschiedlichen Personengruppen getragen. Hier die Klugen, wie Stefan Wolle, die im Alltag zurechtkommen mussten, da die Dümmlichen, die die Macht hatten.

 

Literatur

Engler, Wolfgang, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 2000

Most, Edgar, Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals. Gibt es einen Dritten Weg?, aufgeschrieben von Katrin Rohnstock und Frank Nussbücker, Berlin 2009

Schreiber, Hermann, »Let’s sing together«, in: Spiegel 42/1969

 

© DAS ARGUMENT 309/2014, 560-565