Wiener Melange …

Wollte Teheran tatsächlich nach der Bombe greifen, und – falls ja – wie weit war das iranische Atomprogramm von diesem Ziel noch entfernt? Nur drei Monate, wie manche Beobachter mutmaßten?
‚Diese Fragen kann auch nach Abschluss der Wiener Vereinbarungen zwischen den fünf Vetomächten des UN-Sicherheitsrates, USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien, und Deutschland („P5 plus 1“-Gruppe) sowie dem Iran über dessen Atomprogramm vom 14. Juli – die offizielle Bezeichnung lautet lapidar Joint Comprehensive Plan of Action (umfassender gemeinsamer Aktionsplan) – niemand mit letzter Sicherheit beantworten.
Die iranische Führung hat entsprechende Unterstellungen, Mutmaßungen und Anschuldigungen seitens der USA und anderer westlicher Staaten sowie des Sicherheitsrates und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) stets zurückgewiesen. Und im Jahre 2009 gab es gar eine Anti-Nuklearwaffen-Fatwa des ranghöchsten Theologen Irans, des Großajatollahs Hossein Ali Montazeri, in der es hieß, dass der „Bau und der Einsatz von Atomwaffen und Massenvernichtungswaffen […] aus vernunftmäßigen und religionsgesetzlichen Gründen verboten“ seien.
Andererseits beherrscht Iran bereits seit etlichen Jahren die komplette nukleare Brennstoffkette und hatte sich Urananreicherungskapazitäten und Vorräte an angereichertem Material in einem Umfang (fast 15 Tonnen) zugelegt, die deren nur zivilen Ausrichtung fragwürdig erscheinen ließ. Die Anreicherungstechnologie stammt unter anderem von der illegalen Atommacht Pakistan, und mit der illegalen Atommacht Nordkorea gab es Kooperationsbeziehungen im Hinblick auf ballistische Trägerraketen und wahrscheinlich auch direkt im nuklearen Bereich. Letzte Klarheit darüber besteht nicht, weil Iran einen erheblichen Teil seines Atomprogramms über die Jahre systematisch verschleierte. Und selbst im Hinblick auf bekannte Atomanlagen verweigerte Teheran immer wieder Kontrollen durch die IAEA, zu denen es als Mitglied des Atomwaffensperrvertrages (NPT) verpflichtet ist. Kurzfristige Verdachtskontrollen gemäß Zusatzprotokoll des NPT verweigerte das Land grundsätzlich. Auch beigetreten war es diesem Protokoll nicht. Hinzu kam, dass Teheran einen Teil seiner atomaren Produktionsanlagen so verbunkert hat, dass eine militärische Ausschaltung mit konventionellen Mitteln kaum möglich wäre. Nicht zuletzt war ein Schwerwasserreaktor in der Provinz Markazi, nahe der Stadt Arak, im Bau, der nach seiner Inbetriebnahme als Nebenprodukt waffenfähiges Plutonium „ausgebrütet“ hätte.
Neben diesen „harten“ Fakten, die als Beleg für militärische Nuklearambitionen Irans interpretiert werden konnten, gab es weiter – „weiche“ – sicherheitspolitische Indizien, die entsprechende iranische Bestrebungen durchaus plausibel erscheinen ließen. In seinem näheren und erweiterten regionalen Umfeld ist Teheran mit sechs Nuklearmächten konfrontiert und mit zweien davon seit Jahrzehnten scharf verfeindet (USA, Israel). Andererseits hat das nordkoreanische Beispiel gezeigt, dass man mit vorgetäuschter nuklearer Verhandlungs- und Verzichtsbereitschaft erfolgreich solange auf Zeit spielen und die uneinheitlich agierende internationale Gemeinschaft am Nasenring führen kann, bis der atomare Rubikon überschritten ist und man durch den Besitz von Kernwaffen und Trägermitteln einen Status faktischer militärischer Unangreifbarkeit erlangt hat. Mehr noch: Wenn man sein Streben nach Kernwaffen (zu früh) aufgibt, kann es einem so ergehen wie Libyen.
Hinzu kam im Falle Irans, dass der regionale politische, religiöse und militärische Hauptrivale Saudi-Arabien zum erheblichen Teil das pakistanische Atomprogramm finanziert hat, wodurch sich Riad nach Meinung von Experten Anrecht auf nuklearen Beistand seitens Islamabad erkauft hat und vielleicht sogar die Option, unter Umständen einsatzfähige Kernwaffensysteme von Pakistan zu erwerben.
Und – last but not least – haben die USA und andere Atommächte in den vergangenen Jahrzehnten erst zugelassen oder gar aktiv daran mitgewirkt (Frankreich), dass sich Israel illegal Atomwaffen zulegen konnte, und später nahezu tatenlos Indien und Pakistan gewähren lassen, was zugleich zeigte, dass sie den NPT ihrerseits, wenn es ihnen in den Streifen passt, zum Muster ohne Wert verkommen lassen. Ganz abgesehen davon, dass die fünf ursprünglichen Atommächte ihren nuklearen Abrüstungsverpflichtungen aus Artikel VI des Vertrages bis heute entweder gar nicht oder nur begrenzt nachgekommen sind.
Der jetzige Atom-Deal mit zehnjähriger Laufzeit, von dem Außenminister Steinmeier sagt, er schließe „Irans Griff nach der Atombombe […] langfristig verlässlich und nachprüfbar“ aus, enthält im Kern folgende substanzielle Festlegungen:
Uran-Anreicherung: Iran wird die Anzahl seiner Gas­zentrifugen zur Uran-Anreicherung um zwei Drittel redu­zieren – von 19.000 auf 6.014, von denen nur 5.060 zur Uran-Anreicherung weiterverwendet werden dürfen. 98 Prozent der bereits angereicherten Bestände werden wieder abgereichert (ver­dünnt) oder ins Ausland verbracht, darunter sämtliches auf 20 Prozent angereicherte Material; lediglich 300 Kilo mit einem Anreicherungsgrad von 3,67 Prozent verbleiben für zivile Verwendungen im Lande. So soll gewährleistet werden, dass Teheran, sollte es (erneut) zur Bombe greifen wollen, mehr als ein Jahr brauchen würde, um das notwendige Ausgangsmaterial zusam­menzubekommen.
Nachprüfbarkeit: Iran lässt Kontrollen nach den Regeln des Zu­satzprotokolls zum NPT zu, also auch kurz­fristig angekündigte Inspektionen durch die IAEA. Das gilt für zivile wie militärische Objekte. (Letzteres war seitens Iran lange umstritten.) Überdies wird Iran dem Zusatzprotokoll beitreten.
Forschung: Die Weiterentwicklung von Anreiche­rungstechnologie durch Iran wird stark einge­schränkt, um einen sprunghaften Anstieg der Anreicherung nach dem Ablauf des Deals zu verhindern.
Plutonium: Der Schwerwasserreaktor bei Arak wird so umgebaut, dass er kein waffenfähiges Plu­tonium erzeugen kann. Dazu wird der bisherige Reak­torkern entfernt und außer Landes gebracht. An seine Stelle tritt ein Leichtwasserreaktor
Militärische Aspekte: Fragen seitens der IAEA zu einem vermuteten militärischen Atomprogramm des Iran müssen beantwortet werden. Dazu wurde ein gesondertes Abkommen zwischen IAEA und Teheran abgeschlossen, das einen Bericht im Dezem­ber 2015 vorsieht.
Sanktionen: Nach Bestätigung durch die IAEA, dass Iran seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, werden als Erstes die Wirt­schaftssanktionen aufgehoben, die den Zugang des Landes zu den Öl- und Fi­nanzmärkten behindern. Das allgemeine UN-Waffenembar­go bleibt weitere fünf Jahre in Kraft, das spezielle Embargo für Material für ballistische Trägersysteme noch drei Jahre länger.
Snap back: Mögliche strittige Fragen im Prozess der Umsetzung der Wiener Vereinbarungen soll eine gemeinsame Kom­mission klären, bestehend aus der „P5 plus 1“-Gruppe sowie Iran. Es gilt eine Frist von 30 Tagen zur einvernehmlichen Regelung. Danach kann der UN-Sicherheitsrat eingeschaltet werden. Iran droht bei Verstößen gegen die Vereinbarungen ein „Zurückschnappen“ der Sanktionen.
Friedliche Nutzung der Kernenergie: Die „P5 plus 1“-Gruppe ist bereit zur zivilen nuklearen Kooperation.
Spätestens 90 Tage nach Billigung der Wiener Vereinbarungen durch den UN-Sicherheitsrat, die bereits erfolgt ist, sollen diese in Kraft treten. In trockenen Tüchern ist das Dokument von Wien derzeit aber noch keineswegs, denn es muss ratifiziert werden. So muss der Deal binnen 60 Tagen den US-Kongress passieren. Führende Republikaner im Senat haben ihre Ablehnung bereits erklärt. Dagegen wird Barack Obama gegebenenfalls sein Veto einlegen. Um ein solches zu überstimmen und das Abkommen doch noch zu Fall zu bringen, bedürfte es dann einer Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern des Kongresses … Auch von konservativen iranischen Hardlinern ist Kritik zu hören.
Nachdem insbesondere die USA sich entschlossen hatten, einerseits Iran nicht – wie weiland Israel, Indien und Pakistan – gewähren zu lassen, andererseits aber auch kein zweites Mal in die nordkoreanische Falle zu tappen, wäre die Alternative zu den Wiener Vereinbarungen letztlich nur ein Militärschlag gegen das iranische Atomprogramm gewesen. Die USA haben ihn mehrfach angedroht, Israel tut dies immer noch. Experten gehen allerdings davon aus, dass auf diese Weise das Programm allenfalls temporär zu verzögern wäre. Die Folgen eines Militärschlages jedoch könnten bis hin zu einem unkalkulierbaren Flächenbrand im gesamten Nahen und Mittleren Osten mit globalen Auswirkungen reichen. Angesichts einer solchen Perspektive das Wiener Dokument mit Bemerkungen wie „Faktisch ist der Iran nun eine Atommacht. […] Gutes gewollt, Schlechtes erreicht […].“ in Bausch und Bogen zu verdammen, wie es nicht nur Michael Wolffsohn, bis zu seiner Emeritierung Hochschullehrer an der Universität der Bundeswehr in München, tut, zeugt daher weniger von sicherheitspolitischem Augenmaß denn vom unbedingten Bemühen, die militante Ablehnung des Deals durch Israel – dessen Premier Benjamin Netanjahu sprach von einem „historischen Fehler für die Welt“– zu stützen.
Trotzdem ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, worauf diverse Kommentatoren hingewiesen haben: dass gravierende Differenzen zwischen Iran und insbesondere den USA etwa im Hinblick auf den Nahostkonflikt und den Bürgerkrieg in Syrien bestehen bleiben; dass die iranischen Bestände an ballistischen Raketen mittlerer und längerer Reichweite durch den Wiener Deal nicht angetastet werden; dass Iran sich nur auf zehn Jahre an die atomaren Restriktionen gebunden habe …
Doch ungeachtet dessen: Was wäre, wenn der Westen diese zehn Jahre außer zur peniblen Kontrolle der Einhaltung der jetzigen Vereinbarungen auch dazu nutzte, das Verhältnis zum Iran grundsätzlich zu entfeinden? Um den bisherigen Gegner dauerhaft zum Partner zu machen. Schlüssige Überlegungen und Vorschläge dazu hat unter anderem Christoph Bertram, der frühere Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, bereits vor Jahren in einer kleinen, höchst anregenden Schrift für die Körber-Stiftung vorgelegt – „Partner, nicht Gegner. Für eine andere Iran-Politik“. Aber möglicherweise ist dieser strategische Essay dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier längst bekannt, dem von verschiedenen Seiten eine maßgebliche Rolle beim Zustandekommen der Wiener Vereinbarungen attestiert wird. Denn beide, Steinmeier und Bertram, haben erst kürzlich in einem Projekt zur deutschen Außenpolitik eng zusammengearbeitet, wie auch im Blättchen nachzulesen war.

Wird fortgesetzt.