Ein Kongress voller Widersprüche

Stephan Krull zum IG Metall-Gewerkschaftstag

in (29.12.2015)

Die IGM ist für Frieden, aber auch für die Sicherung der Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie. Sie ist dafür, TTIP zu stoppen, ebenso wie für weitere Verhandlungen. Sie ist für gewerkschaftliche Solidarität und schwächt den DGB. Sie ist sowohl für das uneingeschränkte Streikrecht als auch für das sogenannte Tarifeinheitsgesetz. Solche Widersprüche stehen für die Verunsicherung und eine gewisse Orientierungslosigkeit der Gewerkschaft, die doch so wichtig ist und so große Aufgaben zu erfüllen hat. Orientierungslos scheint die Gewerkschaft, weil sie über keine brauchbare Analyse der gegenwärtigen Krise verfügt.

Die Schwächung des DGB könnte sich dabei als verhängnisvoll herausstellen, weil die Konkurrenz zwischen den beiden großen Gewerkschaften IG Metall und ver.di verstärkt wird. Die IG Metall legte bei wenigen Gegenstimmen und ohne große Debatte in der Satzung fest, nur noch solche Beschlüsse des DGB für bindend zu erachten, die den Interessen der IG Metall nicht entgegenstehen. In Verbindung damit wurde der Organisationskatalog neu beschlossen und ergänzt. Zum Organisationsbereich der IG Metall gehören jetzt alle Betriebe der »Wertschöpfungskette« für die Endprodukte im Metall- oder Elektrobetrieb, in der Holz- und Textilindustrie. Allerdings beschränkt sich diese Wertschöpfungskette auf die Prozesse im Inland, da die IG Metall ja eine nationale Organisation ist. Die Organisationskonflikte z.B. mit ver.di im Logistikbereich können so nicht mehr vom DGB »geschlichtet« werden.

 

       Gute Arbeit – gutes Leben – IG Metall

So lautete das Motto des 23. Ordentlichen Gewerkschaftstages im Oktober, der im Schatten des Abgasbetruges bei Volkswagen stattfand. Das »Abgasdebakel« (»weil ein paar Idioten Abgaswerte schönen«) wurde verurteilt, die ersten Reaktionen des Managements und anderer »Experten« wurden in einer gemeinsamen Erklärung von IG Metall und VW-Konzernbetriebsrat als Generalangriff auf die Mitbestimmung zurückgewiesen. Die Beschäftigung und die Wettbewerbsfähigkeit werden als gleichrangige Ziele genannt, die von IG Metall und Betriebsrat gemeinsam verfolgt werden. Inzwischen ersetzt Jörg Hofmann als Chef der IG Metall Berthold Huber als stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrates von VW. Ob von ihm Impulse für einen grundlegenden Neustart bei Volkswagen kommen werden, muss noch abgewartet werden.

 

       Tarifliche, politische und organisatorische Erfolge …

Nach vielen Jahren des Verlustes von Mitgliedern, Tarifbindung und politischem Einfluss konnte beim Kongress eine gute Bilanz gezogen werden: Der Mindestlohn wurde politisch durchgesetzt, ebenso gelang – mit der neuen Regelung, dass man nach 45 Jahren Beitragszahlung mit 63 Jahren ohne Abschläge in Ruhestand gehen können soll – immerhin ein Einstieg in den Ausstieg aus der Rente mit 67. Für Leiharbeitsbeschäftigte wurden Tarifverträge abgeschlossen, die deren Konditionen verbessern – was gleichzeitig eine Anerkennung und Verstetigung der Leiharbeit an sich ist. Der Mitgliederschwund konnte gestoppt werden, Projekte zur Mitgliedergewinnung bei technischen Angestellten und in neuen Branchen (z.B. Windenergie) haben zu mehr Mitgliedern und einer wieder stärkeren Organisationsmacht geführt. All dies hat zu mehr politischer Anerkennung und zu wachsendem gesellschaftlichen Einfluss geführt.

 

       … aber Angst vor der eigenen Courage

Die Delegierten bewerteten die Bilanz des scheidenden Vorsitzenden Detlef Wetzel positiv. Dass die IG Metall nicht aktiv gegen die Spaltung des Arbeitsmarktes durch Erwerbslosigkeit und die Praxis der Werkverträge vorgeht, ist erklärbar durch eine Angst vor Niederlagen in diesen Themenbereichen, also mangelndes Selbstvertrauen, und durch den viele Jahre erprobten Krisenkorporatismus. Beides geht zu Lasten der Erwerbslosen wie der Beschäftigten, und der programmatische Vorsatz »Gute Arbeit – gutes Leben« wird so nicht umgesetzt werden. Prekäre Arbeit ist schlechte Arbeit und kann nicht zu gutem Leben führen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, dass die Spaltung des Arbeitsmarktes in der Debatte auf Stamm- und Randbelegschaft reduziert wurde: Die Erwerbslosigkeit und die Erwerbslosen waren und sind für die IG Metall erkennbar kein Thema. So wird der wesentliche Hebel für den sich ausweitenden Niedriglohnsektor und eine Zunahme prekärer Arbeit vernachlässigt, und es gibt keine wirksame und autonome Gegenstrategie.

 

       Der Daimler-Konflikt

Bezeichnend dafür ist die Auseinandersetzung um Werkverträge und Fremdvergabe bei Daimler in Bremen, der Protest vieler Beschäftigter dagegen und die Weigerung der IG Metall, diese Kolleginnen und Kollegen durch Rechtsschutz zu unterstützen. Der Bevollmächtigte der Bremer IG Metall verstieg sich zu der Aussage, dass »eine Splittergruppe« viele hundert Kolleginnen und Kollegen »aus dem Tor herausgeführt hat«, ohne dass die IG Metall dazu aufgerufen hätte. Er mokiert sich darüber, dass die Kollegen die gänzliche Abschaffung von Leiharbeit sowie »ein erweitertes Streikrecht« fordern, wohl wissend, dass das Streikrecht nirgendwo derart reglementiert ist wie in Deutschland. Wie im Fall von Emmely – da war allerdings ver.di die zuständige Gewerkschaft – ziehen sich die Funktionäre auf formale Positionen zurück, verweigern die inhaltliche Auseinandersetzung und glauben, den Kampf vermeiden zu können. Dazu bleibt eigentlich nur, an Bert Brecht zu erinnern: »Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und läßt andere kämpfen für seine Sache, der muß sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will, denn es wird kämpfen für die Sache des Feindes, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.«

Weder die Brisanz der Abmahnungen gegen 761 Kolleginnen und Kollegen, noch die Chancen, die in der Klage von 32 Betroffenen gegen diese Abmahnungen liegen, werden von der IG Metall erkannt, wie der erfahrene Rechtsanwalt Benedikt Hopmann schreibt. Obwohl auch die Vertrauenskörperleitung im Werk den Rechtsschutz für diese Kolleginnen und Kollegen reklamiert, wird dieser vom Ortsvorstand wie vom Vorstand in Frankfurt nicht gewährt. Hintergrund ist, dass die Gewerkschaft insgesamt Werkverträge und Leiharbeit nicht verhindern will, weil solche prekäre Arbeit zur »Standortsicherung« der großen Konzerne, zur Exportstärke und angeblich zur Beschäftigungssicherung beitragen soll. Es ist dem Standortkorporatismus der Gewerkschaftsführungen und der »exklusiven Solidarität« (Dörre) der »Stammbelegschaften« geschuldet, dass die Gewerkschaft sich so dem Diktat der Profitmaximierung unterordnet.

 

       Gute Sozialpolitik reicht nicht

Hans-Jürgen Urban ist als linker Gewerkschafter mit deutlich antikapitalistischen Positionen und einem der besten Stimmergebnisse erneut in den geschäftsführenden Vorstand gewählt worden. Vorher hat er unter anderem für eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungssysteme plädiert. Weitere sozialpolitische Positionen wie zu einer armutsfesten Alterssicherung ohne die gescheiterte »Riester-Rente« oder zu einem Entgeltgleichheitsgesetz, wie sie von Urban vorgetragen wurden, fanden großen Beifall und Unterstützung bei den Delegierten. Aber fast alle Bemühungen um »gute Arbeit« und soziale Sicherheit scheitern bisher an den realen Machtverhältnissen in den Betrieben und im Staat. Ein vorsichtiger Versuch eines Delegierten, die Sozialpartnerschaft mit Hinweis auf Lohn- und Rentenentwicklung in Frage zu stellen, fand kein Echo und wurde vom Vorstand (Detlef Wetzel) mit Hinweis auf die Erfolge des sozialen Dialogs ausgerechnet am Beispiel der EU-Regelung zum CO2-Ausstoß abgebügelt. Den Widerspruch zwischen linken Ansprüchen einerseits und der sozialpartnerschaftlichen Praxis der Gewerkschaftsführung andererseits hielten die meisten Delegierten schmerzlos aus – für andere stellt sich die Frage nach der Rolle verbal linker Positionen, wenn diese in der alltäglichen Arbeit von Gewerkschaftssekretärinnen, Betriebsräten oder Vertrauensleuten ebenso wenig eine Rolle spielen wie in der kooperativen Zusammenarbeit der Gewerkschaftsführung mit den Spitzen von Regierung und Arbeitgebern. Die Geburtstagsfeier von Berthold Huber im Kanzleramt war da nur die unappetitliche Spitze des Eisberges. Unterschiedslos wurden Merkel, Gabriel und Nahles als kurzzeitige Gäste auf dem Gewerkschaftstag gefeiert.

 

       Arbeitszeitkampagne beschlossen

Die Arbeitszeit bildete einen wesentlichen Schwerpunkt der Debatte und der Beschlussfassung. Ausgangspunkt sind die absehbaren Produktivitätssteigerungen sowie die ungleiche tarifliche Arbeitszeit in West- und Ostdeutschland. Die IG Metall bezeichnet die Arbeitszeit als zentrales tarifpolitisches Thema und will sich in einer Kampagne von 2016 bis 2018 dafür einsetzen, die Arbeitszeit in allen Branchen, vor allem in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie, auf die 35-Stunden-Woche zu senken. Letzteres wurde erst nach der Debatte in den Leitantrag zur Arbeitszeit eingefügt. Ein neuer Anlauf nach der traumatischen Niederlage im Sommer 2003. Ansonsten wurde ein Sammelsurium von Zielen dieser Kampagne benannt: Erfassung und Vergütung der Arbeitszeit, Weiterbildung, Beschäftigungssicherung, Gesundheit, Souveränität, Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, persönliche Flexibilität und einiges mehr. Nur die Überwindung der Erwerbslosigkeit wurde bei der Benennung der Ziele »vergessen«.

Gesellschaftlich soll ein neues Leitbild der Arbeitszeit entwickelt werden – gegen die »Kultur der Langzeitarbeit«. Betrieblich sollen Projekte wie Altersteilzeit, Bildungszeit sowie Arbeitszeit und Leistungspolitik angegangen werden. Tariflich werden die Arbeitgeber an die Gesprächsverpflichtung zur Arbeitszeit ermahnt. Politisch steht die Forderung nach einem Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit, um die Teilzeitfalle abzuschaffen bzw. den Männern die Angst vor der Teilzeitfalle zu nehmen. Die Forderung nach der Verkürzung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche wurde nicht abgelehnt, sondern als Material zum Leitantrag be­schlossen.

Die Umsetzung dieser Kampagne, insbesondere der 35-Stunden-Woche in den ostdeutschen Bundesländern, wird eine große gesellschaftliche Auseinandersetzung werden. Diese muss durch eine intensive Debatte in der Gesellschaft, in den Gewerkschaften, in den Tarifkommissionen vorbereitet werden. Die gesellschaftliche Debatte ist auch deshalb erforderlich, weil die Gewerkschaft auf breite Unterstützung angewiesen sein wird, wie alle Erfahrungen von Kämpfen um die Arbeitszeit belegen.

 

       Schwachstellen

Die grundlegende Schwäche besteht darin, über keine wirkliche und gemeinsam getragene Analyse der Krise des kapitalistischen Systems in Deutschland bzw. in der globalen Wirtschaft und der Auswirkungen des deutschen Exportbooms zu verfügen. Ohne diese Analyse gibt es keine adäquate, interessengeleitete Strategie zur Überwindung der Krise. Der »bewährte« Krisenkorporatismus mit Regierung und Arbeitgebern wird weiter gepflegt in der Hoffnung, es werde schon irgendwie gut gehen.

Eine zweite Schwachstelle ist die abnehmende Tarifbindung durch Flucht von Betrieben aus den tarifgebundenen Arbeitgeberverbänden. Ohne solche Tarifbindung, ohne Betriebsräte und oft ohne ausreichend Mitglieder in diesen Branchen und Betrieben ist die IG Metall nicht wirkungsmächtig.

Die Konkurrenz im Betrieb durch die vielfache Spaltung der Belegschaft in Stammbeschäftigte mit unterschiedlichen Tarifverträgen, in Leiharbeiterinnen mannigfacher Leihfirmen und Werkvertragsbeschäftigte verschiedener Auftragnehmer macht gemeinsames, an einem Ziel orientiertes Kämpfen fast unmöglich.

Die weiter oben beschriebenen Widersprüche in so wesentlichen Handlungsfeldern wie Krieg und Frieden oder bei TTIP erschweren gemeinsames Handeln. Die Tatsache, dass dem Bewusstsein vieler Gewerkschaftsmitglieder die Hetze der bürgerlichen Parteien und die von AfD und Pegida erzeugte Pogromstimmung durchaus entsprechen, ist eine der größten Herausforderungen nicht nur für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit.

 

       Hoffnung

Beim Kongress wurde eine neue Führung gewählt. Das war länger geplant, vorbesprochen und deshalb keine Überraschung: Jörg Hofmann als Vorsitzender und Christiane Benner als zweite Vorsitzende. Bemerkenswert bleibt, dass mit Christiane Benner erstmals seit 125 Jahren eine Frau an die Spitze dieser männerdominierten Gewerkschaft gewählt wurde.

Mit diesem Gespann ist die Hoffnung verbunden, dass sich eine neue Kultur entwickeln und ausbreiten kann, dass die Beteiligung der Mitglieder nicht auf formale Erklärungen beschränkt bleibt, dass neue Akzente gesetzt werden. Christiane Benner fing damit schon mal an, als sie zur Arbeitszeitdebatte formulierte: »Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen – Fenster auf, Sonne rein!« Ob diesen Worten jetzt Taten folgen werden, ob das übervorsichtige Agieren in vielen Fragen, ob die Angst vor Niederlagen überwunden werden kann, hängt auch von der gewerkschaftlichen Linken ab. Das war übrigens eine offensichtliche Schwäche: Linke Gewerkschaftskolleginnen und Gewerkschaftskollegen haben sich nicht bzw. nicht gemeinsam auf die Debatten dieses Gewerkschaftstages vorbereitet. Auch deshalb sind einige Beschlüsse verabschiedet worden, einige Positionen festgeklopft worden, die durch gemeinsames agieren linker Kolleginnen und Kollegen hätten anders ausfallen können.

Es bleibt, dass die Gewerkschaft »das Stärkste ist, was die Schwachen haben«. Zu den Mühen der alltäglichen gewerkschaftlichen Kleinarbeit, zu Streit über die strategische Ausrichtung und zu einer letztlich solidarischen Aktionsorientierung gibt es keine Alternative. Die große Demonstration gegen TTIP mit 250.000 Teilnehmerinnen am 10. Oktober 2015 eine Woche vor Beginn des Gewerkschaftstages hat gezeigt, was Gewerkschaften mobilisieren können und was die Zivilgesellschaft in unserem Land dringender denn je benötigt.

 

*  Stephan Krull war lange Betriebsrat bei VW und im Vorstand der RLS Niedersachsen; er ist aktiv in der Bildungsarbeit und in der bundesweiten attac AG ArbeitFairTeilen.

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