Die neuen Bettel-Vögte

Der Ton verschärft sich. Selbst die biedere Apotheken Umschau veröffentlichte heuer die auf streng wissenschaftlicher Basis erhobenen Daten des GFK-Institutes für Marktforschung (sic!): 49,4 Prozent aller Deutschen seien für ein generelles Bettelverbot, 68,3 Prozent lehnten gar „Almosen grundsätzlich“ ab. Martin Luther, der diese Position ebenfalls geteilt hätte und heftig gegen die „guten Taten“ wetterte – der Ablasshandel war ihm nur die Spitze des Eisberges – hat sich mitsamt der rabiat-protestantischen Arbeitsethik im gesellschaftlichen Bewusstsein der Deutschen offenbar voll durchgesetzt: „Hilfe zur Selbsthilfe“ könne natürlich gewährt werden, meinen generös zwei Drittel der Befragten. Die Umfrage stammt allerdings aus dem Jahre 2009. Es ist schon hinterfragenswert, weshalb sie jetzt aus der Schublade gezogen wird – und neben besagter Werbe-Zeitung der deutschen Gesundheitswirtschaft zum Beispiel von der online-Plattform der Düsseldorfer Rheinischen Post zum Sommeranfang 2015 weiter verbreitet wurde.
In den letzten Monaten ist im Krieg gegen die ärmsten der Armen einiges geschehen: In Nürnberg, Augsburg, Würzburg und Regensburg – um nur einige Beispiele zu nennen – wird gegen Bettler inzwischen polizeilich vorgegangen. Am 12. August 2014 trat in München eine „Allgemeinverfügung“ in Kraft, die zum Beispiel in den Fußgängerzonen der Münchener Innenstadt „aggressives und bandenmäßiges Betteln […], auch Betteln in Begleitung von Kindern, unter Vortäuschen körperlicher Behinderungen oder von ‚künstlerischen Darbietungen mit nicht gebrauchsfähigen Musikinstrumenten’ verbot, wie die F.A.Z. im vergangenen Sommer berichtete. „Stilles Betteln“ – also die Hand aufhalten ohne ein Wort zu sagen – ist hingegen außerhalb der Fußgängerzone gestattet. Man stelle sich das praktisch vor! Natürlich wurde diese Maßnahme von vielen Einzelhändlern heftigst begrüßt. Man hatte solch Vorgehen im Vorfeld der „Allgemeinverfügung“ schließlich selbst gefordert. Historische Parallelen drängen sich unwillkürlich auf: Auch die „zigeunerfreien“ Innenstädte der 1930er Jahre wurden durch Forderungen des Handels „angeregt“. Maximilian Weingarten, Autor des zitierten F.A.Z.-Artikels, räumt die Marktbereinigungsabsichten im direkten Sinne des Wortes indirekt ein, indem er darauf verweist, dass in München „lange Zeit eine heile Welt in der Innenstadt herrschte“. Dass mit polizeilichen Maßnahmen Armut nicht bekämpft werden kann, sehen selbst die Mitarbeiter der Münchener Verwaltung ein: „’Wir kratzen mit unseren Maßnahmen leider nur an der Oberfläche’, sagt auch Wilfried Blume-Beyerle, Leiter des Münchner Kreisverwaltungsreferats. ‚Zuerst treffen wir in der Tat die Bettler, die bemitleidenswert sind.’“ Armutsbekämpfung ist auch nicht die Absicht der Erfinder solch inhumaner Regelungen. Armut soll da, wo der Wohlstand sich selbst bespiegelt, nicht mehr sichtbar sein. Der Anblick ist umsatzschädigend. Armut gehört an den Rand der Stadt.
Nach langen Debatten – die Wahlen stehen vor der Tür – soll auch Berlin sauberer werden. Der Senat will aufräumen. Nicht mit dem Dreck auf den Straßen und Plätzen, aber doch mit den Menschen, die manche als Schmutz ansehen, mit den Bettlern. Hier versucht sich Innensenator Frank Henkel (CDU) als Vorreiter. Am 23. Juni legte er dem Senat eine Verordnung vor, die das Betteln mit und durch Kinder in Berlin verbieten soll. Zuwiderhandlungen sollen bis zu 500 Euro Strafe nach sich ziehen. Die wird kaum jemand von den Delinquenten zahlen können. Was dann? 1565 erließ Kurfürst Joachim II. eine Polizeiverordnung für die Mark Brandenburg gegen Mordbrenner, Räuber, fahrendes Gesindel … und Bettler. Der Fürst ordnete an, dass das Betteln „hinfurt in Stedten, Flecken und Dörffern unseres Churfürstenthums […] gentzlich sol verbotten sein, und sollen die Obrigkeiten jeden Orts dieselben aus unsern Landen weisen, oder da sie nicht weichen wollten, mit peitzschen austreiben lassen.“ Ausweisen geht wegen der EU schlecht, aber die Sache mit den Peitschen… Der Senator wird doch nicht etwa?
Oder denkt er eher an die Lösungen des 19. Jahrhunderts? Die 1808 erlassene „Städteordnung“ des Freiherrn vom und zum Stein verpflichtete auch den Berliner Magistrat „darauf zu wachen, daß die Straßenbettelei abgestellt werde“. 1826 erließ der Magistrat eine „Armenordnung“. Deren Paragraf 17 verpflichtete die Armen „jede ihnen angewiesene schickliche […] Arbeit, die ihnen übertragen wird, unweigerlich zu übernehmen.“ Im Weigerungsfalle – oder wenn einfach keine Arbeit vorhanden war – drohte das Arbeitshaus. „Diese sogenannten Arbeitslosen“, schrieb 1842 ein gewisser J. P.Kux, „die nur mit der Zunge Lust zu arbeiten haben, müßten als Faullenzer zu einer Arbeit gezwungen werden, die ihnen gar nicht behagt und z.B. auf die Tretmühle gebracht werden.“ Eine solche gab es seit 1835 im Berliner Arbeitshaus tatsächlich… Ende der 1840er Jahre waren in diesem zwischen 5.000 und 6.000 Personen jährlich untergebracht! Die Sozialfürsorge wurde also zunehmend durch polizeiliche Maßnahmen ersetzt. Frank Henkel ist übrigens nicht Sozial- sondern Innensenator. Als solcher ist er für die Polizei zuständig. Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts lag die Armutsquote in unserer Stadt bei rund 25 Prozent. Heute – 2015! – beträgt sie wieder 20 Prozent.
Übrigens kann man bei der Gelegenheit trefflich die fremdenfeindliche Sau rauslassen. Im vergangenen Dezember ließ sich DIE WELT zum Abdruck der Meinung einer gewissen Hildegard Stausberg hinreißen: „Denn die Mischung aus meist vom Balkan stammenden aggressiven Bettlerbanden auf der einen, verwahrlosten deutschen Jugendlichen – verharmlosend ‚Punks’ genannt – auf der anderen Seite plus einer immer stärker werdenden Drogenszene ergeben ein hochexplosives Gemisch.“ Lassen Sie sich nicht von der bemerkenswert deutsch klingenden Grammatik dieses Textes irreführen: Das ist O-Ton! Auf RP.ONLINEkommentierte eine Bibi Zeps: „Es wird höchste zeit! Es geht mir total auf den Senkel, in der Stadt alle paar Meter angequatscht zu werden! Aber dann muss der Gesetzgeber bei Verstößen auch rigoros durchgreifen.“ Und glaubt man der hauptstädtischen Boulevardpresse, sind es vorzüglich „rumänische“ und „kosovarische“ Banden, die bettelnd die Stadt überfluten. „Zigeunerbanden“ traut man sich (noch?) nicht zu schreiben, meint es aber vielfach…
Das alles ist, wie gesagt, kein ausschließlich Berliner Problem. Der Deutsche Städtetag stand durchaus wohlwollend hinter dem Münchener Vorstoß im vergangenen Jahr. Die Berliner Regelung wurde von SPD-Politikern begeistert applaudiert. „Die Städte entscheiden sich für den schnellen Weg, unangenehme Auswüchse einzudämmen, ohne aber die Wurzel herauszureißen.“ So summierte Marie Amrhein im August 2014 im Cicero diesen Rückfall europäischer Kommunen in das sozialpolitische Spätmittelalter. Dass Frank Henkel sich das Amt des Bettelvogtes zuspricht liegt im Trend. Im Krieg gegen die ärmsten der Armen steht eine neue Eskalationsstufe bevor.