Politiklabor Ostdeutschland

Ein Jahr nach der letzten Bundestagswahl steht die Kanzlerin im Zenit ihrer Macht. Gerade wieder, zum vierten Mal in Folge, vom Wirtschaftsmagazin „Forbes“ zur mächtigsten Frau der Welt gekürt, hat Angela Merkel von ihren nationalen Gegnern nichts zu fürchten. Die SPD, selbsternannter „Motor der Regierung“ (Sigmar Gabriel), steckt wie festgefroren bei 25 Prozent der Stimmen, eine eigene Kanzlerperspektive nicht in Sicht. Derweil sind Grüne und Linkspartei hoch zerstritten, von konstruktiver Zusammenarbeit in der Opposition weit entfernt.

Voreilige Kommentatoren haben daher errechnet, dass die Kanzlerin, nachdem sie mit Helmut Schmidt bereits den am längsten regierenden Sozialdemokraten überholt hat, am 22. Dezember 2019 auch Konrad Adenauer hinter sich lassen würde.[1] Die Agenda der Jahre 2005 bis 2020 wäre dann faktisch die ihre gewesen. Und wer sollte die gerade erst 60 Gewordene – allen Spekulationen über ihren vorzeitigen Abgang zum Trotz[2] – daran hindern, es Adenauer 2017 mit vier Wahlsiegen gleich zu tun und damit endgültig zu einer historischen Figur zu werden?

Die Opposition offensichtlich nicht: Rot-Rot-Grün ist im Bund noch immer keine realistische Perspektive. Umso mehr Bedeutung kommt, als potentiellen Probeläufen, den kommenden Landtagswahlen zu. Genauer gesagt: speziell der in Thüringen am 14. September. Während bei der am selben Tag stattfindenden Wahl in Brandenburg alles für eine Fortsetzung von Rot-Rot unter Dietmar Woidke (SPD) spricht und in Sachsen CDU-Ministerpräsident Stanislaw Tillich bereits am 31. August mangels Wechselstimmung im Amt bestätigt werden dürfte, könnte in Thüringen mit Bodo Ramelow ein Linksparteimitglied zum ersten Mann im Lande gewählt werden – eine Premiere mit Strahlkraft.

AfD rein – FDP raus

Erinnern wir uns: Bereits bei der letzten Wahl, im Jahr 2009, hätte es für Rot-Rot gereicht. Obwohl Ramelow auf den Posten des Ministerpräsidenten zu verzichten bereit war, scheiterte die Koalition damals an Unstimmigkeiten zwischen Landes-SPD und -Linkspartei – wie auch am Veto der Bundes-SPD kurz vor den Bundestagwahlen.

Diesmal sieht die Lage anders aus: Die chancenlose Thüringer SPD hat an einer Fortsetzung der Großen Koalition unter Landesmutter Christine Lieberknecht ersichtlich kein Interesse. Alles spricht daher für die Annahme von Rot-Rot durch eine Mitgliederbefragung nach dem Vorbild der Bundes-SPD. Und auch aus Berlin kommt diesmal kein Einspruch: Denn längst hat die Parteispitze – nolens volens – begriffen, dass sie ohne die Linkspartei letztlich keine Chance auf die Kanzlerschaft im Bund haben wird.

Zumal wenn sich die zweite Tendenz durchsetzt, dass nämlich die Alternative für Deutschland die FDP ersetzt, erst im Osten und dann im Rest der Republik. Tatsächlich spricht bei den drei Ost-Wahlen alles für den Einzug der AfD, aber fast nichts für den der FDP.

In Sachsen würden die Liberalen zudem ihre letzten Minister verlieren, ebenfalls ein Ergebnis mit Signalwirkung. Denn: Ein dauerhaftes Ausscheiden der Liberalen aus der Bundespolitik würde die koalitionäre Tektonik dieser Republik grundlegend verändern. Die FDP, klassischerweise in der Mitte des Parteienspektrums angesiedelt, ist koalitionsfähig nach rechts und links – und somit potentielle Regierungsalternative für Union und SPD. Die AfD steht dagegen eindeutig rechts der Union und ist damit allein deren potentieller Koalitionspartner. Käme die FDP auch 2017 nicht in den Bundestag, schiede die von SPD-Chef Gabriel präferierte Ampel endgültig aus. Der Erfolg der AfD – zu Lasten der FDP – ist also keine existenzielle Frage für die Union, sondern für die SPD.

Von Franz Josef Strauß stammt das große Wort, dass es niemals eine Partei rechts der Union geben dürfe. Heute hingegen, so die Ironie der Geschichte, könnte die neue „Rechtspartei“ namens AfD nicht das Verhängnis der Union, sondern eine weitere Koalitionsoption bedeuten. Bereits in Sachsen wird die CDU voraussichtlich zwischen Schwarz-Grün und Schwarz-Dunkelschwarz wählen können (wenn sie nicht doch für Schwarz-Rot votiert). Die Bundes-CDU dürfte hier (noch) die Koalition mit der besonders reaktionären Sachsen-AfD zu verhindern wissen. Aber schon 2017 könnte sich die Lage anders darstellen, wenn nämlich der „Igitt-Faktor“ der AfD bis dahin abgeklungen wäre. Dann hätte die Union plötzlich einen weiteren potentiellen Partner. Und dass sie notfalls auch mit Rechtspopulisten koaliert, hat sie im Fall der Schill-Partei in Hamburg längst hinreichend bewiesen.

Somit vergrößert der Erfolg der AfD allein die Regierungschancen von CDU/CSU und minimiert jene der SPD. Unterstellt man, dass es 2017 wieder nicht für Rot-Grün reichen wird, bliebe der SPD nur noch eine Chance für die Kanzlerschaft: Rot-Rot-Grün.

Wohin wollen die Grünen?

Insofern kommt es auch und nicht zuletzt auf die Grünen an. Auch in dieser Hinsicht spielen die Wahlen im Osten eine wichtige Rolle bei der koalitionären Standortbestimmung. Während die grüne Spitzenkandidatin in Sachsen, Antje Hermenau, keinen Hehl aus ihrer Sympathie für Schwarz-Grün macht, ist die thüringische Landtagsfraktion in ihrer Haltung gegenüber Rot-Rot-Grün noch unentschlossen. Umso entschlossener ist dagegen die aus Thüringen stammende Chefin der Bundestagsfraktion Katrin Göring-Eckardt: Sollte es für Rot-Rot zu einer Mehrheit reichen, stünden die Grünen nicht als „Ersatzreifen“ für eine rot-rote Koalition in Thüringen zur Verfügung, nicht einmal bei sehr knappen Mehrheitsverhältnissen.[3]

Die Stoßrichtung ist klar: Göring-Eckardt bringt – als Speerspitze des schwarz-grünen Lagers – damit ihr Desinteresse an einem rot-rot-grünen Experiment zum Ausdruck. Faktisch kommt es in Ostdeutschland in der grünen Gretchenfrage – Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün – zum Schwur: Wer die behauptete Äquidistanz gegenüber CDU und Linkspartei tatsächlich ernst nimmt, müsste nach dem schwarz-grünen Experiment in Hessen ein rot-rot-grünes Experiment in Thüringen wagen, schon um sich damit Koalitionschancen in beide Richtungen offen zu halten. Dass es mit dem Interesse an Rot-Rot-Grün im Realolager jedoch nicht weit her ist, demonstrieren zahlreiche baden-württembergische Grüne um die stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Kerstin Andreae, eine der engsten Vertrauten von Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

In ihrem neuen marktliberalen Bekenntnispapier lautet der zentrale Satz: „Es ist eben nicht die Politik, die die ökologische Modernisierung umsetzt“. Eine „grüne Politik der Freiheit“ bedeute daher, „Freiräume am Markt zu erhalten“. Deshalb müssten die Grünen „wieder mutiger werden und Deregulierung und Entbürokratisierung nicht mehr nur mit spitzen Fingern anfassen“. In Baden-Württemberg habe schließlich „der Markenkern der Grünen Partei für den Erfolg bei den letzten Wahlen gesorgt: Ökologie und Ökonomie lassen sich versöhnen. [...] Besser noch: Mit Ökologie lässt sich der Wohlstand mehren und die natürliche Grundlage bewahren.“[4]

Die Botschaft dieser ökoliberalen Wundertüte ist klar: Der Staat ist mehr Übel als Chance. Der Kretschmann-Flügel verschärft damit seinen dezidiert wirtschaftsfreundlichen Kurs, um so das Verdikt der Verbotspartei (Stichwort Veggieday) hinter sich zu lassen. In der Perspektive der Wirtschaftsgrünen spielt Thüringen dagegen keine Rolle. Vorentscheidend sind für sie vielmehr die Wahlen in Baden-Württemberg im Frühjahr 2016, wo sie die Liberalen in deren einstigem Ursprungsland endgültig als die neue, grüne FDP beerben wollen, um anschließend, wenn möglich und nötig, mit der Union zu koalieren.[5]

Am 19. September wird die grüne Bundestagsfraktion auf ihrem ersten „Freiheitskongress“ den künftigen Kurs der Partei diskutieren. Unmittelbar nach den Ost-Wahlen und nach Ablauf des parteiinternen Stillhalteabkommens sind heftige Debatten vorprogrammiert. Die strategische Überlegenheit des schwarz-grünen Flügels hat allerdings einen entscheidenden Grund – nämlich die anhaltende Unwahrscheinlichkeit von Rot-Rot-Grün auf Bundesebene. Denn man mache sich nichts vor: Thüringen ist nicht der Bund. Die eigentliche Entscheidung über zukünftige rot-rot-grüne Koalitionen auf Bundesebene fällt nicht in Erfurt, sondern in Berlin. Dort aber spielen andere Probleme eine maßgebliche Rolle, insbesondere auf dem Gebiet der Außenpolitik.

Grün-linke Grabenkämpfe

Wie schwer hier Rot-Rot-Grün werden wird, zeigt sich seit Monaten in der Ukrainekrise. Während linke Linke wie Wolfgang Gehrcke die Grünen als den rechten Rand des deutschen Parlaments diffamierten und Sevim Dag˘delen gar Göring-Eckardt ein Brecht-Zitat („Verbrecher“) an den Kopf warf, ließen grüne Realos wie Reinhard Bütikofer Sarah Wagenknecht als Fünfte Kolonne Moskaus aufmarschieren. Der Eindruck war klar: Hier haben sich zwei gesucht und gefunden. Seit den Debatten der 80er Jahre in inniger Abneigung verbunden, haben grüne Realos und linke Linke eines strategisch gemeinsam: das fehlende Interesse an einer rot-rot-grünen Koalition.

Der Grund dafür liegt nicht allein, aber vor allem in der Außenpolitik. Während die Grünen sich bereits in der Jugoslawienkrise der 90er Jahre zu einer intervenierenden Menschenrechtspolitik durchgerungen haben (inklusive der Zustimmung zu R2P, der umstrittenen Responsibility to protect), verteidigt die Linkspartei ihr Alleinstellungsmerkmal als angeblich letzte Friedenspartei.

Dabei zeigen die neuen Konflikte, insbesondere die barbarischen Morde der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), dass die alten Antworten den neuen Herausforderungen nicht mehr gerecht werden. Zu Zeiten des Kalten Krieges bedeutete jeder Griff zur Waffe das Spiel mit dem atomaren Overkill. Radikales Unterlassen, sprich: Abrüsten („Schwerter zu Pflugscharen“), stand daher zu Recht für Pazifismus. Heute hingegen, in einer Welt der Auflösung fast jeder staatlichen Ordnung, bedarf es eines Konzepts der aktiven Pazifizierung, das vorrückenden Mörderbanden wie dem IS das Handwerk legt.

Friedenspolitik im 21. Jahrhundert

Linksfraktionschef Gregor Gysi hat daher eine notwendige Debatte in der Linken eröffnet, als er dafür plädierte, den Kurden Waffen zur Selbstverteidigung gegen den IS zu liefern.[6] Auch wenn man aus guten Gründen gegen die weitere Aufrüstung einer seit Jahren auch von Deutschland hoch gerüsteten Region[7] sein kann: Man kann nicht guten Gewissens diese hoch-komplexe Frage per Twitterbotschaft totschlagen. „Waffenlieferungen in Spannungsgebiete unverantwortlich. Position d. Linken bleibt: Rüstungsexp. sind Geschäfte mit d. Tod + gehören verboten!“, lautete Sarah Wagenknechts ordre du mufti. Getreu der alten Devise: Was nicht sein darf, das nicht sein kann – ganz egal, ob ein Völkermord an den Jesiden droht oder nicht. Denn wie heißt es so schön im Programm: „Die Linke ist die einzige Fraktion im Bundestag, die ein Verbot aller Rüstungsexporte fordert.“ Basta.

Doch auch wer heute nicht handelt, macht sich schuldig. Es gibt keine Position der Unschuld, das ist das Dilemma und die Tragik jeder Politik. Sie sollte alle an der Debatte Beteiligten von Diffamierungen des Gegners abhalten, ob als „Bellizisten“ und „Kriegstreiber“ auf der einen Seite oder als „Stechschrittpazifisten“ (Herfried Münkler) mit der „Yogamatte unterm Arm“ (Cem Özdemir) auf der anderen.

Was wir heute parteiübergreifend benötigen, ist eine echte Debatte darüber, wie Friedenspolitik im 21. Jahrhundert auszusehen hätte. Rupert Neudeck fordert zu Recht einen neuen, „radikalen Pazifismus“.[8] Was dies allerdings konkret bedeutet, ist keineswegs neu, sondern das alte Konzept der Vereinten Nationen, denen die einzelnen Staaten laut Kapitel VII, Artikel 43 der UN-Charta Kontingente von Soldaten zur Verfügung stellen sollen, für eine global agierende Polizeitruppe. Das wäre praktizierte Weltinnenpolitik. Solange dieses Konzept jedoch weiter der Umsetzung harrt (schon ob der Blockade im Weltsicherheitsrat), wird es immer wieder erforderlich sein, im Einzelfall über ein robustes UN-Militärmandat auch unter deutscher Beteiligung zu debattieren, wie gegenwärtig zum Schutz der Jesiden – und zwar gerade dann, wenn Waffenexporte an die Kurden sich als zu gefährlich, da unkalkulierbar darstellen.[9]

Gleichzeitig wird es aber auch darauf ankommen, die fatale Fixierung auf eine rein militärische Krisenreaktion endlich zu beenden und stattdessen langfristige, präventive Strategien zu entwickeln. Nur so werden sich kriegerische Eskalationen bereits im Ansatz verhindern lassen. Dies verlangt aber eine sehr viel grundsätzlichere Kritik an den globalen, geostrategischen Machtverhältnissen und an der permanenten Unterstützung terrorfördernder Staaten wie Katar und Saudi-Arabien durch westliche Waffen. Gerade hier könnte allerdings eine Brücke für SPD, Grüne und Linke bestehen, um zu einer gemeinsamen außenpolitischen Position zu gelangen. Wird diese Brücke dagegen in den nächsten Jahren nicht ernsthaft betreten, sollte sich später keiner darüber beklagen, dass Angela Merkel noch auf viele Jahre ohne politische Alternative sein könnte – zum Schaden unserer Demokratie.

  


[1] Torsten Krauel, Kanzlerin Merkel auf den Spuren von Helmut Schmidt, in: „Die Welt“, 9.4.2014. 

[2] Nikolaus Blome, Die Mutti aller Fragen: Angela Merkel wird 60, in: „Der Spiegel“, 14.7.2014. 

[3] Vgl. Göring-Eckardt: Grüne „kein Ersatzreifen“ in Thüringen, www.thueringer-allgemeine.de, 17.7.2014. 

[4] Kerstin Andreae u.a., Freiräume schaffen und schützen, 14.8.2014, www.kerstin-andreae.de. 

[5] Wichtig für den liberalen Wettstreit zwischen Grünen und FDP sind zudem die Wahlen in Hamburg am 15. Februar 2015 (die FDP erzielte 2011 mit 6,7 Prozent ihr bestes Ergebnis seit 1974) und im Frühjahr 2017 in Nordrhein-Westfalen, mit 8,6 Prozent FDP-Hochburg und die Heimat von Parteichef Christian Lindner. 

[6] „Größeres Unheil verhindern“, Interview in „die tageszeitung“ (taz), 12.8.2014. 

[7] Daher die Ablehnung vieler Außenpolitiker, von Norbert Röttgen bis Jan van Aken. 

[8] Rupert Neudeck, Radikaler Pazifismus, in: taz, 15.8.2014. 

[9] So die Argumentation für ein robustes Mandat etwa von Andreas Zumach im „ARD-Presseclub“, 17.8.2014.

(aus: »Blätter« 9/2014, Seite 9-12)