Der Westen & Russland – zum Diskurs

Putin will nicht nur Donezk und Luhansk einnehmen,
sondern die gesamte Ukraine.
Das hat er nie aufgegeben.

Arseni Jazenjuk
in Handelsblatt

[…] Putins Taktik, sich auf die geringsten Anzeichen
von Schwäche in Europa zu stürzen,
um Zwietracht zu säen,
hat schon bemerkenswert lange Bestand.

Bernard-Henri Lévy
in Die Welt

Putin braucht Kriege, um sich zu legitimieren.

Garri Kasparpow
in Der Spiegel

Behauptungen, wie die hier zitierten, prägen die Russland-Berichterstattung in den deutschen Medien, zumal in jenen mit den Präfixen „Leit“ und „Mainstream“. Solche Behauptungen sind tragende Säulen im neuen alten Feindbild Russland, an dem in vielen Redaktionsstuben gestrickt wird. „Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten“, so Außenminister Frank-Walter Steinmeier schon Ende vergangenen Jahres, „scheint mir ziemlich hoch.“
Beim Russland-Bashing wird dabei selbst vor direkten Fälschungen nicht unbedingt Halt gemacht, wie sich erst jüngst wieder bei ARD-Aktuell gezeigt hat. Da war berichtet worden, dass in Syrien ein Krankenhaus vom russischen Militär zerbombt worden sei, und dann, nach Aufdeckung der Falschmeldung, war die Ausstrahlung der Richtigstellung verweigert worden.
Szenenwechsel: Ende Oktober hatte der Bundeswirtschaftsminister und künftige Kanzlerkandidat der SPD den russischen Präsidenten in Moskau besucht. Dabei hatte Siegmar Gabriel geäußert, dass er sich unter bestimmten Bedingungen „erste Erleichterungen“ im Hinblick auf die westlichen Sanktionen gegen Russland vorstellen könne. „Aber das ist meine persönliche Meinung“, fügte Gabriel hinzu – vielleicht damit auch ja niemand seine Äußerung zu ernst nimmt.
Darüber hinaus hatte der Politiker erklärt: „Wenn wir in das Jahr 2000 zurückschauen, als Deutschland und Russland ausgezeichnete Beziehungen hatten, ist es völlig unverständlich, warum die Entwicklung unserer beiden Länder in völlig verschiedene Richtungen ging.“
Diese Äußerung provoziert zwar einerseits den Verdacht, dass der Minister sich schon länger nicht allzu intensiv mit der Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland beschäftigt haben kann, aber andererseits kann dem Manne geholfen werden – zum Beispiel mit zwei Büchern aus jüngerer und jüngster Zeit, in denen sich auch zahlreiche Indizien, Fakten und Einschätzungen finden, mit denen man im Hinblick auf die eingangs zitierten Behauptungen das tun kann, was in deutschen Leitmedien leider zu häufig unterbleibt: sie auf ihren Realitätsgehalt hin zu hinterfragen.
Anfang des Jahres erschien „Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“ von Gabriele Krone-Schmalz und hat es bisher bereits auf ein Dutzend Auflagen gebracht. Seit Mitte Oktober ist Hubert Seipels „Putin. Innenansichten der Macht“ auf dem Markt; der Autor ist dem russischen Präsidenten so nahe gekommen wie sonst kein westlicher Journalist, hat ihn einige Zeit durch seinen politischen Alltag, aber auch auf manchen Auslandsreisen begleitet.
Gabriele Krone-Schmalz beginnt damit, dass sie den Lesern in Erinnerung ruft, was für das Verständnis Russlands von grundlegender Bedeutung ist, dass nämlich das Land zu Beginn der 1990er Jahre drei parallele Revolutionen zu bewältigen hatte – von der Plan- zur Marktwirtschaft, von der Diktatur der KPdSU zu rechtsstaatlichen Strukturen und vom der Sowjetunion zum Nationalstaat, von dessen Nation, den (ethnischen) Russen, sich überdies plötzlich 25 Millionen in selbstständigen Nachbarstaaten wiederfanden. Dabei waren die Jahre unter Boris Jelzin von Chaos, Anarchie und allgemeiner sozialer Deprivation geprägt. „In diesen Zeiten“, so resümiert Gabriele Krone-Schmalz rückblickend, „hätte Russland eine verständnisvolle Beglei­tung des Westens gebraucht. Stattdessen begann eine westliche Drängelei. Kredite und Hilfen wurden an Be­dingungen geknüpft, die zwar westlichen Lehrbüchern entsprachen, aber nicht russischer Realität. Russland wurde weniger als Partner denn als Konkursmasse behan­delt. In die dringend erforderliche neue Sicherheitsarchi­tektur für ein geopolitisch radikal verändertes Europa wurde Russland nicht eingebunden, Stattdessen erweiter­te sich die NATO Schritt für Schritt nach Osten. Als Wla­dimir Putin russischer Präsident wurde, sandte er in Serie Signale Richtung Westen, was zu der Zeit in Russland in­nenpolitisch durchaus nicht unumstritten war. Dafür hat Putin kämpfen müssen.“ Aus Moskau kamen Vorschläge zu einem gemeinsamen Sicherheitsraum von Wladiwostok bis Vancouver und zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon. „Statt diese Chance zu ergrei­fen, wurde die mediale und politische Diskussion im Westen von der KGB-Vergangenheit des neuen Präsiden­ten dominiert.“
Apropos KGB-Vergangenheit: Der seinerzeitige KGB-Chef W. Krjutschkow gehörte zu Putschisten gegen Gorbatschow vom August 1991. Der Coup d’État begann am 19. August; einen Tag später quittierte Putin seinen Dienst beim KGB. „Das heißt, zu einem Zeitpunkt“, so Krone-Schmalz, „zu dem man noch nicht sicher sein konnte, wie die Sache ausgeht. Eine eindeutigere Positionierung ist kaum möglich.“
Doch zurück zum Verhältnis zwischen dem Westen und Russland. Dass NATO und EU den Versuch unternahmen, auch noch die Ukraine (und weitere ehemalige Sowjetrepubliken) nicht nur in den Westen zu integrieren, sondern zugleich die Bindungen und Verbindungen Kiews zu Moskau praktisch weitgehend zu kappen, lässt sich insbesondere aus dem Bukarester NATO-Aufnahmebeschluss von 2008 (der auch Georgien einschließt) sowie anhand der EU-Assoziierungsverhandlungen und des entsprechenden Vertrages selbst ersehen. Schließlich brachte der von den USA gepuschte Staatsstreich gegen den gewählten damaligen ukrainischen Präsidenten das Fass zum Überlaufen – für Putin, so Seipel, war „endgültig eine rote Linie überschritten“ – und setzte quasi den Schlusspunkt hinter eine Entwicklung, die Krone-Schmalz so zusammenfasst: „Die lange Reihe westlicher Zurückweisungen und völliger Ignoranz russischer Inter­essen liest sich aus russischer Sicht auszugsweise so: Die NATO bombardiert Jugoslawien bzw. Serbien Ende der neunziger Jahre, obwohl Russland im Sicherheitsrat da­gegen protestiert; die USA und Großbritannien starten 2003 aufgrund gefälschter Beweise eine Militäroperation im Irak; 2011 missbraucht der Westen eine UN-Resoluti­on, die dem Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen dienen soll, zum Sturz Gaddafis. In Syrien werden zweifelhafte Rebellengruppen mit Waffen unterstützt, um das Assad-Regime zu beseitigen. Und überall dort, wo ‚Regimechange‘ unter der Überschrift ‚Demokratisierung‘ ge­lungen ist, fliegt Russland aus alten Verträgen raus und vor allem westliche Industrienationen, allen voran die USA, bemächtigen sich der lukrativsten Geschäfte. Vor diesem Hintergrund und angesichts der eindeuti­gen Positionierung des Westens zum Thema Ukraine, kann es nicht wirklich verwundern, dass aus dem zu Pe­restroika-Zeiten geliebten und bewunderten ‚Freund‘ im Westen der ‚Feind‘ oder zumindest der ‚Gegner‘ gewor­den ist, dem man eben doch nicht trauen kann.“ Zwar sei zwischen der NATO und Russland“ 1997 die „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit“ vereinbart und der „Ständige Gemeinsame NATO-Russland-Rat“ geschaffen worden, aus dem 2002 der „Nato-Russland-Rat“ wurde, aber: „Während des Kosovokonfliktes wurde […] für Mos­kau mehr als deutlich, was diese Kompensationsangebote im Konfliktfall Wert waren, nämlich praktisch nichts. Russland wurde in die Entscheidungsfindung nicht ein­bezogen […]. Dennoch wurde von Moskau erwartet, die Position des Westens als vollendete Tatsache zu akzeptieren.“ Auch die amerikanischen Raketenabwehrpläne für Europa aus dem Jahre 1999 mussten in Moskau, so die Autorin weiter, Zweifel an der grundsätzlichen Bereitschaft des Westens an tatsächlicher Partnerschaft wecken. (Diesem Zweifel ist auch im Blättchen schon mehrfach nachgegangen worden.)
Hubert Seipel widmet sich unter anderem der Analyse und Darstellung der russischen Interessen im Hinblick auf die Ukraine. Zu Putins Sicht auf die Assoziierungspläne, die die EU unter strikter Ausklammerung Russlands verfolgte, vermerkt der Autor: „Die wirtschaftliche Abkoppelung der Ukraine sieht er als direkten politischen Angriff.“ Und dies umso mehr, als das strategische Kalkül der Führungsmacht des Westens sich für Moskau so darstellt, wie der US-Geostratege Brzezinski es bereits Ende der 1990er Jahre formuliert hat. „Der springende Punkt ist, und das darf man nicht vergessen: Ohne die Ukraine kann Russland nicht zu Europa gehören, wohingegen die Ukraine ohne Russland durchaus Teil von Europa sein kann.“ Dafür hatten die USA bereits vor dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts jene fünf Milliarden Dollar investiert, von denen man durch die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland (aus einem abgehörten Telefonat) weiß. Darüber hinaus geht Moskau von der Choreografie der bisherigen EU- und NATO-Erweiterungen nach Osteuropa aus, der zufolge der Beitritt zur EU noch jedes Mal zugleich auch das Vorspiel zum NATO-Beitritt war.
Vor diesem Gesamthintergrund, der, wie Krone-Schmalz festhält, zum Verlust des einst in Moskau gehegten „nahezu grenzenlosen Vertrauens in die […] westliche Welt geführt hat“, urteilt die Autorin über die Sezession der Krim („ureigenes russisches Land“) und deren nachfolgenden Beitritt zu Russland: „Was Putin getan hat, war keine Landnahme, sondern Notwehr unter Zeitdruck.“
Trotzdem – was, wenn die Krim nur der Auftakt war? Und die „Rest“-Ukraine demnächst folgt, dann das Baltikum, schließlich Polen? Oder umgekehrt. Dergleichen Szenarien werden ja immer wieder bemüht.
„Was also ist das Interesse Russland“, fragt Gabriele Krone-Schmalz mit Blick auf die Ukraine. „Sich nach der Krim einen weiteren finanziell ruinösen Klotz ans Bein zu binden? Wohl kaum.“ Eine nüchterne Analyse der Gegebenheiten in Russland laufe darauf hinaus, dass vor allem die folgenden Dinge im Interesse Russlands seien: „Ruhe im Inneren und an den Grenzen, um den komplizierten Umgestaltungsprozess, der längst nicht abgeschlossen ist, weiterzuführen. Austausch und Zusammenarbeit mit dem Ausland, um sich weiter zu entwickeln. Akzeptanz und Sicherheitsgarantien des Westens, um sich auf die inneren Aufgaben konzentrieren zu können. Eine destabilisierte Ukraine liegt ganz sicher nicht im Interesse Russlands. Eine vom Westen und der NATO genutzte Krim aber natürlich auch nicht.“ Und Seipel verweist hinsichtlich des Baltikums und Polens darauf, dass „diese Staaten längst NATO-Mitglieder sind und ein solcher Versuch nach dem NATO-Vertrag sofort den nächsten Weltkrieg auslösen würde“.
In seinem Heimatland erfreut sich der im Westen viel geschmähte russische Präsident bekanntlich sehr hoher Beliebtheitswerte, die noch einmal gestiegen sind, seit er die Krim „heimgeholt“ hat und sich an die Seite der russischstämmigen Aufständischen in der Ost-Ukraine gestellt hat. Hiesige Kommentatoren vermitteln nicht selten den Eindruck, das seien die einzigen Gründe für Putins Beliebtheit bei den Russen, was implizit die Botschaft gleich mitübermittelt, dass man bei einem Volke, das seine Sympathien nach solchen Kriterien vergibt, vielleicht doch besser vorsichtig sein sollte. Es könnte allerdings auch noch handfeste andere Gründe für Putins heimische Beliebtheit geben. Ende 1999, zu Putins erstem Amtsantritt – die folgenden Zahlen hat Seipel beim früheren Chefökonom der Weltbank, Joseph Stieglitz, gefunden – lebte fast ein Viertel der russischen Gesamtbevölkerung unterhalb der auf zwei Dollar pro Tag zum Leben angesetzten Armutsgrenze. Mit weniger als vier Dollar mussten gar über 40 Prozent der Russen auskommen. Heute leben mit elf Prozent der Russen zwar immer noch viel zu viele unterhalb der Armutsschwelle, aber doch nicht einmal mehr halb so viele wie 1999.
Darüber hinaus ist die Rolle der hiesigen Medien, insbesondere der Leitmedien, beim Aufpolieren des Feindbildes Russland den Journalisten Krone-Schmalz und Seipel manche kritische Bemerkung über Einseitigkeit, doppelte Standards und „Dämonisierung Russlands“ wert; und beide Autoren haben keine Mühe, ihre Einschätzungen mit einschlägigen Beispielen zu belegen. Das Thema Ukraine sei dabei, so Krone-Schmalz, „nicht das einzige, bei dem al­les, was nicht in westliche Argumentationslinien passt, als russische Propaganda abgetan wird. Die Extreme schaden: Alles für bare Münze zu nehmen, wenn es aus Moskau kommt, ist genauso falsch, wie alles für Propa­ganda zu halten, weil es aus Moskau kommt. Und damit sind wir […] bei der Aufgabe von Journalisten: Infor­mationen und Einschätzungen erst einmal zur Kenntnis nehmen, sich damit befassen, überprüfen, das Umfeld sichten und dann entscheiden, ob es sich um pure Propa­ganda handelt oder doch ernst zu nehmen ist.“ Dass dies immer weniger geschieht, hat fatale Folgen: „Politischer Fortschritt im Sinne von Ergebnis­sen, von Lösungen, unterbleibt, weil eine unheilige Allianz zwischen profilsüchtigen Politikern und ebensolchen Journalisten Halbwahrheiten verbreitet, die dem Zeitgeist entgegenkommen.“ Solches Verhalten ist allerdings keineswegs alternativlos: „Die Kritik fällt anders aus, wenn man sich in die Lage desjenigen versetzt, den man kritisiert. Deswegen muss man nicht alles akzeptieren. Aber man muss es verstehen und einordnen können, wenn man urteilen will.“
Auch die tonangebende Rolle der USA bei der Verschärfung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland schon in den Jahren vor dem Ukraine-Konflikt wird von beiden Autoren im leider notwendigen Maße gewürdigt. So zeichnet Seipel unter anderem detailliert die Vorgeschichte und den Verlauf des Georgien-Krieges von 2008 nach, den Washington wider besseres Wissen von Anfang an und bis heute den Russen in die Schuhe schiebt. Ausgelöst wurde dieser Krieg allerdings durch einen Großangriff georgischer Streitkräfte gegen die abtrünnige Provinz Südossetien. Der offizielle Abschlussbericht der von der Europäische Union eingesetzten Untersuchungskommission, aus dem Seipel zitiert, stellte fest: „Es gab keine Attacke durch Russland vor dem Beginn der militärischen Operation Georgiens.“
Alles schön und gut, wird mancher nun vielleicht sagen. Aber es war doch Putin, der gedroht hat: „Wenn ich will, kann ich Kiew in zwei Wochen einnehmen.“ Gegenüber dem damaligen EU-Kommissionschef Barroso, der die Sache öffentlich machte. Der Satz ging wie ein Lauffeuer durch die deutschen Leitmedien.
Seipel, der Putin noch am selben Abend, als die Meldung über die Ticker lief, dazu befragen konnte, berichtet, dass der Präsident emotional reagiert habe: „‚So ein Idiot‘, platzt es aus ihm heraus, bevor er sich wieder fängt und ungläu­big nachfragt: ‚Hat er das wirklich gesagt?‘ […] Für Putin fällt Barrosos Statement in die Kategorie psy­chologische Kriegsführung. ‚Ich habe Barroso eben genau dies als klares Anzeichen dafür genannt, dass wir keine Absichten haben und hatten, in Kiew einzumarschieren […]. Es war genau das Gegenteil davon.‘“
Als Moskau in einem offiziellen Brief an die EU-Kommission ankündigt, binnen 48 Stunden das gesamte Gespräch zu veröffentlichen, falls Barroso seine Aussage nicht korrigiere, lässt der seine Pressesprecherin gegenüber dem Wallstreet Journal erklären, die in einem vertraulichen Gespräch gefallene Bemerkung sei bedauerlicherweise „aus dem Zusammenhang gerissen“ worden.