Macron auf der Suche nach einer parlamentarischen Mehrheit

Emmanuel Macron hat mit 66,1% der WählerInnenstimmen die Wahl gewonnen und wird neuer französischer Präsident. 47,5 Mio. Franzosen waren zur Wahl aufgerufen, 35,4 Mio. haben ihre Stimme abgegeben. Damit liegt die Wahlbeteiligung bei 74,6%.

Sie ist bei dieser Wahl tiefer als bei allen vergangenen Präsidentenwahlen seit 1969, und zum ersten Mal seit 1969 ist sie im zweiten Wahlgang tiefer als im ersten. 25,4% der Franzosen enthalten sich bei der Stichwahl – so viele, wie seit 1969 nicht mehr. 11,5% der WählerInnen haben einen leeren oder ungültigen Stimmzettel abgegeben, bisher waren es nie mehr als 5%.

Dass eine Kandidatin vom Front National angekündigt hatte, die V. Republik und Europa zu verändern, hat die BürgerInnen Frankreichs also nicht stärker zur Stimmabgabe für die republikanische Alternative mobilisiert. Die tiefe Wahlbeteiligung mag daran liegen, dass kein Kandidat der traditionellen Parteien zur Stichwahl antrat. Der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon hatte seine AnhängerInnen weder zur Wahl Macrons noch zur Wahl Le Pens aufgerufen. Etwa 41% seiner AnhängerInnen blieben den Urnen fern, oder gaben einen leeren Stimmzettel ab.

Marine Le Pen ist abgeschmettert worden und erzielt gleichwohl ein Rekordergebnis für den Front National: Sie erhält etwa 10,6 Mio. Stimmen, fast doppelt so viele wie ihr Vater 2002. Auf die Rechtspopulistin entfielen 3,5 Mio. Stimmen mehr als im ersten Wahlgang. Le Pens Formation muss gleichfalls darum kämpfen, das Mehrheitswahlrecht zu überwinden, denn bisher ist der FN nur in wenigen Gebietskörperschaften mit Mandaten vertreten.

 

Die Reaktionen von Le Pen und Melénchon

In der französischen Verfassung ist festgelegt, dass die Erneuerung der Nationalversammlung bereits einen Monat nach der Präsidentenwahl stattfindet. Ein Handicap Macrons ist, dass seine erst einjährige Bewegung »En marche« keine Partei mit einem klaren programmatischen Rückgrat und einer breiten territorialen Verankerung ist. Die Tatsache, dass die Zustimmung etwas größer war als zuletzt gedacht, gibt ihm die Chance, bei den Parlamentswahlen im Juni gut abzuschneiden.

Die Kandidaturen für die Wahlen zur Assemblée national müssen aber bereits am 19. Mai bestimmt sein. Viele politische Beobachter halten es für schwierig, dass »En Marche« mit ihrer Mischung aus Vertretern der Zivilgesellschaft und einigen aus anderen Parteien übergelaufenen PolitikerInnen in der kurzen Zeit bis Mitte Mai einen landesweit schlagkräftigen Apparat formieren kann, der die Mehrheit erringt. In den Parlamentswahlen werden sich in vielen Wahlkreisen »En Marche«-KandidatInnen gegen einen konservativen oder sozialistischen Konkurrenten behaupten müssen.

Der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon, der in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 19% der Stimmen erhalten hatte, rief seine über sieben Mio. AnhängerInnen dazu auf, sich in den Parlamentswahlen dem Programm des neuen präsidentiellen Monarchen zu widersetzen, der einen Krieg gegen die sozialen Errungenschaften des Landes führe. Auch hier steht die Kernfrage: Wird die Sammlungsbewegung »La France insoumise« (das unbeugsame Frankreich) einen programmatisch und organisatorisch überzeugenden Auftritt zu den Parlamentswahlen realisieren?

In ihrer ersten Bewertung zieht Marine Le Pen die Scheidelinie zwischen den »Globalisierungsfreunden und den Patrioten«. Sie stellte für ihren wohlorganisierten und landesweit verankerten Front National eine Neuausrichtung in Aussicht. Ihre Sirenengesänge mobilisieren rechte Mythen, linke Sentiments und konkrete Bedürfnisse. Sie und der FN haben verstanden, dass es in einer Demokratie darauf ankommt, die Scheidelinie zum politischen Gegner und nicht die Reinheit des eigenen Programms deutlich zu machen, um große Wählermassen zu mobilisieren.

Marine Le Pens variiert beständig den Dreiklang, Macrons Programm sei »von großer sozialer Gewalt«: »Er ist für die Liberalisierung des Arbeitsrechts, für Masseneinwanderung und eine wilde Globalisierung.« Die Erzählung des Front National: Hass auf die abgewirtschaftete Regierung Hollandes, Kritik an der Globalisierung und Appell an fremdenfeindliche Ressentiments: »Monsieur Macron, Sie sind der Kandidat der wilden Globalisierung, der Liberalisierung, der Plünderung unserer Unternehmen, des Kriegs jeder gegen jeden, der Parallelgesellschaften. Sie sind die Fortsetzung von Hollande und zeigen die Kälte des Investmentbankers, der Sie immer noch sind.«

Die Wut der »Unbeugsamen« ist so stark, dass sich laut Vorwahl-Umfragen nur knapp die Hälfte von »La France insoumise« zur Wahl Emmanuel Macrons aufraffen wollte. Ein Teil war sogar bereit, dem Rechtspopulismus durch Stimmabgabe zur Macht zu verhelfen. Marine Le Pen holte einen Stimmenanteil von 33,94%, soviel wie noch nie für den Front National. Im ersten Wahlgang waren es 7,7 Mio. BürgerInnen, die dem FN ihre Stimme gaben, im zweiten kam sie auf 10,6 Mio. Stimmen. Der unterlegene nationalistische Kandidat Dupont-Aignan mit 1,7 Mio. Stimmen (4,7%) hatte zu ihrer Wahl aufgerufen. Ein beachtlicher Teil der Fillon-WählerInnen bekundete vor der zweiten Runde ebenfalls die Bereitschaft zum Stimmenübertrag an Le Pen. Das Lager der Rechten ist also keinesfalls geschlagen, wie die kommunistische Tageszeitung L´Humanité titelt.

Auf einem Flugblatt versprach Le Pen, sie werde als Präsidentin sieben Forderungen der Bewegung »La France insoumise« von Jean-Luc Mélenchon erfüllen, darunter die Rente mit 60 (bei 40 Beitragsjahren), einen Ausstieg aus der NATO, eine Rücknahme der Arbeitsrechtsreform sowie ein Leiharbeitsverbot. Aber gleichzeitig versuchte sie, den bürgerlich-nationalistischen Flügel aus der Wählerschaft Francois Fillons zu mobilisieren. So hatte Le Pen nahezu wörtlich lange Passagen aus einer Rede Fillons übernommen, in der er die mythischen Grenzen Frankreichs beschwor, dessen »offenste, die gefährlichste aber auch vielversprechendste Grenze zur germanischen Welt« sei.

Mit dieser so gar nicht der political correctness der »deutsch-französischen Freundschaft« entsprechenden Formulierung Fillons wird deutlich, wie weit der rechtspopulistische Diskurs bereits in der sogenannten Mitte Einzug gehalten hat. Das Erstarken solchen Nationalbewusstseins eignet sich zur Schwächung der EU allemal und findet damit Wohlwollen in Russland, wo der Fernsehsender der Armee twittern ließ: »Ich wähle Marine«.

Um sich in dieser entscheidenden Phase keine Blöße zu geben, ging Le Pen symbolisch auf Distanz zur Bewegung und ließ ihren Parteivorsitz ruhen. Der designierte Nachrücker aus dem Kreis der Stellvertreter musste jedoch rasch aus dem Verkehr gezogen werden, da ruchbar wurde, dass dieser Mann aus der alten Garde um Vater Le Pen einem Verein vorsteht, der sich dem Andenken an den Kollaborateur und Präsidenten des besetzten Frankreichs, Marschall Pétain, widmet.

 

Was hat Macron nun vor und was kann er davon überhaupt umsetzen?

Emmanuel Macron ist als Erneuerer angetreten: Der frühere Wirtschaftsminister will den ideologischen Graben zwischen der Linken und der Rechten überwinden und das Land radikal reformieren, ja gar revolutionieren. Das heißt, Macron hat vor allem den Wirtschaftssektor und die Verteilungsverhältnisse im Visier. Beobachter bezweifeln jedoch, dass er die für harte Reformen erforderlichen Mehrheiten beschaffen kann. Es geht aber auch um eine Moralisierung der Politik. Es soll im Besonderen die Vetternwirtschaft à la Fillon abgeschafft und verunmöglicht werden. Zudem will Macron die Zahl der Abgeordneten um einen Drittel reduzieren und die Ämterkumulierung einschränken. Diese Kampfansage an die politische Klasse wird ihm nicht nur Unterstützung eintragen.

Macron will weitreichende Reformen in der EU durchsetzen – auch um Frankreich aus der wirtschaftlich-sozialen Stagnation herauszuschieben. Das Einzige, was der FN verstehe, sei, »die Wut der Leute und die Ineffizienz der Politik der letzten 20 Jahre auszuschlachten … Der FN verdient diese Wut nicht«, rief Macron den enttäuschten BürgerInnen zu. Er will Zuversicht und ein anderes Programm realisieren, dass er in dem Slogan zusammenfasst: »Ein starkes Frankreich in einem Europa, das Schutz bietet.«

Zweifellos sind seine angekündigten Maßnahmen auf den Gebieten der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie dem Arbeitsrecht ambivalent: Reduktion der Staatsausgaben um 60 Mrd. Euro, Abbau von 120.000 Stellen im öffentlichen Dienst, Abhängigkeit sozialer Leistungen von der Bereitschaft zu Bildungsmaßnahmen, Teilprivatisierung der Krankenversicherung usw. Aber Macron geht es auch um massive öffentliche Investitionen und Impulse für die gesellschaftliche Wertschöpfung.

Aber die wochenlangen Auseinandersetzungen um die Arbeitsmarktreformen im Frühjahr letzten Jahres illustrierten die festgefahrenen Fronten. Die gespaltenen Gewerkschaftsorganisationen konnten weder eindrucksvolle Menschenmassen auf die Straße bringen, noch in den Betrieben Produktionsunterbrechungen umsetzen, obwohl drei Viertel der Franzosen in Umfragen diese El Khomri-Gesetze (Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Vorrang von Betriebsvereinbarungen vor dem Tarifvertrag) ablehnten. Die Angriffe auf das Arbeitsecht konnten nur mithilfe des Notstandsparagraphen der Verfassung durchs Parlament gebracht werden, ihre gesellschaftliche Akzeptanz war gering. Und weil sie nicht begleitet wurden durch ein Investitions- und Arbeitsbeschaffungsprogramm, überwog faktisch die Ablehnung des Wandels.

Aber ohne Erneuerung von Gesellschaft und Wirtschaft wird der politische Niedergang anhalten. Das Linksblatt »Libération« interpretiert daher die Wahl Macrons als Kontrapunkt zur vorherrschenden Stimmung im Lande. »Am Ende hat ein bestimmtes Freiheitsideal überdauert. Dank dieser Wahl hat man gesehen, dass man dem Aufstieg des Nationalpopulismus widerstehen kann. Eine beispiellose Kampagne hat auf paradoxe Art geendet: Ein Land, von dem man sagt, dass es überaltert, nostalgisch, abgeschottet und bitter sei, bringt einen Mann von 39 Jahren und ohne politische Vergangenheit an die Macht, der in Europa verliebt und von der Weite des offenen Meeres fasziniert ist.«

Macron hat auch signalisiert, dass er die 35-Stunden-Woche und das Renteneintrittsalter nicht antasten werde. Der Stellenabbau im öffentlichen Dienst werde nicht das Gesundheitswesen treffen. Mit Macron wird also der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, arm und reich, oben und unten die Scheidelinie der Politik bleiben, während mit einer Präsidentschaft Le Pens eine Politik des »Frankreich zuerst«, der Abgrenzung zwischen »denen« und »uns« den Alltag bestimmt hätte. Auch wenn die Kräfteverhältnisse derzeit schlecht für die ArbeitnehmerInnen und ihre Gewerkschaften sind, so würde ihre Handlungsfreiheit unter einer Präsidentschaft Le Pens gewiss nicht größer.

Macron weckt die Hoffnung, die in Teilen der jüngeren Generation lautet »Wir werden jetzt Wirtschaftsmacht«. Das sozial verkarstete Bildungssystem, das über die Vergabe der Zugangsberechtigungen Standesprivilegien, Einkommens- und Aufstiegschancen vererbt, will Macron – selbst Absolvent der Elite-Hochschule ENA – reformieren. Andererseits war die Enthaltung gerade der unter 35-Jährigen im ersten Wahlgang erschreckend hoch.

Macron hat in seiner ersten Rede als designierter Staatspräsident nicht nur mit seinem Gang durch den Cours Napoléon und die »europäische« Ode an die Freude Zeichen gesetzt. Er hat auch explizit jene Wütenden und Enttäuschten angesprochen, die ihn nicht gewählt haben. Er werde alles tun, damit sie keinen Grund mehr hätten, Extremisten zu wählen. »Ich kenne die Spaltungen unseres Landes, die manchen zu einem extremistischen Votum geführt haben; ich kenne die Wut, den Zweifel, die Angst, die manche ausdrücken. Ich werde gegen die Spaltungen kämpfen. … Es ist meine Verantwortung, auf Sie zu hören im Kampf gegen alle Formen der Ungleichheit, für Ihre Sicherheit zu sorgen und die Einheit der Nation zu garantieren«, sagte der neugewählte zukünftige Präsident.

Macrons Schicksal ist zweifellos mit der Frage verknüpft, ob es ihm gelingt in der EU einen anderen Kurs auf Basis der bestehenden Institutionen und Verträge durchzusetzen. »Dabei hält Macrons europapolitisches Programm einige Zumutungen für Deutschland bereit. Er will ein echtes EU-Budget über Hunderte Milliarden, kontrolliert von einem eigenen Finanzminister der Eurozone. Und er möchte die Staatsschulden sozialisieren und Eurobonds einführen, wie auch Martin Schulz, der SPD-Kanzlerkandidat. Für Bundeskanzlerin Merkel wäre das die nächste rote Linie, die sie überschritten hätte, hat sie doch Eurobonds eigentlich ausgeschlossen, ›solange ich lebe‹.« (FAZ 25.4.2017)

Merkel und die aktuelle Bundesregierung glauben, das EU-Programm Macrons, auf das sich schon heute die Hoffnungen in Rom und anderen Staaten richten, einhegen zu können, wollten aber Macrons Wahl nicht vorschnell durch entsprechende Warnhinweise und ablehnende Signale gefährden.

Es wird erwartet, dass Macron viele frische, parteipolitisch unbelastete Persönlichkeiten etwa aus der Zivilgesellschaft aufstellen wird oder auch PolitikerInnen aus den Gegenlagern auswählen könnte, um zu beweisen, dass er die bisherigen ideologischen Gräben überwinden will. Möglicherweise wird Macron ohne eigene Mehrheit aus den Parlamentswahlen in sechs Wochen hervorgehen.

Das macht ihn erpressbar durch die sich neu formierenden Republikaner. Sie befinden sich in einem Selbstfindungsprozess. Fillon zieht sich offenbar zurück, ein Teil des rechten Flügels, bspw. die frühere Wohnungsbauministerin Sarkozys, rief zur Wahl Le Pens auf. Mit Francois Barouin, Präsident der nationalen Bürgermeistervereinigung und mehrfach Haushaltsminister, wurde ein gut vernetzter Vorsitzender designiert, der sich strikt vom FN abgrenzen will.

Macron gehört zu keiner der traditionellen Parteifamilien und repräsentiert das Juste Milieu derjenigen, die glauben, sie ständen jenseits der sozialen Gegensätze. Sollten sich die politischen Blockaden im Parlament verdichten und er den Eindruck gewinnen, das Parlament auflösen zu müssen, wird die Sehnsucht nach »stabilen Verhältnissen« groß sein. Für das »Nicht links- nicht rechts« hat der Front National das Urheberrecht. Wenn es ihm mit dem Umbau gelingt, sich allen »Patrioten« zu öffnen, wird sich zeigen, ob Macron der »Beschützer der Republik« sein kann als der er sich am Wahlabend präsentierte.

Macron hat die soziale Spaltung der Demokratie nicht überwunden und Le Pen ist nicht der Ausdruck der sozialen Spaltung des Landes. Nicht zur Wahl gegangen sind in der ersten Runde eher die Armen, schlechter gebildeten und jüngeren, die mit wenig Optimismus in die Zukunft sehen (IPSOS 22.4.2017).

Die Linke hat – unter Einrechnung der Sozialdemokratie – in Frankreich nur noch ein Viertel der Stimmen für sich. Der Erfolg Mélenchons im ersten Wahlgang (Anstieg seiner Stimmen von 3,9 Mio. im ersten Wahlgang 2012 auf 7,1 Mio. Stimmen 2017) zeigt zwar, dass es keinen mechanischen Zusammenhang zwischen Vertiefung der sozialen Spaltung und Rechtsentwicklung geben muss. Aber in diesen Stimmen stehen Viele in kritischer Distanz zu seinem links-nationalistischen Kurs, frustrierte Sozialdemokraten, Kommunisten usw. Welchen Weg zur wirtschaftlichen Wiederbelebung und zur Verbesserung der Lebenslage breiter Schichten wird diese Linke bereit sein mitzugehen?

Die Erklärung des PCF zum Wahlausgang bleibt eng begrenzt auf die nationalen Themenfelder und erwarteten Abwehrkämpfe ohne die europäische Dimension des Macron-Projekts auch nur zu erwähnen. Es bestehen berechtigte Zweifel, dass die jetzt in der Bewegung »la France insoumise« eingesammelten Kräfte wieder zu ein politischen, erklärenden, einenden und mobilisierenden Faktor gemacht werden, der in der Lage wäre, auf die parlamentarische Mehrheitsbildung Einfluss zu nehmen.