Eine Metapher, keine Wendemarke

Die Rolle der Dritten Welt für und während "1968"

Unter Linken wie unter GlobalhistorikerInnen gibt es die Tendenz, die 1968er-Bewegung als globales revolutionäres Subjekt zu interpretieren. Zwar habe sie sich weltweit in sehr verschiedenen Ländern und Kontexten gezeigt. Doch gerade die gemeinsame antikoloniale und antiimperialistische Stoßrichtung habe die Protestierenden in den Ländern des Nordens mit jenen in der Dritten Welt geeint. Der linke Historiker Arif Dirlik warnt demgegenüber davor, die Gemeinsamkeiten zu überschätzen.

Wir präsentieren hier erstmals in deutscher Übersetzung die Kurzfassung eines Essays von ihm, der in der internationalen Literatur über 1968 viel rezipiert wurde. Der redaktionell stark gekürzte Aufsatz erschien zuerst in: Carole Fink, Philipp Gassert, Detlef Junker: 1968: The World Transformed. Cambridge University Press 1998, S. 295 – 318. Eine erheblich längere ins Deutsche übersetzte Fassung mitsamt den hier entfallenen Literaturangaben steht auf www.iz3w.org

Das Neunzehnhundertachtundsechzig, wie ich es verstehe, war keine zeitliche Verortung eines universellen Geistes oder einer universellen Tendenz, wie sie sich in verschiedener Form an unterschiedlichen Orten ausdrückte. Es besaß auch nicht überall dieselbe Bedeutung als historischer »Wendepunkt«. Aus der Perspektive Europas und der USA schufen die Intensivierung studentischer Aktivitäten in den 1968 vorausgehenden Jahren und deren Niedergang im Anschluss den Eindruck, dass 1968 eine eindeutige historische Wegmarke ist. Dies ist in der Dritten Welt nicht der Fall.

Unter den Nationen der Dritten Welt, in denen es zu wesentlichen studentischen Aktivitäten kam, finden sich Brasilien, die Zentralafrikanische Republik, Chile, Ecuador, El Salvador, Äthiopien, Ghana, Indien, Indonesien, Malaysia, Marokko, Nicaragua, Südafrika, Südkorea, Sri Lanka, Sudan, Tansania, Thailand und Sambia. Aus einer globalen Perspektive erhält 1968 seine Bedeutung aus dem Zusammentreffen vieler Bewegungen auf der ganzen Welt, die bereits seit einiger Zeit aufkeimten und deren Gleichzeitigkeit aus dem Jahr 1968 einen historischen Wendepunkt machte. Diese Gleichzeitigkeit lässt 1968 als Höhepunkt vorhergehender Jahre erscheinen oder als Ausgangspunkt für die kommenden Jahre; daraus leitet sich nicht ab, dass die einzelnen Bewegungen, die in die Entstehung von 1968 einfließen, notwendigerweise in jenem Jahr ihren Höhepunkt erreicht hatten.

Sicher gab es Gemeinsamkeiten. 1968 schien Bewegung auf Bewegung in einem Land nach dem anderen zu folgen. Überall standen Studentenbewegungen im Mittelpunkt und vermittelten so den Eindruck einer weltweiten Politisierung von Bildung. Das Übergewicht der Studierenden in diesen Bewegungen garantierte fast unfehlbar, dass gemeinsame Fragen in Bezug auf Bildung, Bildungsinstitutionen und deren Rolle in der Gesellschaft in vielen verschiedenen Kontexten zur Sprache kamen. In jedem der Fälle schien das Verhältnis zwischen Bildung und Politik eine brennende Frage zu sein. Kommunikation zwischen völlig verschiedenen Gesellschaften, in vielen Fällen vermischt mit organisatorischen Verbindungen zwischen den Studierenden, deuteten nicht nur auf unterschiedliche Bewegungen mit gemeinsamen Anliegen hin, sondern vermittelten den Eindruck einer organisierten Bewegung, die nationale und sogar kontinentale Barrieren überstieg.

Die Gemeinsamkeiten mögen jedoch überbetont sein. Die von den Bewegungen kritisierten Missstände waren ’im heimischen Boden verwurzelt‘. In vielen Fällen hatten die Bewegungen von 1968 ihre eigenen Geschichten, die zu bedeutsamen Unterschieden in ihrer Konfiguration führten und ganz unterschiedliche Lösungen der Missstände, die sie hervorgerufen hatten, erforderlich machten. In den Worten von Suleyman Genc, einem Historiker der politischen Bewegungen der 1960er in der Türkei (seinerseits Aktivist): »Es ist nicht ganz zutreffend, Zusammenhänge zwischen den Vorgängen in Europa und denen der Türkei herzustellen. Zweifelsohne haben die Kommunikationsmedien psychologische Effekte erschaffen, die einen gewissen Grad an Übereinstimmung mit den dortigen [gemeint ist Europa] Vorgängen produzierten. Aber die sich in der Türkei abspielenden Entwicklungen waren keinesfalls Kopien der europäischen Vorgänge«.

1968 in der Volksrepublik China

Man kann sagen, dass die weltweiten Aufstände von 1968 für die Volksrepublik China, die von der Welt so stark abgeschottet war, wie es für eine größere gesellschaftliche Formation in der Moderne überhaupt nur möglich war, am wenigsten relevant waren. Sicher, in jenem Jahr gab es auch in China bedeutsame Aufstände. Der am besten dokumentierte Fall ist die Tsinghua-Universität in Beijing, die zwischen April und Juli 1968 Schauplatz zugespitzter Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Fraktionen von Studierenden war, an denen schließlich auch ArbeiterInnen, die Volksbefreiungsarmee und die höchsten Ebenen der Partei- und Regierungsführung beteiligt waren. Es gab 1968 in ganz China vergleichbare Geschehnisse. Doch sie hatten wenig mit den anderswo stattfindenden Entwicklungen während dieses Jahres zu tun.

Mit China beginne ich aber nicht deshalb, weil 1968 so wichtig für China wäre, sondern aufgrund der Bedeutung, die China für 1968 besitzt. Eben weil China von den weltweiten Geschehnissen in den 1960er Jahren, insbesondere nach 1966, abgeschnitten war, steht es exemplarisch für eine Situation in der Dritten Welt, in der 1968 ein Produkt intern erschaffener Konflikte war. Dennoch sollten die Vorgänge in China während dieser Jahre weltweite Auswirkungen haben, da zunächst das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis und dann die Kulturrevolution (offiziell von 1966-69) die Volksrepublik ins Zentrum des Weltradikalismus rückte. Dies machte die chinesischen revolutionären Erfahrungen zu einem Paradigma nicht nur der Dritten Welt, sondern auch der Ersten. Von den Philippinen bis Peru, von Japan bis Nordamerika sollten Mao Tse-Tungs Marxismus und die Praktiken der Kulturrevolution eine bedeutsame Rolle in der Entstehung von 1968 spielen.

Das Hervorstechendste an der Kulturrevolution war der moralische Eifer, mit dem die Maoisten Probleme gesellschaftlicher Spaltung und Entfremdung angingen. China war auch deshalb beispielgebend, weil es, im Gegensatz zu anderen Gesellschaften, die politische Führung war, die den Versuch der Revolutionierung der Gesellschaft initiierte. Die religiöse Anbetung eines Führers, die oft komische Dimensionen annahm, schien den Radikalen, die politisch die Demokratie suchten, ein kleiner Preis zu sein.

Das maoistische Paradigma bezog weitere Attraktivität aus seiner Verschmelzung mit anderen Kämpfen der Dritten Welt in den 1960ern, die gemeinsam als Vorboten einer neuen Form des Sozialismus und einer neuen Gesellschaft dienten. Von besonderer Bedeutung waren in dieser Hinsicht die Kämpfe in Vietnam und Kuba. Vietnam stellte 1968 das unmittelbarste Modell einer Revolution des Volkes dar, das auch den globalen Konflikt zwischen der Ersten und der Dritten Welt in den Vordergrund trug. Wenn China ein Paradigma für eine alternative Entwicklung bot, dann war Vietnam in den 1960ern ein Beispiel für eine Gesellschaft, die dieses Paradigma gegen die Unmittelbarkeit des Imperialismus anstrebte. Der antiimperialistische Kampf von unten in Vietnam verlieh dem volksbasierten chinesischen Entwicklungsmodell zusätzliches Gewicht, da beide Ergebnis nationaler Befreiungskämpfe gegen den Imperialismus waren.

Der vietnamesische Guerillakrieg, wie er in der Tet-Offensive gegen die USA exemplarisch zum Ausdruck kam, muss jedoch von einem anderen Beispiel für den Guerillakrieg unterschieden werden, der damals durch Che Guevaras Aktivitäten in Bolivien personifiziert wurde und mit seinem Tod durch die CIA und das bolivianische Militär wenige Monate zuvor geendet hatte. Die 1968 dominierende Verwirrung bezüglich beidem war für die radikale Bewegung fatal. Denn es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einer militärischen Operation wie Tet, die in ihrem Einsatz von Guerillataktiken sehr gründlich entworfen worden war, und einer Guerillaoperation, die sich in der Hoffnung auf eine schlussendlich militärische Operation der nationalen Befreiung in großenteils unbekanntes Gebiet vorwagte. 1968 schufen die Bilder von Guevara, die häufig von Mao-Bildern begleitet wurden, in der Dritten wie in der Ersten Welt den Eindruck, es gäbe eine globale Guerilla. Doch Mao und Che trennten Welten.

Sie teilten zwar einige Ansichten, allem voran den Antiimperialismus, die Vorstellung eines Sozialismus, der auf dem Volk aufbaut, und den Glauben an die Fähigkeit des revolutionären Kampfes, eine neue revolutionäre Kultur zu erschaffen. Was sie aber 1968 vor allem vereinte, waren die Bilder der Ersten Welt von der Dritten Welt sowie die Vorstellungen in der Dritten Welt, dass das, was gegen den Imperialismus an einem Ort funktionierte, ebenso gut an einem anderen funktionieren würde. Es erübrigt sich zu sagen, dass letzteres im Widerspruch zu den Grundlagen des Guerillakrieges selbst steht; aber in den unbesonnenen Tagen von 1968 hatten solche subtilen Unterscheidungen nicht viel Gewicht.

1968 in der Türkei

Neunzehnhundertachtundsechzig war in der Türkei ein ereignisreiches Jahr. Beginnend im April setzte eine »Boykott- und Besetzungs-Bewegung« ein, die sich rasch von Ankara nach Istanbul und auf Provinzuniversitäten jeder größeren Stadt ausbreitete. Im Juni waren die Universitäten in der Türkei lahmgelegt. Die bildungspolitischen Anliegen, die zu der »Boykott- und Besetzungs-Bewegung« geführt hatten und an der sich viele Studierende beteiligten, wurden von Fraktionskämpfen überschattet. Dadurch wurden die Universitäten zu Kampfgebieten, in denen sich, ähnlich wie an der Tsinghua-Universität in Beijing, bewaffnete Gruppen in anhaltenden Auseinandersetzungen gegenüberstanden. Geformt durch die politischen Konflikte, die das Land seit 1965 erschüttert hatten, wurden die Studentenbewegungen von 1968 das Medium, durch das tief sitzende gesellschaftliche Spaltungen artikuliert wurden. Wenig überraschend drängte die Bewegung in einer nach der anderen Stadt von den Universitäten auf die Straßen, wo es einen Bürgerkrieg »niedriger Intensität« gab, der bis weit in die 1970er Jahre dauerte.

Wie in den Fällen Chinas und Indiens war auch in der Türkei die Beteiligung anderer Gruppen als die der Studierenden dafür verantwortlich, dass der Eindruck eines Bürgerkriegs entstand. Ab dem Februar 1968 begleiteten Arbeiterunruhen die Studentenbewegung, was schließlich zu der öffentlich stark wahrgenommenen Übernahme eines Gummiwerks im Juli in Istanbul führte. Der Klassenkonflikt (der durch Stammes- und ethnische Konfrontationen verschärft wurde) war während dieses Jahrzehnts in den ländlichen Gegenden, insbesondere im Osten der Türkei, endemisch gewesen.

Auch die Studentenbewegung in der Türkei drückte sich in der Sprache des zeitgenössischen Radikalismus aus. Antiimperialismus und die Suche nach nationaler politischer und ökonomischer Autonomie waren zentral für die Grammatik dieser Sprache, die von der Kubakrise, aber insbesondere durch den Konflikt in Zypern im Jahr 1965 genährt wurde. Viele waren zunehmend besorgt, dass die Türkei nur wenig mehr als ein Faustpfand in der globalen Strategie der USA war; bei mindestens zwei radikalen Geschehnissen kam es zu gewalttätigen Reaktionen auf die Provokationen der Sechsten Flotte der USA. Der Wunsch nach einer autonomen nationalen Kultur wie auch die Suche nach lokalen Revolutionen von unten kamen am deutlichsten in den Forderungen der KurdInnen der Osttürkei zum Ausdruck. Die größte linksradikale Studentenorganisation Dev-Genç (Union der Revolutionären Jugend), die im April 1968 gegründet wurde, sollte zu einem Rekrutierungsbecken für den Maoismus werden.

Was den Fall der Türkei im Jahr 1968 charakterisiert, war jedoch die ideologische Spaltung in den Reihen der Radikalen, die sich nicht auf die Linke beschränkte. Die entscheidenden Spaltungen waren jene zwischen linken Intellektuellen, rechten islamischen Fundamentalisten (einschließlich des späteren Premierministers Necmettin Erbakan) sowie rechten Nationalisten, die von Alparslan Türkeş angeführt wurden, dessen faschistische Ideologie durch das Verlangen nach einem großtürkischen Reich angetrieben wurde.

Rechte politische Gruppen und ihre Aktivitäten spielten eine wichtige Rolle in der Gestaltung der radikalen Bewegung von 1968 und folgender Jahre, wobei die Fundamentalisten sich im Einzugsbereich von Moscheen organisierten und die Nationalisten in populistischen Organisationen mit ihren Kommandozentralen. Bis August hatten einige der islamistischen Gruppen einen »Dschihad« gegen die Linke mit dem Versprechen ausgerufen, dass die Zukunft der Türkei nicht wie in Vietnam oder Kuba, sondern wie in Indonesien aussehen würde. Es waren die Guerillagruppen von Türkeş, die im August 1968 aus politischen Konflikten bewaffnete machten.

Während in den meisten Gesellschaften die Geschehnisse von 1968 von Linken in Gang gebracht worden waren, war es in der Türkei eine Studentin der Fakultät für Theologie an der Universität von Ankara, die die »Bewegung des Boykotts und der Besetzung« ins Leben rief. Sie hatte darauf bestanden, im Seminar ein Kopftuch zu tragen, eine Handlung, die nicht nur juristisch den kemalistischen Säkularismus herausforderte, sondern auch dessen Legitimität infrage stellte.

1968 in Ägypten und Äthiopien

In den 1960er Jahren gärte es unter den Studierenden in ganz Afrika. Am 21. Februar 1968 beendeten Studierende in Kairo und Alexandria eine 14 Jahre dauernde Periode der Ruhe und gingen zur Unterstützung eines Streiks von ArbeiterInnen auf die Straße. Frustrationen, die aus der Niederlage im Krieg mit Israel von 1967 entstanden waren, spielten sowohl im Streik als auch in den nachfolgenden Aktivitäten der Studierenden eine wichtige Rolle. Nichtsdestotrotz boten sie die Gelegenheit, Unzufriedenheit mit dem Nasser-Regime zum Ausdruck zu bringen. Forderungen nach Demokratie an der Universität und in der Gesellschaft insgesamt waren unter den Studierenden stark. Parolen wie »Nieder mit dem Militärstaat« oder »Nieder mit dem Geheimdienststaat« waren auf ihren Demonstrationen zu hören.

Während einige Regierungsmitglieder lahme Versuche unternahmen, die Studentendemonstrationen Kräften von außen oder Reaktionären zuzuschreiben, die durch die Revolution von 1952 aus ihren Ämtern entfernt worden waren, nahmen die Behörden insgesamt eine versöhnlerische Haltung gegenüber den Studierenden ein, die sie als »unsere Söhne und Brüder« bezeichneten. Die Konzessionen der Regierung zugunsten größerer Freiheit an den Universitäten, begleitet vom Versprechen größerer politischer Freiheiten, entschärften die Situation. Doch die wiederhergestellte Ruhe wurde im November gebrochen, als die Studierenden einmal mehr auf die Straße gingen, dieses Mal als Antwort auf das neue Bildungsgesetz, das an die Universitätszugangsprüfungen größere Anforderungen stellte. Die in der Stadt al-Mansoura am 21. November einsetzenden Demonstrationen breiteten sich rasch aus und führten zu erheblichem Blutvergießen und Zerstörung.

Auch wenn der Anlass im engeren Sinne die Hochschulbildung zu sein schien, nahmen auch Nichtstudierende an den Demonstrationen und Streiks teil. Diese zweite Runde der Gewalt im Jahr 1968 wurde durch die »praktischen« Probleme beendet, die sich durch den Ramadan auftaten. Dieses Mal war die Antwort der Regierung weniger nachsichtig, die Streiks zogen die Einschränkung der Freiheiten nach sich, die den Studierenden zuvor zugestanden worden waren. Die durch die Geschehnisse von 1968 an die Oberfläche gebrachten Widersprüche wurden nicht gelöst und sollten im Jahr 1970 in noch militanteren Studentenprotesten ihren Höhepunkt finden.

Der Studentenaufstand in Äthiopien begann anlässlich einer scheinbar trivialen Angelegenheit und erschien nach außen hin als regressiv. Anlass war eine Modenschau, die am University College in Addis Ababa, einer von Ausländern dominierten Institution, abgehalten werden sollte. Am 30. März versammelten sich die Studierenden bei der Ras-Makonnen-Halle, wo die Modenschau stattfinden sollte. Als die Gäste ankamen, fingen einige Studierende an, Akte physischer Gewalt auszuüben; Frauen wurden geschlagen und geohrfeigt, Gäste und Teilnehmende wurden unterschiedslos mit verfaulten Eiern beworfen; einige Gäste wurden aus ihren Autos gezogen und belästigt. Studenten bespuckten Frauen, Beschäftigte und andere Universitätsangehörige.

Die Polizei wurde gerufen, 38 Studenten wurden festgenommen, die Studentengewerkschaft wurde verboten und die Universität geschlossen. Als sie wiedereröffnet wurde, führte eine erhebliche Zahl von Studierenden ihren Boykott der Seminare fort. Mit dem Beginn des neuen akademischen Jahres im November verfügten sie über genügend Macht, um ihre Studentengewerkschaft wieder ins Leben zu rufen. Innerhalb dieser spielten Marxisten eine wichtige Rolle, was zur Eskalation des Studentenradikalismus nach 1968 beitragen sollte.

Der Fokus auf die Modenschau als Gelegenheit für Protest verlieh der Studentenbewegung von 1968 einen misogynen Charakter. Studentinnen wurden harte Vorwürfe gemacht, wegen ihrer ‚beschämenden‘ Teilnahme an der Modenschau, und ein studentisches Flugblatt versicherte, dass »sie als Komplizinnen der Neokolonialisten in die Geschichte eingehen werden… die für die Einführung des Minirocks und dessen Auswirkungen auf die Moral dieses Landes verantwortlich sind«. Wie auch im zeitgenössischen China geschehen, brachte die Bewegung von 1968 ein scharfes Bewusstsein der kulturellen Dimensionen des Kolonialismus zum Ausdruck. Ein anderes Flugblatt erklärte, dass die »Modenschau nichts anderes ist, als ein solches Mittel des Neokolonialismus … ein Instrument für die Schaffung eines Marktes für Luxusgüter. Da der Ursprung dieser Waren in den entwickelten Nationen liegt, trägt der Ertrag vom Verkauf dieser Textilien überhaupt nicht zum Wachstum unseres lokalen Einkommens bei«.

Bei ihrer Entstehung in den frühen 1960er Jahren befasste sich die Studentenbewegung in Äthiopien mit den Freiheiten der Studierenden. Jene, die in den Seminaren von der Notwendigkeit der Freiheit erfahren hatten, wurden sich zunehmend des Mangels an Freiheiten in ihren eigenen Angelegenheiten bewusst. Dieses gewachsene Bewusstsein wurde in diesem Jahrzehnt noch durch andere Belange genährt. Die verstärkte Einmischung der USA in die äthiopischen Angelegenheiten nach 1960 ließ das Bewusstsein der Neokolonisierung der äthiopischen Gesellschaft wachsen. Der Krieg in Vietnam, der ein klarer Beweis für den US-Imperialismus in der Dritten Welt zu sein schien, führte zur Intensivierung der Opposition. Insbesondere nach 1958, als Studierende aus anderen Staaten nach Äthiopien kamen, beeinflussten auch die Entkolonialisierungsbewegungen anderer afrikanischer Staaten die Studierenden.

Insbesondere auf kulturellem Gebiet sollten sie erheblich zur Stärkung des Bewusstseins von der »Afrikanität« unter äthiopischen Studierenden beitragen. Dies fiel mit Veränderungen in der Klassenzusammensetzung an äthiopischen Hochschulen zusammen, die Proletarisierung der Studierenden verlief parallel zur Intensivierung der studentischen politischen Opposition zur Regierung. Die Studierenden waren sich der Kluft, die sie aufgrund ihrer Herkunft aus ländlicher oder städtischer Armut trennte, sehr bewusst.

Die 1964 gegründete Krokodilgesellschaft führte den Marxismus-Leninismus in die äthiopische Studentenbewegung ein. Der Marxismus in seiner maoistischen Variante war bis zum Sechsten Kongress der Nationalen Gewerkschaft äthiopischer Studenten im März 1967 zu einer wichtigen Strömung der Studentenbewegung geworden. Die Beschlüsse des Kongresses ignorierten die Sowjetunion praktisch, wohingegen sie in deutlichen Worten Unterstützung und Bewunderung für Maos China und Castros Kuba ausdrückten; der US-Imperialismus wurde durchgehend angeklagt.

Im Fall der äthiopischen Studentenbewegung spielten organisatorische Netzwerke eine bedeutende Rolle, da die äthiopischen Studentengewerkschaften in Europa und Nordamerika mit der Bewegung in Äthiopien in Verbindung standen. Nichtsdestotrotz war das Bewusstsein der Afrikanität bedeutsam für die Weise, in der die Ideologie der Bewegung zum Ausdruck gebracht wurde. Von besonderer Bedeutung war der Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen des Neokolonialismus und andererseits der neokolonialen Kultur, die die Hochschulbildung beherrschte. Obgleich die Antwort auf die Modenschau von 1968 oberflächlich betrachtet trivial war, wurde sie von diesem tiefer liegenden Widerspruch ausgelöst.

Die Dritte Welt und 1968

Eine Dritte-Welt-Perspektive auf 1968 erfordert eine »Doppelvision«, die sowohl global als auch lokal ist, sollen die Komplexitäten radikaler Bewegungen in diesem Jahr gewürdigt werden. Die Vorgänge von 1968 spielten sich auf vielen nationalen Terrains ab und waren geprägt durch eine Vorstellung der Welt als in Drei Welten aufgeteilt, die damals ihre schärfste Ausprägung erreicht haben mochte.

Aber 1968 stellte auch eine vorher nie da gewesene Globalisierung des radikalen Bewusstseins dar, die nationale Grenzen wie auch die durch die Metapher der Drei Welten implizierten Grenzen in Frage stellte. Das geschärfte Bewusstsein für die Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen den Drei Welten, das sehr viel zur Entstehung von 1968 beitrug, wurde von einem ebenfalls geschärften Bewusstsein begleitet, dass diese Verhältnisse und die daraus entstandenen Probleme diese Welten enger zusammenbrachte, anstatt sie voneinander zu trennen. Das verbindende Element war eine globale Unterdrückungs- und Ausbeutungsstruktur, die allerdings in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Formen annahm. Lösungen dieser Probleme in einem Kontext wurden nun auch für andere Kontexte als relevant erachtet.

Gleichzeitig gab es jedoch ein wachsendes Bewusstsein über die Notwendigkeit lokaler Lösungen für solche Probleme. So wie schon der amerikanische Imperialismus, der für den weltweiten Radikalismus eine große Rolle spielte, amerikanische Lösungen für die Probleme der Welt diskreditierte, waren die vorhergehenden radikalen Lösungen, wie sie der sowjetische Kommunismus darstellte, insbesondere nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1968 ein weiteres Opfer von 1968. Alternative Entwicklungsparadigmen, wie sie die nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt darstellten, ersetzten in den 1960ern zunehmend frühere kapitalistische oder kommunistische Entwicklungsmodelle.

So wie Radikale der Dritten Welt von radikalen Bewegungen in Europa und den Vereinigten Staaten inspiriert worden waren, nahmen Radikale der Ersten Welt Lösungen für gesellschaftliche Fragen der Dritten Welt als die ihren an. In bestimmten Fällen gab es direkte Verbindungen zwischen den Bewegungen von »1968« und ihren »Vorgeschichten«. In anderen Fällen mögen diese Verbindungen im Laufe der radikalen Aktivitäten konstruiert worden sein, dabei Traditionen des Radikalismus »erfindend«1. In Gesellschaften der Dritten Welt entstanden in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Sprachen des Radikalismus, die ein gemeinsames Vokabular teilten, ihre Grammatik aber aus ihrer konkreten Geschichtlichkeit bezogen. Ob nun 1968 als Meilenstein in unterschiedlichen Kontexten der Dritten Welt diente oder nicht, so ist dieses Jahr zumindest als metaphorische Markierung von Bedeutung.

 

Anmerkung

1             Dirlik bezieht sich hier vermutlich auf das Konzept der »Erfundenen Tradition« des marxistischen Historikers Eric Hobsbawm; Anm.d.Ü.

 

Arif Dirlik wurde 1940 in der Türkei geboren und lehrte nach seiner Einbürgerung in die USA jahrzehntelang an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten. In seiner Forschung befasste er sich vor allem mit politischen Ideologien im modernen China sowie mit Globalisierung und Postkolonialismus. Eine seiner wichtigsten Veröffentlichungen ist »Anarchism in the Chinese Revolution« (Berkeley 1991). Übersetzung aus dem Englischen: Lars Stubbe