TAFTA: Das Kapital gegen den Rest der Welt

Wer erinnert sich noch an das MAI? Das Multilaterale Abkommen über Investionen, gestartet von OECD und Europäischer Union im Jahre 1995, scheiterte drei Jahre später – weil die Verhandlungen zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurden, aber nicht geheim blieben. Was durchsickerte, reichte aus, um einen Proteststurm zu entfachen. Am Ende weigerten sich einige europäische Länder, Frankreich voran, über das Abkommen zu verhandeln.[1] Ein Fiasko, das den beteiligten Akteuren leider keine Lehre war. Sie machen weiter, immer nach dem Motto: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Beim nächsten Mal schaffen wir es, die Utopie der flachen Weltscheibe zustande zu bringen – den endlich eingeebneten Raum der globalen Konkurrenz.“

TAFTA und TTIP[2] – unter diesen beiden Kürzeln ist nun die neue transatlantische Freihandelszone im Anmarsch: „Sie wird Europa und Nordamerika einen neuen Aufschwung bescheren, einen sanften Weg aus dem tiefen Tal der Stagnation und Depression.“ So verkündet es die EU-Kommission, so predigt es Kanzlerin Merkel, so hat es Präsident Obama Anfang dieses Jahres versprochen. Warum aber gerade jetzt?

Die Antwort liegt auf der Hand: Die ehrgeizige Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) kommt seit zwölf Jahren nicht vom Fleck. Auch der jüngste WTO-Gipfel in Bali schien lange Zeit am hartnäckigen Widerstand Indiens zu scheitern. Am Ende einigten sich die fast 160 Staaten dann doch auf das erste große Deregulierungsabkommen seit fast 20 Jahren. Das sogenannte Bali-Paket umfasst Handelserleichterungen, den Abbau von Agrarsubventionen und einige dürre Hilfen für Entwicklungsländer.

Doch angesichts der Unkalkulierbarkeit der WTO betreiben die großen Akteure der Weltpolitik ihre Neuordnung des Welthandels längst auf anderem Wege. Der Plan einer transamerikanischen Freihandelszone liegt derzeit zwar auf Eis, aber umso mehr ruhen die Hoffnungen auf TPP, der transpazifischen Freihandelszone, zu der neben den USA elf weitere Anrainerländer des pazifischen Raumes gehören, und auf TAFTA, dem Gemeinschaftsprojekt von USA und EU.

Geht es nach den Erfindern, wird aus TAFTA mehr als die größte Freihandelszone der Welt mit über 800 Millionen Kunden auf beiden Seiten des Atlantik (oder rund einer Milliarde, wenn man die Nordamerikanische Freihandelszone, NAFTA, und die Beitrittskandidaten der EU hinzunimmt). Es wird ein transkontinentaler Binnenmarkt, der Atlantik zum mare nostrum, zum Binnensee Transatlantiens. Mehr als ein Drittel des Welthandelsvolumens wird hier abgewickelt, gut die Hälfte des globalen Bruttosozialprodukts wird hier erwirtschaftet – und dank TAFTA soll das Ganze endlich wieder wachsen. Allerdings wird dieses Wachstum selbst nach den optimistischen (und methodisch höchst fragwürdigen) Prognosen, die die EU-Kommission in Auftrag gegeben hat, höchst bescheiden ausfallen – kaum 0,5 Prozent zusätzlich pro Jahr. Das sind einige hunderttausend Jobs, wenn es gut geht.Wie die Geschichte ähnlicher Freihandelsabkommen, etwa der NAFTA, zeigt, muss es aber nicht gut gehen. Am Ende kann sehr wohl ein Nettoverlust an Beschäftigung herauskommen – wegen absehbarer Rationalisierungseffekte.

Harmonisierung nach unten – unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Um Zollpolitik, um Zollsenkungen nämlich, geht es in diesen Verhandlungen auch, aber nur am Rande. Das Zollniveau befindet sich im transatlantischen Handel bereits auf historisch niedrigen Niveau: zwischen drei und sieben Prozent des Handelsvolumens. Werden diese Zölle aufgehoben, ist das zwar nett für die Konsumenten hüben und drüben, aber kaum geeignet, den versprochenen Boom auszulösen. Weit wichtiger sind die nichttarifären Handelshemmnisse, die Handelsbarrieren hinter den Zollgrenzen, die die Freihändler seit jeher auf die Bäume treiben. Als Handelshemmnis gilt ihnen alles – von Verboten über Kontingente bis hin zu technischen, Gesundheits-, Sicherheits-, Umweltschutz- und Hygienevorschriften. Da die einschlägigen Regularien zwischen den USA und der EU höchst unterschiedlich sind, müssen sie angeglichen werden. Aus Sicht überzeugter Freihändler kann das natürlich nur der kleinste gemeinsame Nenner sein. Doch die EU-Kommission hat versprochen, dass es einen Abbau von Sicherheits-, Sozial-, Gesundheits- und Umweltstandards in Europa nicht geben soll. Dennoch soll am Ende das gleiche gelten wie auf dem europäischen Binnenmarkt: Was in einem Land erlaubt ist, ist in allen Ländern erlaubt.

Die US-Industrien drängen bereits auf die europäischen Märkte – mit Produkten, die hier aus guten Gründen verboten sind, wie Genmais, Chlorhähnchen, Hormonfleisch. Aus ihrer Sicht geht es um Abbau all jener staatlichen Vorschriften und Kontrollen, die es auf dem US-amerikanischen Binnenmarkt nicht oder nicht in dieser Form gibt. Für die Europäer geht es dagegen just um die Erhaltung jener mühsam erworbenen Standards – die Amerikaner sollen sich dem fast überall höheren Niveau der europäischen Marktregulierung anpassen. Also bleibt nur die „Harmonisierung“, die aber schon in Europa Jahrzehnte gedauert hat und noch längst nicht abgeschlossen ist.

Die Ironie der Geschichte: In den USA gelten im Moment noch striktere Finanzmarktregeln als in Europa. Wenn alle Dienstleistungssektoren „liberalisiert“ werden sollen, gilt das selbstverständlich auch für die Finanzdienstleistungen. Folglich steht uns eine seltsame Allianz der Finanzmarktderegulierer ins Haus, die die gerade erst begonnene Reregulierung von Banken und Finanzmärkten mit Elan wieder zurückdrehen werden – die Lobbyisten der britischen „Finanzindustrie“ an der Spitze der Bewegung.

Die erste Verhandlungsrunde ging bereits im Sommer über die Bühne, noch bevor die NSA-Abhörpraktiken ruchbar wurden. Nach kurzer Empörung, garniert mit publikumswirksamen Drohungen, die Verhandlungen auszusetzen, ging im November in Brüssel die zweite Verhandlungsrunde ungestört vonstatten, die dritte Runde in Washington im Dezember. Im Januar folgt ein Spitzentreffen der Chefunterhändler, dann soll es im Monatstakt weitergehen, um möglichst vor dem Herbst 2014 zum Abschluss zu kommen – bevor die jetzige EU-Kommission ausscheidet und die Amerikaner einen neuen Kongress wählen. Dieser irrwitzige Zeitplan wird jedoch selbst dann nicht zu halten sein, wenn Parlamentarier, Wahlvolk und Medien nicht dazwischen funken.

Damit alles hübsch ruhig bleibt, laufen die Verhandlungen bis jetzt unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit, im unguten neuen Stil der Geheimdiplomatie mit Ansage: Man weiß zwar, dass, wo und wann verhandelt wird, man weiß, wer da am Tisch sitzt, aber die Leute, die es wirklich angeht auf beiden Seiten des Atlantik, also: wir alle sollen nicht erfahren dürfen, worüber da im Detail verhandelt wird. Selbst die Eingeweihten, wie der grüne Europa-Abgeordnete Yannik Jadot, eigentlich als Berichterstatter des Europäischen Parlaments dazu bestellt, die Verhandlungen zu kontrollieren, fühlen sich düpiert. Denn über die wenigen Sitzungen, an denen sie teilnehmen durften, haben sie ebenso striktes Stillschweigen zu wahren wie die beteiligten EU-Beamten.

Schiedsgerichte als neoliberale Lieblingsidee

Nur ein Bruchteil der internen Papiere ist bisher durchgesickert, einige wenige Positionspapiere hat die EU-Kommission im Juli 2013 veröffentlicht. Was wir immerhin wissen, dank der Aufmerksamkeit einiger NGOs wie Corporate Europe Observatory: Es gab bislang acht Treffen mit Vertretern von NGOs wie Verbraucherschutz- und Umweltschutzverbänden. Dem stehen allerdings mehr als 119 Treffen mit Konzernvertretern, also Berufslobbyisten der Großkonzerne bzw. Unternehmerverbände, gegenüber. Man weiß bzw. vermutet, dass eine bunte Truppe von gut 600 Konzernvertretern regelmäßig zu den Verhandlungsrunden hinzugezogen wird; einige rühmen sich bereits ihrer Mitautorschaft. Das ist in Brüssel, nach Washington die zweite Hauptstadt des weltweiten Lobbyismus, seit jeher der Brauch.

Dank der Lobbyisten steht auch eine der 1998, durch den Kampf gegen das MAI gescheiterten Lieblingsideen der Liberalisierungsfreunde wieder auf der Agenda: die Idee der Schiedsgerichte.[3] Diese dürfen zum Schutz der Investorenrechte die beteiligten Staaten in die Schranken weisen, und zwar auf allen Ebenen, bis hinunter zur Gemeinde. Erfunden wurden solche Schiedsgerichte, weil auf den gewöhnlichen Rechtsweg in zahlreichen Diktaturen und failed bzw. failing states der sogenannten Dritten Welt kein Verlass mehr war und ausländische Unternehmen reihenweise enteignet bzw. ausgeplündert wurden. Nur was soll dergleichen in Europa oder den USA, wo die Gerichte sehr wohl funktionieren und niemand das Klagerecht ausländischer Unternehmen in Frage stellt?

Die Gerichte der Gastländer seien den ausländischen Investoren nicht gewogen, heißt es. Mag sein. De facto ist der Ruf nach überstaatlichen Schiedsgerichten, in denen Wirtschaftsanwälte statt Richtern das Sagen haben, ein Affront und eine Herausforderung der Souveränität aller beteiligten Staaten. Große Konzerne, private Vereinigungen privater Geschäftemacher, maßen sich an, eine Sondergerichtsbarkeit für ihre Privatinteressen zu verlangen, die es ihnen erlauben soll, gegen jede Regelung, jede Gesetzgebung eines Staates, die ihnen nicht passt, milliardenschwere Schadensersatzklagen anzustrengen. Die Ansprüche von Investoren sollen höheren Rang und höhere Verbindlichkeit erhalten als jede nationale und supranationale Gesetzgebung und Rechtsprechung. Das ist fürwahr ein starkes Stück. Doch man soll sich nicht täuschen: Diese Schiedsgerichtsbarkeit blüht seit Jahr und Tag unter dem Mantel der Welthandelsorganisation. Die Zahl der Verfahren steigt rapide, wie die UNCTAD zu berichten weiß. Und eine kleine Zahl international agierender Anwaltskanzleien verdient sich damit goldene Nasen. Klar, innerhalb einer Freihandelszone fallen die Zölle, innerhalb eines Binnenmarkts gelten im Prinzip die gleichen Spielregeln für alle. Für alle, die draußen bleiben müssen, gilt das jedoch nicht. Sprich: für den großen Rest der Welt.

Die Außenzölle der TAFTA richten sich daher gegen den Rest der Welt, und der wird sich wohl oder übel dem neuen Giganten anpassen müssen. Nur wenige Schwergewichte unter den Outsidern können auf Kulanz hoffen. In erster Linie betrifft das den Exportweltmeister China, der weder transpazifisch noch transatlantisch dabei ist. Für die übrigen BRICS-Staaten und für Japan, vor allem aber für sämtliche Länder des globalen Südens ist die Konfrontation mit der neu formierten Oberliga der Weltwirtschaft unvermeidlich – der „ersten Welt“ in Gestalt von TPP und TAFTA. Da „zweite“ und „dritte Welt“ jedoch kaum gemeinsam agieren, bleibt ihnen nur die Unterwerfung in bilateralen Handelsverträgen.

Frisches Wasser auf die alten Mühlen von Attac

Für die Globalisierungskritiker kommt TAFTA dagegen wie gerufen, für ihre Speerspitzen wie Attac ist das geplante Freihandelsabkommen frisches Wasser auf die alten Mühlen. Am 12. und 13. Dezember 2013 trafen sich die europäischen NGOs, um ihre Kampagnen zu koordinieren, ein erstes Treffen mit den TAFTA/TTIP-Gegnern aus den USA ist für Januar geplant.[4] Um dieses Riesenrad noch aufzuhalten bzw. umzulenken, braucht es jedoch mehr als ein paar Demonstrationen.

Die Europäer haben dabei eine Menge zu verlieren; hier sollte und müsste sich der Widerstand besonders formieren. Konsumenten wie Produzenten, Arbeitnehmer, Umweltschützer und ihre Verbände werden sich der Herausforderung stellen müssen – zusammen mit den europäischen Industrie- und Agrarverbänden, die die ungebremste US-Konkurrenz zu Recht fürchten. Die Alternative lautet, sich von den Konzernen überrollen zu lassen und in der schönen neuen Welt von Transatlantien aufzuwachen.

Im Moment sind es jedoch die US-amerikanischen Verbraucherschützer, die am lautesten trommeln.[5] Sie hoffen darauf, mit Hilfe der Europäer ihren eigenen Konzernen und Wirtschaftslobbys ein wenig marktwirtschaftliche Mores lehren zu können. Aber wer bringt die EU-Kommission dazu, im wohlverstandenen Eigeninteresse der EU tatsächlich hart zu verhandeln?

Zweifel sind hier zumindest angebracht. Zu den Widerständlern gehören daher zu Recht nicht wenige Europarlamentarier, die sich überfahren fühlen. Dazu gehören auch die Eurokraten, eine der wenigen aufgeklärten und hoch qualifizierten Eliten, die Europa noch hat. Auch sie können nicht froh sein über die Aussicht, von Konzernstrategen wie dumme Jungs behandelt zu werden und die mühsam ausgehandelten Regularien des Binnenmarkts, die Arbeit von Jahrzehnten, mit ein paar Federstrichen vom Tisch gewischt zu sehen. Insofern besteht hier durchaus die Chance zu erstaunlichen Allianzen des Widerstands.

Was allerdings pessimistisch stimmen muss: Die erste Schlacht um TAFTA/TTIP ist längst verloren. Denn die Verhandlungen zwischen der EU und Kanada um ein ganz ähnliches Abkommen namens CETA sind bereits abgeschlossen. Zwar sind die Vereinbarungen noch geheim, an einem Vertragstext wird noch gebastelt, aber große Änderungen dürfen wir nicht mehr erwarten. Nach allem, was wir wissen, haben sich weder die EU-Kommission noch die kanadische Regierung um die Bedingungen der EU-Parlamentarier geschert: Vorrang für den gewöhnlichen Rechtsweg und für die nationale Gerichtsbarkeit vor dubiosen Schiedsgerichten. Deshalb bleibt dem EU-Parlament gar nichts anderes übrig, als den Vertrag schon wegen der vorgesehenen Schiedsgerichtsbarkeit insgesamt abzulehnen. Sollte CETA dagegen in Kraft treten, während die Verhandlungen zu TAFTA/TTIP noch laufen, hätten die Amerikaner einen entscheidenden Vorteil errungen. Über ihre kanadischen Standorte und Töchter können die US-Konzerne dann jederzeit zu gleichen Bedingungen auf den europäischen Markt vordringen wie kanadische Unternehmen – umgekehrt wäre das schon erheblich schwieriger. Eigentlich bräuchten die Amerikaner TAFTA dann gar nicht mehr.

 


[1] Vgl. Fritz R. Glunk (Hg.), Das MAI und die Herrschaft der Konzerne, München 1998.

[2] Trans-Atlantic Free Trade Agreement (TAFTA) und Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP).

[3] Vgl. Pia Eberhardt, Konzerne versus Staaten: Mit Schiedsgerichten gegen die Demokratie, in: „Blätter“, 4/2013, S. 29-33.

[4] Vgl. den offenen Brief von Attac Deutschland an alle Abgeordneten des neu gewählten Deutschen Bundestags vom 8.11.2013 und die Übersicht über Aktivitäten und Publikationen von Attac und anderen Nichtregierungsorganisationen auf www.attac-netzwerk.de und www.labournet.de.

[5] Vgl. den Beitrag von Lori Wallach, TAFTA – die große Unterwerfung, in: „Le Monde diplomatique“, 8.11.2013.

 

(aus: »Blätter« 1/2014, Seite 5-9)