Schwierige Begegnungen

Erfahrungen und Erkenntnisse aus einer China-Reise im Frühjahr 2017 mit dem Forum Arbeitswelten (Teil II) – von Gertrud Rettenmaier und Johannes Hauber*

Im Teil I ihres Reiseberichts schilderten Gertrud Rettenmaier und Johannes Hauber erste Eindrücke aus China – einschließlich eines unter dem Druck der Regierung auf NGOs und unabhängige GewerkschaftsaktivistInnen abgewandelten Besuchsprogramms – und die Begegnungen mit ArbeiterInnen bei Bombardier Suzhou sowie mit Beschäftigten einer Schuhfabrik. In dieser Ausgabe berichten sie von Diskussionen über die Situation der Gewerkschaften und NGOs in China.

Wir nutzen die Gelegenheit und korrigieren hiermit auch einen Fehler in Teil I: Der Mindeslohn in der Region Suzhou beträgt 1.770 Yuan, nicht Euro – was etwa 225 Euro entspricht.

Betriebliche Streiks haben in den vergangenen Jahren in China immer wieder stattgefunden.1 Gekämpft wurde z.B. für die Auszahlung bzw. Erhöhung der Löhne oder für die Zahlung der gesetzlichen Abfindungen bei Betriebsschließung. Es kam außerdem zu Selbsttötungen, die auch als Protest gegen die Arbeitsverhältnisse galten. Die lokalen Gewerkschaftskomitees, die dem gesamtchinesischen Gewerkschaftsbund angehören und eng mit der KPCh verbunden sind, haben sich bei Streiks unterschiedlich verhalten. Zu ihrer Aufgabe gehört auch, einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten – in Harmonie mit den arbeitenden Menschen.2

            Arbeiterorganisation und Gewerkschaften

Wir konnten in zwei Begegnungen persönliche Eindrücke gewinnen: im Gespräch mit einem Studenten, der einen spontanen Streik aktiv unterstützt hat, und mit dem ehemaligen Gewerkschaftsvorsitzenden von Guangzhou. Der studentische Aktivist berichtete über einen Streik in Guangzhou 20143, in dem Straßenkehrer für die Zahlung von Abfindungen und die Übernahme bei einem Betriebswechsel gekämpft hatten. Er unterstützte die unerfahrenen Streikenden beim Aufbau von Organisations- und Kommunikationsstrukturen, vermittelte Rechtsberatung und Spenden und trug die Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit. Es gelang, eine breite Unterstützung zu mobilisieren, die auch die Stadtregierung bewogen hat, Einfluss zu nehmen. Der Streik war erfolgreich. Die Gewerkschaft spielte dabei keine Rolle. Nach Angaben unseres Gesprächpartners hat sich die Situation auch im Perlflussdelta seitdem verschlechtert. Kontrolle und Repression haben zugenommen, kritische Öffentlichkeitsarbeit wird behindert. Streikende werden häufiger mit einem massiven Polizeiaufgebot eingeschüchtert, Aktivisten werden verhaftet.

Die Sichtweise und Erfahrungen eines aktiven Gewerkschaftsvorsitzenden vermittelte uns Chen Weiguang, ehemaliger Vorsitzender der Guangzhou Federation of Trade Unions und Vice Chairman of the People‘s Congress of the City of Guangzhou. Wir trafen uns im Gewerkschaftsmuseum in Guangzhou, das uns einen Eindruck von der kämpferischen Vergangenheit der chinesischen Gewerkschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermittelte.

Da wir im Vorfeld erfahren hatten, dass der politische Druck auf gewerkschaftliche Aktivitäten in den letzten Jahren zugenommen hat, wurde das Gespräch eingeleitet mit der Frage, was sich für die Gewerkschaften seit 2012 verändert habe. Chen antwortete, es sei besser zu fragen, was sich nicht verändert habe: Die Gewerkschaft stehe unter der Führung der KPCh, und das müsse auch so bleiben.

Er führte dann aus4: »Wegen der Globalisierung der Weltwirtschaft wurde die strenge Planwirtschaft abgeschafft. Dies bringt für die Gewerkschaften zwei Aufgaben: Die Gewerkschaft muss gleichzeitig die wirtschaftliche Entwicklung und die Interessen der Arbeiter berücksichtigen. Somit haben sich die Aufgaben der Gewerkschaften verändert. Während der Phase der Planwirtschaft war es das Ziel der Gewerkschaften, die Wirtschaft zu fördern. Nach der wirtschaftlichen Öffnung änderte sich deren Funktion in den Privatunternehmen. Die Rechte der Arbeiter zu schützen ist jetzt die zentrale neue Aufgabe. Die Gewerkschaften haben dabei Erfolge erzielt, allerdings sind viele Gewerkschaftsvertreter noch mit der alten Zeit verbunden, sie verhalten sich wie zu Zeiten der Planwirtschaft. Das hat zu einer Entfremdung der Gewerkschaften von den arbeitenden Massen geführt. Aktuell erarbeitet der chinesische Präsident ein Konzept zur Reform der Gewerkschaften, damit diese ihren neuen Aufgaben gerecht werden. Die größte Veränderung wird darin bestehen, dass die Vorsitzenden auf allen Leitungsebenen der Gewerkschaft demokratisch gewählt werden und dass VertreterInnen des Managements nicht gleichzeitig eine Führungsfunktion in einer Gewerkschaft einnehmen können. Das wurde für die Provinz Guandong bereits umgesetzt. So trat beim Honda-Streik in Guang­zhou 2010 die Meinung der Basis der Gewerkschaften ans Licht, es wurde eine Erhöhung der Löhne um 24 Prozent gefordert. Das war eine große Herausforderung für die Gewerkschaftsführung. Die Gewerkschaftsreform ist jedoch noch lange nicht vollbracht. Die freie Entscheidungsmöglichkeit der Gewerkschaften ist noch beschränkt. Gewerkschaften werden immer noch häufig von den Unternehmen kontrolliert. Eine weitere Herausforderung ist die Schulung der gewählten Gewerkschaftsvertreter. 2016 kam es zu einer Abwärtsentwicklung für die chinesische Wirtschaft. Für die Gewerkschaften war es schwer, Lohnerhöhungen durchzusetzen. Gleichzeitig klagt das private Kapital über zu hohe Löhne; es fordert, Löhne zu senken und das Arbeitsvertragsgesetz zu streichen. Dieses muss aber im Grundsatz erhalten bleiben, dafür müssen die Gewerkschaften kämpfen« – so Chen Weiguangs Kurzanalyse.

Chen sprach auch über die internationalen Dimensionen der Gewerkschaftsaufgaben und zitierte dazu aus dem Kommunistischen Manifest den Schlusssatz: »Proletarier aller Länder vereinigt Euch«. Er betonte, der Kontakt der chinesischen Gewerkschaften zu Gewerkschaften anderer Länder sei wichtig, denn trotz unterschiedlicher politischer Systeme stünden z.B. China und Deutschland vor denselben Herausforderungen, etwa der Digitalisierung der Wertschöpfungsketten in den Fabriken, Büros und bei den Zulieferern. Er sah die Zukunft Chinas darin, sich von der »verlängerten Werkbank der Industrienationen« hin zu einem Wirtschaftsstandort mit eigener Entwicklung und Produktion von hochwertigen Industrieprodukten zu entwickeln.

China sei im Verhältnis zu Deutschland zwar noch ein Entwicklungsland, trotzdem erschwere die Verlagerung von Produktionszweigen und Arbeitsplätzen von Deutschland nach China die Zusammenarbeit der Gewerkschaften. »Wir müssen aber die Einheit der Arbeiterklasse im Auge behalten. Chinesische Arbeiter können von deutschen Arbeitern lernen, ebenso die Gewerkschaften. Allerdings führt ein Austausch von Erfahrungen deutscher und chinesischer Gewerkschaften zu Bedenken bei der chinesischen Regierung. Eine gegenseitige Unterstützung ist gut und erstrebenswert, aber wegen der unterschiedlichen politischen Systeme schwer zu erreichen. ›Proletarier aller Länder vereinigt Euch‹, ist ein wichtiges Ziel. Heute sind die Arbeiterklassen jedoch gespalten. Deswegen muss die Arbeiterklasse in jedem Land ihren eigenen Weg wählen.«

Über sensible Themen solle daher, so Chen Weiguangs Fazit, bei dem Erfahrungsaustausch nicht gesprochen werden. Erst müsse gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden, dann könne die Beziehung zwischen den Gewerkschaftsvertretern auch intensiver werden.

            Partei-Gewerkschaft und Marktwirtschaft

In der anschließenden Diskussionsrunde thematisierten TeilnehmerInnen die Frage der Stärke der chinesischen Gewerkschaft. Sie interpretierten die zahlreichen Streiks vor der Revolution als Zeichen von Stärke und fragten, aus welchen Quellen sich gewerkschaftliche Stärke gegenwärtig speise. Chens Antwort lautete: »Das hängt davon ab, wie stark sich die Gewerkschaft in selbständige Streiks einmischt. Eine konservative Gewerkschaft hat oft nur leere Worte, deswegen haben die Arbeiter auch kein Vertrauen zu diesen Gewerkschaften. Andere Gewerkschaftsgliederungen fordern bei einem Streik tarifliche Verbesserungen oder einen neuen Tarifvertrag vom Kapital. Dieses Vorgehen hat sich beim Honda-Streik 2010 bewährt, und das Verhandlungsergebnis der Gewerkschaft wurde von den Arbeitern akzeptiert. Auch bei OTIS war das so, dort hat auch die Unternehmensleitung das Verhandlungsergebnis akzeptiert. Um erfolgreich zu sein, muss die Gewerkschaft das Vertrauen der Arbeiter haben.«

Eine weitere Frage bezog sich auf die Beziehung zwischen der ACFTU und den NGOs, die sich um die Rechte der Arbeiter kümmern. In Chens Antwort wird die Widersprüchlichkeit zwischen dem Anspruch einer Gewerkschaft, die sich politisch an einer ›kommunistischen‹ Partei ausrichtet, und der Realität deutlich: »In China haben wir heute die Entwicklung zu einer Marktwirtschaft. Viele Regelungen sind noch nicht angepasst an diese neue Entwicklung, das ist auch beim Streik so. Es gibt eine Grauzone, in der sich entscheidet, ob ein Streik legitim ist oder nicht.« Auf Nachfrage bestätigt Chen, dass NGOs in besonderem Maße überwacht werden, wenn sie Themen aufgreifen, die in den Bereich der Gewerkschaften fallen.

Chen führte aus, dass es zudem oft zu Streiks komme, wenn die Gewerkschaft sich die Forderungen der Belegschaften nicht zu eigen mache und nur bemüht sei, eine einvernehmliche Lösung mit den Kapitalisten zu finden. Dies führe dann oft dazu, dass die ArbeiterInnen selbst die Initiative zu einem Streik ergriffen. Spätestens dann müsse die Gewerkschaft versuchen, das Kapital davon zu überzeugen, dass Verhandlungen über die Forderungen der ArbeiterInnen der erfolgreichste Weg seien, und sie sollte dies an positiven Ergebnissen von Vorzeigebetrieben erläutern.

Würden die Vorschläge der Gewerkschaft nicht akzeptiert, werde in einem Schlichtungsverfahren mit Unterstützung der Regierung Druck auf das Unternehmen ausgeübt, um dieses zu bewegen, Verhandlungen zu akzeptieren und den Forderungen der ArbeiterInnen entgegenzukommen.

Was Chen nicht ansprach: Arbeitskämpfe müssen sich auf den jeweiligen Betrieb beschränken, und die Polizei geht häufig hart gegen Protestierende vor, mit Verhaftungen und Gewaltanwendung. In den letzten Jahren wurden Streikführer häufig verhaftet und monatelang ohne Gerichtsverfahren weggesperrt.5

Er führte aus, dass der Gewerkschaftsvorsitzende des Allchinesischen Gewerkschaftsbundes zugleich stellvertretender Vorsitzender beim Volkskongress ist. Auch auf Provinzebene bekleiden die Gewerkschaftsvorsitzenden die entsprechenden Parteiämter. Die Gewerkschaften werden so am Gesetzgebungsprozess beteiligt – neben VertreterInnen des Kapitals und der Regierung. In einem neuen Gesetz für die Gewerkschaften solle geregelt werden, dass Gewerkschaften bei ihrer Arbeit in den Unternehmen nicht behindert werden dürfen, die Gewerkschaftsführung nicht vom Unternehmen bestimmt werden kann und Wahlen zu Führungsfunktionen in den Gewerkschaften geheim sind.

In allen Gesprächen mit ArbeiterInnen sowie VertreterInnen von NGOs erhielten wir dieselbe Reaktion, wenn wir nach den Aktivitäten der Gewerkschaft zur Interessenvertretung der ArbeiterInnen fragten. Sie winkten ab. Offensichtlich ist es noch ein weiter Weg, bis Chens Vorstellung von einer chinesischen Gewerkschaft, welche aktiv die Interessen der abhängig Beschäftigten vertritt, Wirklichkeit wird.

            Zur Rolle und Situation von NGOs in China

Es gibt Beratungsstellen und Arbeiterzentren, die als NGOs ArbeitsmigrantInnen über soziale und Arbeitsrechte beraten, kulturelle Aktivitäten veranstalten oder Räume anbieten, um auch mal in Ruhe lesen zu können. Sie werden von Organisationen außerhalb Chinas finanziell unterstützt, wie z.B. Brot für die Welt, Oxfam oder eben auch vom Forum Arbeitswelten. Sie sind oft die einzigen, die über Streiks oder andere Kämpfe berichten und Informationen darüber im Ausland verbreiten. Ein chinesischer Kollege berichtete, dass sein Arbeiterzentrum wie viele andere bisher als Firma registriert war, obwohl es sich primär um juristische und soziale Unterstützung handele. Das ist nach dem neuen NGO-Gesetz vom Dezember 2016 nicht mehr möglich. Eine neue Rechtsgrundlage für die NGOs sei erst für Ende 2017 in Aussicht gestellt, eine behördliche Registrierung und Genehmigung der Aktivitäten ist aber vorgeschrieben. Einstweilen steht die Arbeit des Zentrums also in Frage. Den Hintergrund dieser Maßnahmen fasste unser Kollege so zusammen: »Ausländer sollen ihre Nase nicht in chinesische Angelegenheiten reinstecken.« Die Polizeibehörde dieser Stadt wolle außer Touristen keine Ausländer in der Stadt sehen.

Es gibt neben den registrierten NGOs auch nicht registrierte Arbeitergruppen, die teils verdeckt mit NGOs kooperieren. Diese arbeiten in der Illegalität, haben andere Aktionsmöglichkeiten und können nur schwer überwacht werden. Verständlicherweise erfuhren wir über die Arbeit und die Strategien dieser freien Gruppen wenig. Wenn diese Arbeitergruppen keine Beziehung zu NGOs haben, kann über die Unterdrückung in China allerdings auch nicht im Ausland berichtet und kein Druck über die Medien aufgebaut werden.

In unseren Gesprächen wurde deutlich, dass KollegInnen aus den Arbeiterzentren Wert auf einen Informations- und Gedankenaustausch mit Gewerkschaftern aus dem Ausland legen. Alle könnten, so die Einschätzung, aus einem offenen Austausch über Erfolge und Niederlagen voneinander lernen.

 

Gertrud Rettenmaier arbeitet im Bildungsbereich mit dem Schwerpunkt Familien mit Einwanderungsgeschichte. Johannes Hauber ist Rentner. Er war Betriebsratsvorsitzender bei Bombardier in Mannheim, Vorsitzender des Europäischen Betriebsrates und ehrenamtlich Vorsitzender des Europäischen Branchenausschusses Bahnindustrie.

 

Anmerkungen:

1          China Labour Bulletin zählte von 2012 bis Anfang 2016 6.359 Streiks in China, 2.773 alleine in 2015.

2          Siehe: »Arbeitskämpfe in China«, Beiblatt Nr. 5 zur Broschüre »Chinesische Arbeitswelten – in China und in der Welt«, Stiftung Asienhaus 2016

3          Näheres zu diesem Streik ist auch nachzulesen im Bericht von Xu Hui. »Studierende unterstützen Kämpfe der Arbeiterinnen«, in: »Chinesische Arbeitswelten – in China und in der Welt«, Stiftung Asienhaus in Zusammenarbeit mit dem Forum Arbeitswelten e.V. und express (Hg.), Köln 2016

4          Mitschrift der mündlichen Übersetzung

5          In der chinesischen Verfassung wurde das Streikrecht 1982 gestrichen, das war eine der Modernisierungen unter Deng Xiaoping. Seitdem besteht eine Grauzone, weil Streiks nicht ausdrücklich verboten sind. Weil keine handlungsfähige Vertretung der Beschäftigten besteht bzw. diese Aufgabe von der Gewerkschaft nicht wahrgenommen wird, kommt es immer wieder zu Streiks, deren Anzahl in den letzten Jahren zunahm (siehe »Arbeitskämpfe in China«, Asienhaus 2015).

 

Mindestlohn – einige Daten

Nach einem nationalen Beschäftigungsplan aus dem Jahr 2010 sollte der Mindestlohn jährlich um 13 Prozent steigen, 2011 wurde dieses Ziel mit einer Steigerung um 22 Prozent deutlich überschritten. Die Inflationsrate lag in den letzten Jahren bei ca. sechs Prozent, Lebensmittelpreise stiegen, z.B. in Peking und Shenzhen, in manchen Jahren um bis zu zwölf Prozent. Die Mindestlöhne sind nicht in allen Provinzen gleich hoch.

Jahr 2014/15:

Guangzhou 1.895 RMB (≈ 240 Euro)

Shenzhen 2.020 RMB (≈ 256 Euro) 

Jahr 2011/12:

Guangzhou 1.300 RMB (≈ 164 Euro)

Shenzhen 1.500 RMB (≈ 190 Euro)

Für 2015 war eine Lohnsteigerung von ca. 7 Prozent geplant, wir konnten nicht ermitteln, ob sie so umgesetzt wurde. Der Lohnanteil am BIP ist kontinuierlich gesunken.

Zahlen nach Präsentation Boy Lüthje