Das Gegenteil von Angst ist nicht Sicherheit

Zehn Thesen zur allgemeinen Verunsicherung

1. Wiederkehr des Verdrängten

Verängstigung prägt mediale und öffentliche Diskurse sowie die Befindlichkeit erheblicher Bevölkerungsteile. Die Gleichzeitigkeit terroristische Anschläge in europäischen Nachbarländern sowie öffentlich sichtbare, kollektiv ausgeübte sexualisierte Gewalt verbunden mit einer Unzahl bewusst in die Welt gesetzter Gerüchte schaffen ein Klima verallgemeinerter Beunruhigung. Verstärkt wird dies durch individuell erfahrene soziale Entsicherung und den derzeitigen Umgang mit den aktuellen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen.

Letztere trifft auf eine fehlende soziale Infrastruktur und macht zum Teil ein eklatantes bürokratisches Organisationsversagen sichtbar.

Keines der zuvor genannten Phänomene ist für sich neu: Bei allen Unterschieden —von RAF über 2. Juni bis zum NSU und der kaum beachteten Terrorwelle gegen Flüchtlingsunterkünfte, von La Belle bis Lockerby — immer gab es Gruppen und Staaten, die sich zum Erreichen politischer Ziele terroristischer Mittel bedienten. Seit anderthalb Jahrzehnten befindet sich Deutschland im „Krieg gegen den Terror“. Dieser Krieg wird zwar vor allem militärisch auf fernen Schauplätzen geführt, nichtsdestoweniger hat er gesellschaftliche Verhältnisse formatiert. Gleiches gilt für Männergewalt. Die Hälfte aller ermordeten Frauen werden von (Ex-)Partnern getötet, bei der Verbreitung sexueller Belästigung befindet sich Deutschland über dem EU-Durchschnitt, sexuelle Gewalt findet vor allem durch Täter aus dem Bekanntenkreis statt und der rechtliche Schutz vor sexueller Belästigung in der Öffentlichkeit ist in Deutschland deutlich lückenhaft. Die neue Wahrnehmbarkeit von Flucht und Migration entsteht vor allem im Kontrast zu deren jahrelangen Klandestinisierung und Verunsichtbarung.

Der Verweis auf die historische Existenz der Einzelphänomene ist nur begrenzt zur Beruhigung geeignet. Denn die multiplen Krisenwahrnehmungen sind Ausdruck einer mehrfachen Krise.

2. Das große Vakuum nach den großen Erzählungen

Die verallgemeinerte Verängstigung fordert postdemokratische Gesellschaften ernstlich heraus. Erinnern wir uns: Auch die vermeintlich heile und sichere „alte Bundesrepublik“ mit Deutschmark, Vorstadtreihenhaus und Vollbeschäftigung war nicht so angstfrei wie sie im verklärten Rückblick gezeichnet wird. Atomtod, „Überbevölkerung“, „Kulturverfall“ und Waldsterben hießen große kollektive Ängste, die es in linker und rechter Ausfertigung gab.

Verschwunden ist, was diese Ängste erträglich werden ließ. Blair und Schröder haben es mit ihrer Ideologie der Ideologiefreiheit geschafft gleich zwei gegensätzliche gesellschaftliche Versprechenskomplexe zu zertrümmern: Das Versprechen von Freiheit, Wohlstand und Glück des Nach-Erhardtschen Kapitalismus auf der einen Seite sowie das Versprechen gesellschaftlicher Veränderung und sozialer Emanzipation der Neuen Linken als Ausweg aus einer als bedrohlich empfundenen Gegenwart.

Bei Abwesenheit einer handlungsmächtigen Zivilgesellschaft im Sinne Gramscis findet sich politisches Handeln, das Versicherung und ein Gefühl der Gestaltbarkeit von Gesellschaft vermitteln könnten, in Deutschland derzeit vor allem in deformierten Formen: Bürgerwehr statt Zivilgesellschaft. Doch egal ob als besorgte Bürgerwehr oder flüchtlingsfeindliche Bürgerversammlungen, diese Agenturen beinhalten kein politisches Versprechen mehr. Sie sind lediglich Transformatoren, welche die Eingangsspannung „Angst“ in eine Ausgangsspannung des Hasses umwandeln.

3. Das Gegenteil von Angst ist nicht Sicherheit

Als einigendes Band zwischen politischen Eliten und halbstarkem Mob besteht nur noch der Bezug auf eine mythische „Sicherheit“, die immer schon so fiktiv war wie ihr Gegenteil: Hobbes‘ Naturzustand. (Dazu Mark Neocleous) Die Arbeit am Mythos ist reizvoll, denn sie entzieht sich einer rationalen Beurteilung. Eine „Sicherheits“-Politik, die auf mehr Polizei, mehr Bewaffnung, mehr Härte setzt, ist vor allem symbolische Politik. Sie simuliert eine Handlungsfähigkeit, die durch Arbeit an den disparaten Einzelphänomenen nicht zu demonstrieren wäre und füllt das in These 2. beschriebene Vakuum. Im schlechtesten Fall folgen linke Nachahmungstäter, aus Furcht vor der Angst versuchen auch sie Handlungsfähigkeit zu simulieren und stimmen verspätet in den schiefen Kanon von der „vollen Härte des Gesetzes“ ein. Diese Reaktion ist naiv, denn sie tappen in die Falle des Sicherheitsparadox: Traditionelle „Sicherheits“-Maßnahmen intensivieren das Gefühl von Unsicherheit noch. Davon leben die professionellen Angstraumbewirtschafter von AfD, CDU/CSU und Deutscher Polizeigewerkschaft: Vermummte Polizisten mit Maschinenpistolen und abgesagte Fußballspiele verstärken das Gefühl, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren kann und ermuntern zum Ruf nach mehr und immer vom Immergleichen.

Dabei ist das Gegenteil der Fall. Im vergangenen Jahrzehnt ist die Zahl polizeilich registrierter Straftaten um fast zehn Prozent gefallen. Dass die Wahrscheinlichkeit Opfer schwerer Straftaten zu werden, in Deutschland geringer denn je ist, bleibt unbemerkt, weil vor allem spektakuläre und brutale Straftaten im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Nur ca. jede hundertste Straftat wird überhaupt Gegenstand von Berichterstattung, wobei Raubüberfälle über-, rassistische und sexualisierte Gewalt unterrepräsentiert sind.[1] Gewalt im öffentlichen Raum wirkt dadurch auf einmal bedrohlicher. Auf der anderen Seite erscheinen sexuelle Übergriffe wie in Köln auf der anderen Seite als exzeptionell.

4. Die zwei Säulen einer linken Politik im Feld von Rechts- und Innenpolitik

Eine linke Politik im Feld der inneren Sicherheit muss daher zweierlei leisten.

Zum einen muss es der politischen Linken gelingen, perspektivisch das beschriebene gesellschaftliche Vakuum zu füllen. Der Versuch eine europäische Idee wirklicher Demokratie zu entwickeln, wie es Diem25 versucht, ist ein erfolgversprechender Ansatz. Ob er auch in Deutschland gelingen wird, wo es an der Erfahrung einer Demokratie der Plätze fehlt und wo selbst eine Überwindung von Hartz IV für viele wie Utopie klingt, bleibt auszuprobieren.

Zum anderen muss die Linke eine engagierte Rerationalisierung der Diskussionen von Innen- und Rechtspolitik betreiben. Anstelle von Schüssen aus der Hüfte braucht es eine Diskussion über den Schutz von Grund- und Menschenrechten und ein Kernstrafrecht, das sich am Schutz von Rechtsgütern orientiert. Was das bedeutet, soll in den folgenden Thesen ausgeführt werden.

5. Schluss mit einer Politik als Schuss aus der Hüfte

Egal wie disparat die Ereignisse, die politische Reaktion erfolgt immer im gleichen Modus: als Schnellschuss. Die Antwort auf Köln kam nach vier Wochen, noch bevor alle Details des behördlichen Versagens geklärt waren: Ein Gesetzentwurf für schnellere Abschiebung von straffällig gewordenen Ausländern. Eine Maßnahme, die weder den Opfern hilft, noch der Resozialisierung der Täter dient.

Die Antwort auf die Anschläge von Paris kam ebenfalls aus der Hüfte geschossen: Vier Wochen später wurde die BFE+ eine neue Spezialeinheit der Bundespolizei aufgestellt. Ausgestattet mit automatischen Gewehren, wie sie sonst nur beim Militär eingesetzt werden. Auch bei den Landespolizeien wurde über stärkere Bewaffnung diskutiert.

6. Gefahr aus den Gewehrläufen

Ein unvoreingenommener Blick in die polizeiliche Statistik lässt einen beim Gedanken an Aufrüstung eher schaudern. Zum Glück gab es im letzten Berichtsjahr keine tödlichen Angriffe auf PolizistInnen. Im selben Zeitraum erschossen PolizistInnen sieben Personen und verletzten 31. Nicht wenige von Ihnen waren psychisch oder durch Drogenkonsum beeinträchtigt. Die Ausrüstung mit Kriegswaffen — nichts anderes sind Maschinengewehre — erhöht die Gefahr noch, dass bei Schusswaffeneinsatz Menschen getötet und auch Unbeteiligte verletzt werden. Bereits jetzt tragen Polizisten standardmäßig großkalibrige Pistolen, die bei Einsatz schnell tödliche Wirkung entfalten.

Angriffe auf Polizeibeamte erfolgen jedoch ganz überwiegend in drei Situationen: Während Demonstrationsgeschehen, durch einzelne alkoholisierte Männer und im Kontext persönlichen Krisen im häuslichen Umfeld. In keinem sind Schusswaffen hilfreich. Das wissen die meisten PolizistInnen, die im Übrigen häufig nach Schusswaffeneinsatz auf Jahre ebenfalls traumatisiert werden.

Auf dem Höhepunkt der Terrorhysterie des deutschen Herbstes führte das z.T. zu ungewöhnlichen Reaktionen So gab es Polizisten, die aus Furcht vor der aufgeputschten Atmosphäre die Schlagbolzen aus ihren eigenen Maschinenpistolen entfernten und sich so selbst entwaffneten. Ihr Fall wurde bis zum BGH verhandelt.[2]

7. Eine andere Polizei …

Der sicherste Weg zu einer Verstärkung des Sicherheitsgefühls sind nicht hochgerüstete und militarisierte Sondereinheiten, sondern die Präsenz von Streifenbeamten im öffentlichen Raum. Von anderen Polizeitraditionen wie z.B. in Großbritannien wo (trotz des auch dort vorhandenen Trends zur Aufrüstung) bis heute lediglich 6.000 der 130.000 Polizisten überhaupt mit einer Schusswaffe ausgestattet sind, ließe sich jedoch einiges lernen.

Neben einem zivilen Auftreten gehört dazu auch eine Verankerung in der Wohnbevölkerung. Bei lediglich vier Prozent Polizisten mit Migrationshintergrund in einer Stadt wie Berlin kann davon derzeit keine Rede sein.

8. … und eine verunsicherheitlichte Idee von Gesellschaft

Zu einer anderen Idee von Polizei, bräuchte es einen anderen Begriff von Sicherheit. Nicht Herstellung von Ruhe durch Repression der vermeintlich gefährlichen Klassen: Früher das Proletariat, heute jene, die mit den Stereotypen bildungsfern, jugendlich, migrantisch, muslimisch, männlich als kumulierende Marker des Bedrohlichen versehen werden.

Stattdessen bräuchte es ein Nachdenken und ein Interesse an den Lebensbedingungen, derer die gesellschaftlich ausgegrenzt und an den Rand gedrängt sind. Menschen, die im Gefängnis landen, sind, von der Gruppe der SteuerhinterzieherInnen einmal abgesehen, in der Regel Menschen, die bereits vorher in Schwierigkeiten steckten. Scheitern im selektiven Bildungssystem oder Leiden an den Schikanen der ausländerbehördlichen Bürokratie.

Ein wichtiger Ansatz könnte entgegen dem allgemeinen Ruf nach Härte eine Entkriminalisierung von Bagatelldelikten sein. Das betrifft insbesondere Schwarzfahren und opferlose Verbrechen wie Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz durch Drogenkonsumenten.

9. Ermächtigung von Geschädigten

Der Ruf nach mehr Polizei und härteren Strafen nutzt Geschädigten oft nur begrenzt. Zum Teil werden sie durch die Behandlung bei Polizei und Gericht erneut retraumatisiert, wie es bei allen Verbesserungen immer noch häufig für Opfer sexualisierter Gewalt der Fall ist.

Oder sie werden sogar zu Tätern stilisiert, wie es den Opferfamilien der Morde und Bombenanschläge des NSU ging. Sie wurden ein zweites Mal Opfer durch die falschen Verdächtigungen der Ermittlungsbehörden.

10. Frage nach Ursachen statt vorschneller Antworten

  • Die Antworten von „Sicherheits“-Politikern passen immer, denn sie sind allgemein. Linke Antworten auf die verallgemeinerte Verunsicherung müss(t)en spezifisch sein. Ein besserer Schutz vor sexualisierter Gewalt erfordert anderes als die Prävention der Anwerbung von Jugendlichen durch religiöse Extremisten.
  • Spezifische Antworten haben einen Vorteil: Sie können diffuse und überwältigende Verängstigung in bearbeitbare Aufgaben übersetzen.
  • Ihr Nachteil: Sie sind oft langsamer als Facebook, Twitter und Markus Söder, weil die Erhebung von Fakten oft Zeit braucht. Das ist der Preis, der Gewinn: Glaubwürdigkeit.
  • Grundsatz muss sein, Recht statt Rache und gleiches Recht für alle. „Gastrecht“ und „Wegsperren-und-zwar-für-immer“ haben in einem linken Diskurs nichts zu suchen.

 

Der Beitrag erschien in prager frühling #24

 

Anmerkungen

[1] Zahlen für Wien, in deutschen Großstädten dürfte die Quote noch niedriger sein.

[2] Isola, Horst (1987): Gewaltmonopol in der Demokratie. Die Polizei im Rechtsstaat. Polizeiliche Mitverantwortung im Rechtsstaat oder Machtinstrument der Regierung. In: Recht und Politik : Vierteljahreshefte für die Rechts- und Verwaltungspoliutik 23 (4), S. 191.