Aus der Logik aufgerüttelt?

 Eine Einschätzung zur Entscheidung des G-BA

Eine Einschätzung zur Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses, ein Methodenbewertungsverfahren zur nicht-invasiven Pränataldiagnostik einzuleiten.WEITERE INFOS: gen-ethisches-netzwerk.de/gid240

Sie wären dankbar, aus ihrer Logik aufgerüttelt worden zu sein, sagte ein_e Mitarbeiter_in des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) auf einer Veranstaltung im Frühsommer 2016.(1) Im Vorfeld dieser Äußerung hatten den G-BA zahlreiche kritische Stellungnahmen zivilgesellschaftlicher Organisationen und Berufsverbände sowie Briefe und Telefonanrufe erreicht. Kritisiert wurde darin, dass der nicht-invasive pränatale Test (NIPT) nicht nach ethischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten bewertet werde.

Seit April 2014 berät der G-BA über die Frage, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen der NIPT in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen wird. Hierfür muss er, so geben es seine Verfahrensregeln vor, nach medizin-wissenschaftlichen Aspekten entscheiden. Laut gesetzlichem Auftrag bestimmt der G-BA für die etwa 70 Millionen Versicherten in Deutschland, was eine „zweckmäßige und wirtschaftliche Gesundheitsversorgung“ beinhaltet.(2) Er verfügt hierfür über zwei Entscheidungspfade: das Erprobungsverfahren und die Methodenbewertung. Die Beratungen des G-BA zum NIPT begannen 2014 mit der Einleitung eines Erprobungsverfahrens.(3) Am 18. August 2016 änderte er jedoch sein Vorgehen. In seiner öffentlichen Sitzung eröffnete er auf Antrag einiger Mitglieder die Methodenbewertung des NIPT „zur Bestimmung des Risikos autosomaler Trisomien 13, 18 und 21 … für die Anwendung bei Risikoschwangerschaften.“(4) Auf der Sitzung betonten die G-BA-Mitglieder, sich der Bedeutung des sensiblen Themas und der fundamental-ethischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen sehr bewusst zu sein. Damit wich der Ausschuss von seiner bisherigen Vorgehensweise ab und gab ethischen und gesellschaftlichen Aspekten mehr Gewicht. Die Kritik hatte offenbar Wirkung gezeigt. Hinterfragt der G-BA mit dem eingeleiteten Verfahren zur Methodenbewertung nun sein Vorgehen in Bezug auf den Bluttest, oder ändert er gar seine Logik? Welche Weichen werden damit im Hinblick auf die Bewertung des NIPT gestellt?

Kritik am G-BA

In vielen der Stellungnahmen an den G-BA wurde kritisiert, dass die NIPT keinem medizinischen Zweck diene. Befürchtungen, dass der Test zur Regel werden könnte und so de facto ein routinemäßiges Screening nach Föten mit Trisomie 21 eingeführt werde, wurden geäußert. Dies stellt, so die Kritiker_innen, eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen dar und wird zur Entsolidarisierung der Gesellschaft beitragen. Zudem setze das Angebot werdende Eltern und insbesondere schwangere Frauen unter Druck, den Test zu machen und bei Feststellung einer Trisomie 21 die Schwangerschaft abzubrechen. Auch das G-BA-Verfahren stand im Fokus, wobei sich die Kritik sowohl auf die Beratung zur Erprobungsrichtlinie als auch auf die darauf folgende Einleitung der Methodenbewertung bezog. So hatten im März 2015 rund 160 Abgeordnete eine fraktionsübergreifende Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Darin wollten sie unter anderem wissen, inwieweit die Regierung eine Erprobungsrichtlinie begrüßt und welche Möglichkeiten es darin gäbe, die „sozialen, ethischen und gesellschaftlichen Implikationen“ des NIPT zu bewerten.(5) Das angekündigte Verfahren zur Methodenbewertung kritisierten Abgeordnete in einem offenen Brief im August 2016: Es sehe „lediglich vor, den ‚diagnostischen und therapeutischen Nutzen der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit‘ zu prüfen“. Die Abgeordneten forderten demgegenüber dazu auf, auch die „ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen“ des NIPT zu berücksichtigen.(6) Dieser Aufforderung ist der G-BA mit der Einleitung der Methodenbewertung nun in gewisser Hinsicht nachgekommen.

Automatismus

unterbrochen Mit der Entscheidung für eine Methodenbewertung hat der G-BA im August 2016 eine „nicht zwingende Verfahrensweise“ eingeschlagen, so die Selbsteinschätzung.(7) Die Beratung über eine Erprobungsrichtlinie ruht mit der Einleitung der Methodenbewertung. Nach einer Erprobung und damit einhergehend weiterführender Erkenntnisse zur Testgüte wäre, so erklärt sich der G-BA in seinem Antwortschreiben auf den Brief der Abgeordneten, evidenzbasiert entschieden worden. Bei ausreichender Evidenz hätte ein Antragserfordernis auf Methodenbewertung nicht bestanden, sie wäre automatisch eingeleitet worden. Mit der Verfahrensänderung hat der G-BA seinen Automatismus unterbrochen. Damit hat er sich eine Öffentlichkeit geschaffen, denn bei ausreichender Evidenz wäre das Verfahren eingeleitet worden, ohne dass dies auf einer öffentlichen Sitzung Tagesordnungspunkt geworden wäre. Grund für dieses Vorgehen ist ein Bewusstsein darüber, dass der NIPT „in fundamentaler Weise ethische Fragestellungen berührt“. Die Sitzung ermöglichte dem G-BA öffentlich sowohl auf die Kritik einzugehen als auch sein Verfahren zu rechtfertigen - laut „gesetzlichen Vorschriften“ sei er nicht „allein“ für diese Fragen zuständig. Die Lösung sieht er wie folgt: Um die ethische Perspektive „zu stärken, bietet das regulär dreijährige Methodenbewertungsverfahren Raum … bedeutsame gesellschaftliche Organisationen wie beispielsweise den Deutschen Ethikrat einzubeziehen“. Der eingeschlagene Weg biete zudem dem Gesetzgeber Zeit und Möglichkeit, festzustellen „ob solche Tests überhaupt zur Werteordnung unserer Gesellschaft passen“. „So werden wir der Verantwortung gerecht, die auf unseren Schultern lastet“, wie es von einem G-BA-Mitglied auf der öffentlichen Sitzung hieß.(8) Diese Einschätzung halten wir jedoch für verfehlt.

Verantwortung verschoben

In der Sitzung im August 2016 ist der G-BA also auf die Kritik eingegangen und hat betont, dass er versucht, medizinisch-technische und ethisch-gesellschaftliche Bewertungen miteinander zu verbinden. Allerdings zeigt die Art und Weise, wie er dies versucht, eine grundlegende Problematik im Umgang mit der Verantwortung für diese neue Technologie. Der eingeschlagene Weg besteht im Prinzip darin, die ethische und gesellschaftspolitische Bewertung des NIPT zu verschieben und zwar einerseits auf später und andererseits auf andere.

Der G-BA hat entschieden, erst das Methodenbewertungsverfahren einzuleiten und dann Stellungnahmen zu den ethischen Fragen einzuholen. Diese sollen von außen kommen, zum Beispiel vom Deutschen Ethikrat. Auch der Bundestag solle sich mit dem NIPT befassen.

Der Ausschuss sieht zwar die fundamentale ethische und gesellschaftliche Bedeutung der Thematik, will diese aber nicht zur Grundlage seiner Entscheidung machen. Vielmehr will er sich an seinen Auftrag halten und die wirtschaftliche und medizinische Nützlichkeit des Tests bewerten. Die Frage ist jedoch, ob die Feststellung einer fötalen Trisomie überhaupt einen medizinischen Zweck hat. Wenn er seine Verantwortung im Prozess der gesellschaftlichen Durchsetzung des NIPT hätte kritisch reflektieren wollen, dann hätte der G-BA über genau diese Frage diskutieren müssen: Hat die Feststellung einer fötalen Trisomie 21, 13 oder 18 einen medizinischen Zweck? Und wenn nicht, sind wir überhaupt zuständig? Paradoxerweise hätte der G-BA seine gesellschaftliche Verantwortung in diesem Falle am ehesten wahrgenommen, wenn er sich für nicht zuständig erklärt hätte.

Verfehlter Auftrag

Der Auftrag des G-BA besteht darin, im Rahmen der Vorgaben des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) zu entscheiden, welche medizinischen Versorgungsleistungen von der Solidargemeinschaft der Versicherten übernommen werden sollen. Das Gesetz definiert den Zweck der GKV wie folgt: Sie „hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern.“(9) Zu diesem Zweck stellt die Solidargemeinschaft Arzneimittel, Heilbehandlungen oder Hilfsmittel bereit. Der G-BA entscheidet nur welche. Nun geht es aber bei den Bluttests eben nicht darum, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Die Feststellung einer fötalen Trisomie dient weder der Gesundheit des werdenden Kindes noch der Gesundheit der schwangeren Frau - es sei denn, man sagt, der Fötus mit Trisomie sei eine Gefahr für die Gesundheit der Frau. So weit gehen selbst Anbieter und Befürworter_innen des NIPT nicht. Denn dies würde eine massive, offene Abwertung von Menschen mit Trisomie bedeuten.

Der Test hat also keinen medizinischen Nutzen. Er dient nicht der Gesundheitserhaltung, -verbesserung oder Heilung. Dies einzugestehen hat der G-BA sich gescheut. Er hat also gerade nicht nach medizinischen Gesichtspunkten entschieden.

Gleichzeitig hat der Ausschuss damit eine ethische Wertung getroffen. De facto stuft er bereits dadurch, dass er das Verfahren eröffnet, die Verhinderung von Menschen mit Trisomie als anerkennenswerten Zweck der GKV ein. Denn einen anderen Zweck hat der Test nicht. Daran ändert auch der argumentative Kunstgriff der Test-Anbieter_innen nichts, mit dem sie auf die jahrzehntelange Praxis der Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) verweisen.

Die normative Kraft des Faktischen

Dieser Kunstgriff funktioniert wie folgt: Es gäbe bereits ein Verfahren zur Feststellung einer fötalen Trisomie, dessen Kosten von der GKV übernommen werden, die invasive Amniozentese. Sie birgt jedoch ein gewisses Risiko einer Fehlgeburt. Wenn nun ein NIPT vorgeschaltet wird, werde die Zahl der durchgeführten Amniozentesen gesenkt und damit auch die Zahl der Fehlgeburten: Dies sei der medizinische Zweck der Tests. Und tatsächlich hat sich der G-BA diese Argumentation der Test-Anbieter_innen zu eigen gemacht, wie im Antrag auf Einleitung des Methodenbewertungsverfahrens deutlich wird. Dagegen ist jedoch zu sagen: Selbst wenn der NIPT tatsächlich die Zahl der Amniozentesen senken sollte - wobei eine erhöhte Inanspruchnahme des NIPT auch zu vermehrten Feststellungen von Auffälligkeiten führen kann und diese wiederum zu vermehrten Amniozentesen -, ändert dies nichts daran, dass die Feststellung einer Trisomie kein medizinischer Zweck ist. Das gilt für den NIPT wie für die Amniozentese; auch deren Zweck ist nicht die Heilung oder Gesundheitsverbesserung. Wenn man den Vergleich mit der Amniozentese ins Feld führt, beruft man sich lediglich auf die normative Kraft des Faktischen und vermeidet es, ethische und gesellschaftliche Implikationen dieser Praxis zu hinterfragen.

Die Entscheidung des G-BA hat daher eine Weiche in Richtung Ausweitung des NIPT gestellt, auch wenn diese Weichenstellung mit der Aufforderung zu einer ethischen und gesellschaftspolitischen Debatte verbunden wird. Der faktischen Durchsetzung des NIPT wird eine Diskussion dieser Fragen nur äußerlich hinzuaddiert. Statt andere zur Debatte aufzufordern und die Verantwortung zu verschieben hätte der G-BA die Verantwortlichkeit für diejenige Frage annehmen können, für die er tatsächlich zuständig ist, nämlich die der medizinischen Zweckmäßigkeit. Hätte er diese Frage ehrlich diskutiert, hätte er sich für nicht zuständig erklären müssen. Um die Implikationen des NIPT als Gesellschaft kritisch und ergebnisoffen diskutieren und bewerten zu können, müsste es genaugenommen ein Moratorium für die Forschung, Entwicklung und Vermarktung der NIPT geben. Andernfalls geht der Prozess immer weiter in Richtung Ausweitung, Durchsetzung und Normalisierung. Kathrin Braun arbeitet seit vielen Jahren im Feld der kritischen Biopolitikforschung. Sie ist derzeit Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und Editorin des Journals Critical Policy Studies. Sabine Könninger ist Politikwissenschaftlerin und forscht derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Projekt zur NIPT am IMEW in Berlin. Sie arbeitet zudem schwerpunktmäßig zu Ethik- und Biomedizinpolitiken, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte und ist Autorin des Buchs „Genealogie der Ethikpolitik“.

Fußnoten:

(1) Teilnehmende Beobachtung, SK: „Aktuelle Entwicklungen der Pränataldiagnostik und Inklusion: Zusammenhänge und Widersprüche“. Kooperationsveranstaltung: Bundesvereinigung Lebenshilfe, insieme, Lebenshilfe Österreich, Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft. Berlin 07.-08.06.16. (2) Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) (1988). SGB V § 93 Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses.
(3) Zum Vorgehen beim Erprobungsverfahren und dem Ablauf des G-BA-Verfahrens vgl. Kasten auf S. 11.
(4) G-BA (2016). Antrag auf Bewertung der Methode der nicht-invasiven Pränataldiagnostik (NIPD) zur Bestimmung des Risikos autosomaler Trisomien 13, 18 und 21 mittels eines molekulargenetischen Tests für die Anwendung bei Risikoschwangerschaften im Rahmen der Mutterschafts-Richtlinien nach § 135 Absatz 1 SGB V. 04.07.16. www.g-ba.de oder www.kurzlink.de/gid240_s.
(5) Deutscher Bundestag (2015). Kleine Anfrage der Abgeordneten H. Hüppe, C. Rüffer et al. Vorgeburtliche Blutuntersuchung zur Feststellung des Down-Syndroms. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/044/1804406.pdf, S. 2 f.
(6) Hüppe, H., C. Rüffer et al. (2016). Offener Brief: TOP 8.2.1 der 91. Öffentlichen G-BA Sitzung am 18.08.16. www.corinna-rueffer.de oder www.kurzlink.de/gid240_aa.
(7) G-BA (2016). (Nicht-veröffentlichtes) Antwortschreiben 19.08.16 ohne Betreff an MdBs: H. Hüppe, C. Rüffer, D. Schmidt, K. Vogler. S.2 ff., auch für folgende Zitate.
(8) Teilnehmende Beobachtung, SK: 91. Öffentliche G-BA-Sitzung, Berlin 18.08.16.
(9) BMJV (1988). SGB V § 1 Solidarität und Eigenverantwortung. Kasten 1: Wie funktioniert NIPT? Bei der vom G-BA untersuchten Methode wird ab der 9. Schwangerschaftswoche aus einer Blutprobe der Schwangeren so genannte fetale zellfreie DNA (cff-DNA) isoliert, also Erbgut fetalen Ursprungs, das im Plasma der werdenden Mutter frei vorliegt. Cff-DNA ist ungefähr ab der siebten Schwangerschaftswoche nachweisbar und macht durchschnittlich 10 bis 20 Prozent der zellfreien DNA im Plasma einer Schwangeren aus.