„Die Schellenklänge der Landserpublizistik“

Dokument: Roger Willemsens Rede auf dem Kongress „Medien und Krieg. Vom Fernsehbild zum Feindbild“

Am 7. Februar 2016 ist der linke Journalist und Autor Roger Willemsen im Alter von 60 Jahren gestorben (vgl. GWR 407). Im Februar 2002 hat der Antimilitarist auf dem Kongress „Medien und Krieg. Vom Fernsehbild zum Feindbild“ im Bennohaus Münster eine bewegende Rede gehalten. Wir dokumentieren das bisher unveröffentlichte Zeitdokument in mehreren Teilen. Teil 2 erscheint im Juni 2016 in der GWR 410. (GWR-Red.)

 

Guten Morgen. Meine Damen und Herren, ich habe eigentlich nicht vor, einen Vortrag zu halten, und bin auch erst durch das Programm überrascht worden, dass ich einen halten soll. Ich möchte lieber ein paar Überlegungen anstellen, ganz einfach, und ich fürchte, dass ich in diesem Fall, so erfreulich das auch ist, Eulen nach Athen trage. Denn das Meiste werden Sie wissen. Trotzdem glaube ich, dass es sich lohnt, sich noch einmal Gedanken zu machen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil wir hier in einer merkwürdigen Situation der Defensive sitzen. Es ist lange nach der Zeit, zu der es nötig gewesen wäre, die erste Gelegenheit, ich glaube, die erste Gelegenheit in Deutschland überhaupt, sich zu treffen und sich darüber Gedanken zu machen, was diesen Krieg motiviert hat und was vor allem die Berichterstattung dieses Krieges geleitet hat und was sie auch im Vergleich zu dem, was im Ausland zu erfahren war, ausgemacht hat.

 

Eine Zäsur

 

Wenn wir mal sagen, dieser Krieg ist zu einer Zäsur geworden, und wenn wir mal sagen, er liefe nicht mehr, de facto läuft er, wie wir wissen, ist es also innerhalb dieser Zäsur das erste Mal, dass wir zusammen kommen und uns zunächst einmal eines ganz klar machen müssen: Wir sind innerhalb dieser politischen Situation alle die Verlierer.

Und zwar auf eine massive Weise, denn ich glaube, dass es schon lange kein öffentliches Ereignis mehr gegeben hat, das so konsequenzlos durchgesetzt worden ist, das so vollkommen ohne Einsprache funktioniert hat, wie dieses.

Und dass die sogenannte linksliberale Öffentlichkeit – am liebsten würde ich den alten, guten Begriff von Ulrike Meinhof verwenden: „die Gegenöffentlichkeit“ – so komplett ausgeschaltet worden ist, wie es in diesem Kriegsfall der Fall gewesen ist. Das heißt auch, dass wir uns erst einmal darüber vergewissern müssen, dass keine Diktatur diesen Krieg hätte reibungsloser durchführen können, als es dieser Demokratie gelungen ist, dass es nie eine Situation gegeben hat, in der kritische Stimmen auf vergleichbare Weise marginalisiert und kriminalisiert worden wären, und dass es auch kaum eine Situation gegeben hat, in der sich die deutsche Presse auf eine gewisse Weise unisono, einstimmig und ideologisch undifferenziert geäußert hat, und das über viele Wochen und Monate hinweg, wie es in diesem Fall war.

Dazu gehört auch, dass Deutschland das, soweit ich es beobachten kann, einzige europäische Land gewesen ist, das die kritischen Stimmen fast ausschließlich aus dem Ausland hat importieren müssen. Es sind bezeichnenderweise amerikanische Publizisten zu einem guten Teil gewesen, die in Deutschland publiziert wurden und durch die erst ausgesagt wurde, was an diesem Krieg, was an seiner Strategie und was an seiner ideologischen Begleitung fragwürdig gefunden werden könnte. Sie werden sich erinnern, dass selbst Stephen King oder Noam Chomsky, am Anfang Susan Sonntag und Arundhati Roy zum Beispiel große Stimmen gewesen sind, die sich zu diesem Krieg kritisch geäußert haben.

Sie werden vielleicht verstehen, dass ich es als eine maßlose Bigotterie empfinde, wenn das führende Nachrichtenmagazin Der Spiegel etwa zwei Monate, nach denen der Krieg läuft, einen Text von Arundhati Roy abdruckt und danach noch den traurigen Mut hat, die Leserbriefe abzudrucken, die schreiben: „Danke, Spiegel, für dieses wunderbare, kritische Elaborat. Du hast Dich getraut, das zu drucken. Gut, dass es kritische Öffentlichkeit gibt.“ Und dieser selbe Spiegel hat auf eine so entsetzliche Weise diesen Krieg mit einer Linie versehen und mit einer einzigen, wie ich finde, häufig durch den Nährwert des Voyeuristischen und Ideologischen diesen Krieg begleitet. Und er hat es sich dann nehmen lassen, dass der erste Arundhati Roy-Text, der meines Wissens der beste gewesen ist, ausgerechnet in der FAZ erschienen ist, und zwar in der ersten Woche des Krieges. Danach sind die Texte von Frau Roy in der Zeit und im Tagesspiegel erschienen. Und der allerletzte war dann Der Spiegel, weil er irgendwie doch ein mulmiges Gefühl kriegte. Das ist aber nur pars pro toto gesagt, denn wir können uns die Berichterstattung des Spiegels auch noch genauer angucken, und ein paar Bemerkungen werde ich dazu gerne noch machen wollen.

Ich möchte zwei Sachen trotzdem vorab sagen: Das Erste ist, dass es im Vorfeld dieses Krieges Genua gegeben hat, Genua mit der unglaublichen Attacke gegen Globalisierungsgegner, und dass das, was Globalisierungsgegner geäußert und was sie erlitten haben, im Wesentlichen darin kulminierte, dass die Folgen der Globalisierung, die sie zum Thema gemacht haben, nach dem 11. September sehr viel erheblicher und sehr viel dramatischer, sehr viel gefährlicher sind, als sie vorher gewesen sind. Es hat dieser 11. September unser aller Leben in vielerlei Hinsicht geprägt, aber in einer Hinsicht, die mir irreversibel vorkommt: Und zwar sind durch diesen 11. September Menschenrechte auf eine Weise marginalisiert wurden, wie es, glaube ich, seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall gewesen ist. Das kann man daran ungefähr erkennen, dass Gerhard Schröder sehr selbstbewusst sagt: „Ach, das Ansprechen von Menschenrechten in China, das sei doch immer nur“ – Achtung, ich zitiere – „ein Ritual gewesen“.

Das ist eine Aussage, die man vor einiger Zeit als bittersten Zynismus gesehen hätte, wo wir wissen, welche Bilder es gibt von Folterungen, von Massenerschießungen in Stadien, auf dem Tian‘anmen-Platz und so fort. Wenn Sie sich jemals mit Wei Jingsheng oder mit irgendeinem der chinesischen Menschenrechtler unterhalten haben, und dann geht ein sozialdemokratischer Kanzler hin und sagt, das war doch immer nur ein Ritual, dann ist das in einer Weise infam, dass man sagt, Stoiber ist im Vergleich dazu klare Luft zumindest, denn von dem erwartet man nichts anderes.

Das Zweite ist, dass man feststellen muss, dass diese sogenannte Allianz des Terrors die Globalisierung in der Hinsicht wesentlich mitprägt, dass sich plötzlich Staaten, die sich früher aus Menschenrechtsgründen Probleme beim Austausch der Waren machten, und nur darum geht es, keine mehr machen. Plötzlich kann Putin in Tschetschenien machen, was er will, und er gehört zur Allianz des Terrors, und keiner fragt mehr danach. Ich erinnere mich auch nicht, wann ich das letzte Mal über Tschetschenien in der Zeitung gelesen oder in den Nachrichten gehört habe. Plötzlich kann China in jeder Weise gegen die vermeintlichen Terroristen oder die Splittergruppen des eigenen Landes vorgehen, und niemand wird mehr den Finger heben, denn auch sie gehören zu einer Allianz des Terrors. Diese Allianz des Terrors wird ein Vorwand für eine Globalisierung von Wirtschaft in einem Maße sein und eine Marginalisierung von Menschenrechten in, glaube ich, wirklich unvorhergesehenen Ausmaßen haben. Man kann das auch im Kleinen sehen, wie tiefbesorgt Kofi Annan sich zeigt und wie relativ offen in der diplomatischen Sprache die Kritik von ihm etwa an dem Gefangenenlager in Guantanamo Bay ist oder wie er sich auch zur amerikanischen Linie in der Israel-Politik im Augenblick in einer relativ expliziten Weise stellt. Wenn man Kofi Annan pars pro toto für Menschenrechte nehmen will, und das ist eine These, die man so schon gutwillig vertreten kann, dann ist es trotzdem so, dass man sagen muss, in dieser Person scheint sich offenbar Menschenrecht als Gefährdetes zu artikulieren, und das ist ernst zu nehmen.

Es hat in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1986 ein Attentat auf die Diskothek La Belle in Berlin gegeben, und das ist keine Fußnote, sondern ein Paradigma, glaube ich. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Prozess fast zeitgleich abgeschlossen worden ist zu dem, was im September geschehen ist. Erinnern Sie sich daran, dass es durch dieses Attentat etwa 100 Verletzte gegeben hat. Es sind drei Menschen getötet worden, eine Türkin, zwei Amerikaner. Es war eine Diskothek, in die zu einem guten Teil amerikanische Soldaten gegangen sind. Dieser Anschlag hat dazu geführt, dass man sich in einer Außenministerkonferenz 1987 darüber beraten hat, ob man sich zu irgendwelchen Sanktionen gegen Libyen, das war der Staat, den man verdächtigte, dieses Attentat begangen zu haben, zusammen schließen soll.

Da hat man eine Außenministerkonferenz in London einberufen, und diese Außenministerkonferenz, damals noch unter Beteiligung des charismatischen Klaus Kinkel, hat entschieden, dass es auf gar keinen Fall irgendwelche Sanktionen geben solle und dass man sich auf diplomatischem oder ökonomischem Wege mit der Situation auseinander zu setzen hätte. Im selben Augenblick, als diese Konferenz abgehalten wurde, saß Margaret Thatcher bereits mit Ronald Reagan zusammen und hatte sich mit ihm darauf verständigt, dass es Militärschläge geben würde und dass sich diese Militärschläge gegen Tripolis und Bengasi richten würden und dass sie ihr Motiv darin hätten, dass die Berliner Diskothek bombardiert worden war.

 

bizarr

 

Es ist eine bizarre Fußnote der Geschichte, dass die Diplomatie zeitgleich zu einem konträren Ergebnis zu dem kommt, was die Strategie will – und wir sind ja weitgehend in einem strategischen Denken, was die amerikanische Politik nach dem 11.9. betrifft, befangen – und dass man also in dem Augenblick gesagt hat, nein, die militärischen Schläge würden vorgezogen. Damals haben sich die Deutschen noch geziert, die Bundesrepublik als Gebiet zu einer sogenannten Überflugzone zu erklären. Und die Amerikaner haben später gesagt, dass die mangelnde Zielgenauigkeit bei den Treffern in Tripolis und Bengasi darauf zurück zu führen wäre, dass die Deutschen die Überfluggenehmigung nicht erteilt hätten und dass dadurch die amerikanischen Piloten so müde gewesen wären, dass sie die Bomben schon mal früher herunter gelassen und dass sie somit die Falschen getroffen hätten. Also, dümmer geht’s nimmer.

 

paradigmatisch

 

Trotzdem ist interessant an diesem Fall oder deswegen habe ich gesagt, dass es paradigmatisch für den jetzigen Fall ist, dass es damals möglich war, hinzugehen und zu sagen, dass es Beweise dafür gäbe, dass Muammar al-Gaddafi persönlich an dem Attentat auf La Belle beteiligt gewesen wäre. Diese Beweise sind auch 15 Jahre später nicht erbracht worden. Es hat damals einen BND-Chef namens Hans-Georg Wieck gegeben, der gesagt hatte, es sei ein „illoyaler Akt“, Beweise Hinweise zu nennen. Verstehen Sie? Das ist dieselbe semantische Veränderung, die wir jetzt erleben. Es sei ein illoyaler Akt, Beweise Hinweise zu nennen. 15 Jahre später gibt es keine Beweise. Es werden dann irgendein Palästinenser und irgendein Libyer mit möglicher Verbindung zu dem libyschen Geheimdienst verurteilt. Der Prozess kehrt eigentlich das um, was wir kennen. Im normalen rechtsstaatlichen Gebaren beweist man niemanden mit einer Bombardierung, dass er schuldig sei, und überlegt sich danach, ob man auch einen Prozess führen und feststellen muss, ob diese Schuld auch besteht.

Dieser Fall ist deswegen für mich so wichtig, deswegen habe ich ihn an den Anfang gestellt, weil ich denke, dass es einer der Fälle gewesen war, an denen man sehen konnte, wo man das Menschenrecht, wo man das Völkerrecht, wo man die Einhaltung von Statuten, die man sich zu Friedenszeiten gibt und mit denen es sich gut leitartikeln lässt, mit denen sich gut Feierreden halten lassen, mit einem Schlag überwarf, wo man Zivilbevölkerung hingeschlachtet hat zu Tausenden. Auch in diesem Fall wissen wir bis heute die Zahl der Opfer nicht, wir wissen aber, dass es maßgeblich Zivilbevölkerung gewesen ist, und wir wissen, dass mit diesem „Strafakt“ oder „Vergeltungsschlag“, wie es dann heißt, diejenigen getroffen worden sind, die in keiner Weise schuldig waren, und dass sich die Supermacht Amerika in diesem Fall das Recht herausgenommen hat, diese Sanktionen zu vollstrecken. So wie es in vielen anderen Fällen auch gewesen ist. Deshalb ist es immer so bizarr, dass da vom ersten Krieg im 21. Jahrhundert gesprochen wird und man vergisst, dass Amerika seit 1945 an insgesamt 300 militärischen Konflikten beteiligt gewesen ist. Und es fällt äußerst schwer, ein Land zu nennen, in dem die USA nicht in wesentlicher Hinsicht auch an der Etablierung von Terrorregimen beteiligt gewesen sind, sei es Pol Pot, sei es Pinochet, sei es Khomeini ... Das heißt: An diesem Musterfall, der 15 Jahre zurück liegt, konnte man genau das ablesen, was in diesem Fall passieren würde. Es gibt keinen Rechtsbruch, kein militärisches Vorgehen, keine Propaganda, keine Verkehrung von Fakten, die in diesem Fall nicht bereits stattgefunden hat, die jetzt nur weiterentwickelt wird. Damit Sie nicht glauben, dass sei nur ein einmaliger Ausrutscher der amerikanischen Außenpolitik gewesen. Und es sei nur als Fußnote angeführt, dass auch vor einiger Zeit nach den Anschlägen in Afrika eine angebliche Chemiefabrik im Sudan bombardiert worden ist, in Khartoum, sie ist in Schutt und Asche gelegt worden. Das war unter Bill Clinton, weil man gesagt hat, dass da Chemiewaffen hergestellt würden. Inzwischen sind die Konten dieses Besitzers der Fabrik längst wieder freigegeben worden, was ein Eingeständnis der amerikanischen Regierung dafür war, dass dieser Mann ausschließlich Medizin hergestellt hat.

Wir haben aber weder Nachrichten, Medien, Sender noch Journalisten, die schreiben würden, dass wir jetzt mal nachgucken müssten, wer eigentlich im Sudan Medizin produziert. Sie haben die Medizin ja nicht aus Spaß produziert. Wer stirbt also daran? Nicht nur an dem Militärschlag gegen eine Fabrik, vollkommen willkürlich, ohne irgendeine juristische oder völkerrechtliche Absicherung.

 

Welche humanitäre Situation entsteht eigentlich in einem Land wie dem Sudan, wenn man ihm eine erhebliche Medizinfabrik zusammenbombt?

 

Aus diesen beiden historischen Ereignissen hätte man ohne weiteres bereits ableiten können, dass das Prinzip der Willkür oder der Western-Moral in diesen Fällen ausschließlich als tragfähige Moral befunden werden würde, um politische Fragen zu lösen.

 

Transkription für die GWR: Jörg Siegert

Redaktionelle Bearbeitung: Bernd Drücke

Wir danken Kathrin Vogler und Elvi Claßen für das Zur-Verfügung-Stellen des Tondokumentes.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 409, Mai 2016, www.graswurzel.net

Teil 2 dieser Rede erscheint im Juni in der Graswurzelrevolution Nr. 410