Australiens panische Reaktion auf die sogenannten »Boatpeople«

in (21.06.2016)

»Stop the boats!« war eine der beherrschenden Parolen in der Wahlkampfphase der australischen Parlamentswahlen 2013. Sie endete am 7. September mit einem Sieg der von Tony Abbott geführten konservativen Koalition.

Die »boats« sind überalterte, zumeist überladene Fischerkähne mit denen Asylsuchende versuchen, australisches Territorium im Indischen Ozean zu erreichen, beispielsweise die Weihnachts- oder die Ashmoreinseln. Die Boote starten zumeist in Indonesien. Ihre Passagiere kommen vor allem aus Afghanistan, Irak, Iran und Sri Lanka. Um nach Indonesien zu gelangen nutzen die Flüchtenden in der Mehrzahl normale Linienflüge, entweder direkt oder über das benachbarte Malaysia. Staatsbürgern der meisten islamischen Länder ist dort eine visafreie Einreise erlaubt.

In Indonesien angekommen, suchen sie Fluchthelfer, die für den letzten gefährlichen Teil der Reise die Boote organisieren. Der Preis für diese Dienstleistung liegt für jede_n Passagier_in zwischen umgerechnet etwa 3.500€ und 7000€. Flüchtende aus Sri Lanka, zumeist Tamilen, versuchen gelegentlich von Sri Lanka direkt zu den Kokosinseln zu segeln, die dem australischen Territorium zugehören und in etwa auf halben Weg zum australischen Festland liegen.

Beginnend mit dem Jahr 2008 kam es in Australien zu einem bisherigen Höhepunkt in der Zahl der ankommenden Asylsuchenden. Manche bezeichnen dies als die fünfte »Welle«. »Welle« ist hier sicher irreführend, zumal im Vergleich zu der Gesamtzahl von migrierenden Menschen weltweit in Australien höchsten von so etwas wie einem zarten Kräuseln (a ripple) gesprochen werden kann.

Die ersten »Boat people«

Dieser Periodisierung folgend gab es die erste sogenannte »Welle« in den 1970er Jahren. Sie begann nach dem Ende des Vietnamkriegs als 1976 fünf vietnamesische Flüchtlinge ihr kleines Fischerboot anhand eines alten Schulatlas durch Südostasien hindurch nach Darwin im Norden des australischen Kontinents navigierten. Mit diesem Ereignis erhielt die Formulierung »boat people« Einzug in die australische Umgangssprache. In den darauffolgenden fünf Jahren kamen 2.059 vietnamesische Asylsuchende mit dem Boot nach Australien.

Ab 1981 kamen keine weiteren Flüchtlinge mit dem Boot in Australien an. Erst ab 1989 erreichten in der so genannten zweiten »Welle« über die nächsten drei Jahre hinweg 654 Menschen in 15 Booten wieder Australien. Viele dieser Menschen waren aus Vietnam, auch wenn sie indirekt nach Australien kamen und vorher lange Zeit in Camps in Indonesien oder anderswo verbracht hatten. Andere waren chinesischer oder kambodschanischer Nationalität.

Die damalige Labor-Regierung reagierte auf diese Entwicklung mit der Einführung einer obligatorischen und unbefristeten Inhaftierung aller mit dem Boot ankommenden Asylsuchenden. Es wurden Internierungslager errichtet, die sich weit entfernt von den Städten, in abgelegenen Orten befanden,was den Zugang für Rechtsanwält_innen, Flüchtlingsunterstützer_innen oder Journalist_innen sehr erschwerte. Ziel dieser Praxis war Abschreckung – um weitere Flüchtlinge zu entmutigen – und Beschwichtigung der öffentlichen Meinung sowie des medialen Alarms um die »boat people«.

1993 erreichten wesentlich weniger Flüchtlinge Australien und danach begann die sogenannte dritte »Welle« mit der die Periode von 1994 bis 1995 bezeichnet wird. Diesmal kamen viele Menschen chinesisch-vietnamesischer Herkunft. Sie waren nach dem kurzen aber heftigen Grenzkrieg 1979 zwischen China und Vietnam aus Vietnam geflohen und von der UNHCR für mehr als zehn Jahre im Süden Chinas wieder angesiedelt worden. Diese Menschen lebten dort unter schwierigen Bedingungen und so entschieden sich manche, in Australien einen alternativen Platz der Zuflucht zu suchen.

Während in den 1990er Jahren die Zahl der Flüchtlingsboote schwankte, begann sie Ende der 1990er Jahre rapide zu steigen – die Nationalitäten der Passagiere änderte sich hierbei allmählich. Statt aus Südostasien kamen immer mehr Menschen aus Vorderasien – dem Irak, dem Iran und Afghanistan. Diese »Welle« erfuhr im letzten Quartal 1999 eine Beschleunigung, als allein im November 1.245 Asylsuchende Australien erreichten.

Diese Phase setzte sich bis 2001 fort. Die Anzahl der Flüchtlinge variierte zwar, doch kam es zu immer waghalsigeren Unternehmungen, zur Flucht über Indonesien in immer weniger, dafür aber größeren Schiffen in denen mehr Passagiere befördert wurden. Ende August 2001, im Vorfeld der Parlamentswahlen, rettete der Frachter Tampa 438 Asylsuchende von einem sinkenden Fischerboot. Die konservative Regierungskoalition unter Premierminister John Howard verhinderte, dass die geretteten Passagiere die Weihnachtsinsel betraten und setzte die sogenannte »Pazifische Lösung« (»Pacific solution«) um. Anstatt die Festnahme und Asylverfahren in dafür vorgesehenen Internierungslagern im australischen Hinterland durchzuführen, nutzte die Howard-Regierung das Budget der Auslandshilfe um die Republik Naru (eine kleine Insel, die durch jahrzehntelangen australischen Phosphatabbau völlig verwüstet ist) und Papua Neuguinea dahingehend zu bewegen, die Asylverfahren im Namen Australiens zu übernehmen.

Die Howard-Regierung setzte zudem die Marine ein, um die Boote der Asylsuchenden im Indischen Ozean abzufangen und wenn möglich, nach Indonesien zurückzuschicken. Vier Boote mit insgesamt 500 Flüchtlingen wurden so zur Umkehr gezwungen. In vielen anderen Fällen hatte dieses Abfangen der Boote aber zur Folge, dass die Flüchtenden ihre Boote für eine Rückkehr nach Indonesien auf hoher See untauglich machten, was sowohl die Passagiere der Flüchtlingsboote als auch australische Seeleute einem großen Risiko aussetzte und manchen das Leben kostete.

Kurz nach der Tampa-Affaire kamen keine weiteren Flüchtlingsboote an. Ob dies allein eine Folge der restriktiven Politik der Howard-Regierung war, ist fraglich. Es spielten auch andere Faktoren eine Rolle – beispielsweise der Sturz des Talibanregimes in Afghanistan, das staatliche Vorgehen gegen die Fluchthelfer in Indonesien und der abschreckende Effekt der sogenannten SIEV X Katastrophe im Oktober 2001. Damals ertranken 353 Menschen, zumeist Frauen und Kinder, als ihr über-fülltes Boot auf der Überfahrt nach Australien sank. (Jedes Flüchtlingsboot wird einer bürokratischer Terminologie gemäß als SIEV »Suspected Illegal Entry Vessel« bezeichnet und erhält seiner Ankunft nach eine Nummer. Das ›X‹ steht in diesem Fall für ›Unbekannt‹, da das Schiff nie ankam und somit nie eine Nummer erhielt.)

Ruhe vor der Panikmache

Die Howard-Regierung wurde 2001 sowohl als auch 2004 wiedergewählt. Bis 2008 kamen wenige Bootsflüchtlinge in Australien an. In dieser Periode erschien die öffentliche und politische Debatte um Asylsuchende reflektierter und anteilnehmender. Es gab parteiübergreifend Bemühungen um Alternativen zur Internierung von Familien zu finden. Nachdem die Labor-Partei unter Kevin Rudd 2007 das Regierungsamt übernahm, wurde die »Pazifische Lösung« abgeschafft. Die unbefristete Internierung wurde wieder eingeführt, Asylsuchende nach Gesundheits- und Sicherheitschecks aber frei gelassen und ihnen erlaubt in einer Gemeinde zu leben und zu arbeiten bis ihr Antrag auf Asyl entschieden war.

Als die Zahl der Bootsankünfte wieder stieg, brach gegen Ende 2008 die öffentliche Hysterie und die medial lancierten panischen Reaktionen wieder durch. Die fünfte »Welle«, die bis heute anhält übertraf schnell den Höchststand der vierten von 1999. In den zwölf Monaten bis zum Juni 2012 erreichten 110 Boote mit fast 8.000 Flüchtlingen Australien. Dies waren etwa doppelt so viele als in vergleichbarer Periode zwischen 1999 und 2000. In den folgenden zwölf Monaten, bis Juni 2013, stieg die Zahl der ankommenden Flüchtlinge um das Dreifache: In 403 Boote erreichten 25.000 Menschen Australien.

Nachdem Julia Gillard Kevin Rudd als Labor-Premierministerin Mitte 2010 ablöste, suchte sie schnell aber erfolglos nach einer »Lösung«, um die ankommenden Boote zu stoppen. Ihre Lösungsstrategie in dieser Frage wurde zunehmend restriktiver. So werden Asylsuchende beispielsweise seitdem wieder unbefristet inhaftiert. Bei Überfüllung entsprechender Einrichtungen zur Internierung werden sie über ein befristetes Visa in die Gemeinde entlassen. Das Recht zu arbeiten oder zu studieren bleibt ihnen jedoch verwehrt. Sie sind statt dessen gezwungen mit 85% der geringfügigen Leistungen auszukommen, die arbeitslosen Australier_innen gewährt werden.

Die australische Regierung prüfte auch wieder Möglichkeiten, Flüchtlinge zur Bearbeitung eines Antrags auf Asyl vor die Küsten Australiens zu schicken und verhandelte zunächst mit der Regierung Ost-Timors sowie mit der von Malaysia. Ein Deal mit Malaysia kam zwar zustande, wurde aber vom Obersten Gerichtshof Australiens als unrechtmäßig eingezogen. Als Begründung verwies das Gericht unter anderem darauf, dass Malaysia die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat. Letztendlich verhandelte die Gillard-Regierung, genau so wie die vorangegangene Regierung unter Howard, wieder mit Papua Neuguinea und Nauru um Asylsuchende für ein Asylverfahren aufzunehmen. Der Unterschied zum vorangegangenen Deal lag darin, dass die Regierungen von Papua Neuguinea und Nauru nun die Asylanträge ihrem eigenen Rechtssystem gemäß beurteilen. Anerkannte Flüchtlinge unterliegen hierbei dem so genannten Prinzip der »Nicht-Vorteilnahme« (engl. »no advantage« principle). Gemeint ist damit, dass in Papua Neuguinea und Nauru anerkannte Flüchtlinge keine schnellere Ansiedlung in Australien erwarten dürfen, als wenn sie nicht mit dem Boot nach Australien eingereist wären. Völlig unklar ist dabei, wie dieses Prinzip in der Praxis funktionieren soll. Es basiert auf der offensichtlich falschen Idee, es gäbe ein ordnungsgemäßes und vorhersehbares System einer globalen Ansiedlung von Flüchtlingen und jeder der einen Platz braucht auch einen bekomme, wenn nur alle dort warten wo sie sind. Die Konsequenz ist, dass Flüchtlinge für Jahre in Papua Neuguinea und Nauru fest sitzen, ohne Aussicht auf eine dauerhafte Lösung. (Sowohl Nauru als auch Papua Neuguinea haben angedeutet, dass sie sich selbst nicht in der Lage sehen, den Flüchtlingen ein dauerhaftes Zuhause zu bieten.)

Keine Perspektiven

Die im vergangenen September gewählte konservative Abbott-Regierung wird die von Labor eingeschlagene strikte Gangart im Wesentlichen weiterverfolgen. Zudem versucht sie einen Deal mit Jakarta in die Wege zu leiten, um ein Abfangen von Booten auf der Route nach Australien zu ermöglichen und sie direkt nach Indonesien zurückkehren zu lassen. Es ist zu erwarten, dass bei solchen Aktionen erneut das Leben von Flüchtenden und des australischen Personals gefährdet wird.
Einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen der Howard- und der Rudd/Gillard-Periode liegt hierbei in der Rhetorik mit dem der eingeschlagene restriktive Kurs legitimiert wird. Anstatt Asylsuchende einfach als »Illegale«, »Wirtschaftsmigrant_innen« oder »Vordrängler_innen (engl. queue jumpers)« (Menschen die in den Flüchtlingscamps geduldig auf ihre Wiederansiedlung warten sollten, anstatt direkt den Schutz Australiens aufzusuchen.) herabzustufen, behaupten australische Politiker_innen nun regelmäßig, dass sie im vollen Interesse der Asylsuchenden handeln, wenn sie, um »Leben zu Retten« ein restriktives Regime umsetzten.

Der Verlust hunderter von Menschenleben in den sich wiederholenden Schiffskatastrophen auf der Route nach Australien und an der Küste der Weihnachtsinseln hat eine nationale Debatte und emotionale Szenen im Parlament hervorgerufen. Während die Sorge um Menschenleben auf hoher See legitim erscheint, ist die restriktive australische Haltung tatsächlich eher Resultat des innenpolitischen Drucks. Die australische Gesellschaft reagiert tief verängstigt auf die Ankunft von Asylsuchenden, dies wird angefacht von populistischen Medien.

Mit der Umsetzung der nun auch durch den neuen Premierminister Abott bestätigten Praxis, Asylverfahren außer Landes durchzuführen, begann die Zahl ankommenden Bootsflüchtlinge zurückzugehen. Seit Juli 2013 kommt nun durchschnittlich ein Boot pro Woche in Australien an. In der ersten Jahreshälfte 2013 kamen bis dahin bis zu fünf Boote pro Woche. Es ist wie immer schwierig, dafür eine direkte Erklärung zu finden. Ist es die harte politische Grundhaltung die abschreckt oder spielen andere Faktoren eine Rolle? So oder so, die Vergangenheit zeigt, dass die Bootsankünfte von Flüchtlingen Schwankungen unterliegen, sowohl beeinflusst durch die australische Politik als auch durch internationale Entwicklungen.

Kritische und gut unterrichtete Analyst_innen zum Thema Flüchtlinge und Asylsuchende in Australien stimmen grundsätzlich darin überein, dass es keine schnelle Lösung gibt und dass die drakonische »stop the boats«-Taktik der dominierenden australischen Parteien den Verlust von Menschenleben skrupellos in Kauf nimmt. Diese Politik verstößt gegen die Menschenwürde. Dies insbesondere durch die zerstörerischen Effekte von willkürlicher und unbefristeter Inhaftierung, langer Ungewissheit über die eigene Zukunft und die Aberkennung grundlegender Rechte, wie das Recht zu Arbeiten und das Recht der Familienzusammenführung. Die »stop the boats«-Strategie ist zudem außerordentlich teuer. Sie kostet Millionen, die andere Verwendung finden könnten – die Erhöhung des Flüchtlingsschutzes und der Wiederansiedlung mit einbezogen.

Solange Menschen schutzlos durch Diktatur, Krieg, ökonomische Ungleichheit und ökologische Zerstörung vertrieben sind wird es niemals eine umfassende oder perfekte Lösung in Flüchtlingsfragen geben. Es gibt dennoch bessere und schlechter Ansätze. Der schlechteste und teuerste kurzfristige Ansatz ist offensichtlich der gegenwärtige. Ein besserer aber sehr viel längerfristiger Ansatz läge hingegen darin, zu versuchen ein System regionaler Kooperationen aufzubauen, um wirklichen Schutz und dauerhafte Lösungen für Flüchtlinge anbieten zu können.

Aus der Vergangenheit lernen

In diesem Sinne könnte aus der Vergangenheit gelernt werden. In Reaktion auf die erste »Welle« von Asylsuchenden aus Vietnam während der Flüchtlingskrise in Indochina in den 1970er und 1980er Jahren ließ sich die australische Regierung mit den ersten Aufnahmeländern (Thailand, Indonesien, Malaysia, Singapur, den Philippinen und Hung Kong) und mit alliierten Ländern (wie den USA, Frankreich und Kanada) auf den Entwurf eines Plans ein, den sogenannten »Comprehensive Plan of Action (CPA)«. Dieser Plan sah ein gemeinsam koordiniertes Programm vor, Flüchtlinge aus Indochina zum einen wieder anzusiedeln, die sich in den Camps der ersten Aufnahmeländer aufhielten. Zum Anderen sollte er ein direktes Wiederansiedeln aus Vietnam ermöglichen, insbesondere für Vietnamesen die auf Seiten der USA und ihrer Alliierten gegen die siegreichen Kommunisten gekämpft hatten und nun eine Verfolgung zu befürchten hatten. Das Ziel war, den Anreiz für Flüchtlinge zu reduzieren, gefährliche Seereisen zu unternehmen und ein System zum Flüchtlingsschutz zu errichten, so dass die ersten Aufnahmeländer die Verantwortung und die Kosten der Flüchtlingskrise nicht alleine übernehmen mussten. Trotz vieler Probleme, war das CPA im umfassenden Sinne erfolgreich und ist heute als ein maßgebliches Beispiel internationaler Kooperation im Flüchtlingsschutz angesehen. Als ein Model aus der Vergangenheit, bietet es die Perspektive eines besseren Reagierens auf die Asylsuchenden und die Flüchtlinge in der Zukunft an.

 

Erschienen in ZAG 65, 2014