Rudolf Rocker rockt noch immer

Bernd Drücke im Gespräch mit der Autorin Emmelie Öden

Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegungen ist eng mit dem Namen Rudolf Rocker verknüpft. Rocker war einer der bedeutendsten Theoretiker des Anarchosyndikalismus, Aktivist der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) und Verfasser u.a. der „Prinzipienerklärung des Syndikalismus“. Die FAUD löste sich kurz vor der Machtergreifung der NSDAP auf, um ihre Mitglieder zu schützen. Rocker floh in die USA. Die anarchistische Bewegung in Deutschland wurde in zwölf Jahren Nazidiktatur zerschlagen. Auch an diesen vergessenen Teil der Geschichte erinnerten die FAU Münsterland und die Redaktion der Graswurzelrevolution (GWR) am 25. November 2017 bei einer gemeinsamen Veranstaltung in Münster. Als Referentin hatten sie Emmelie Öden (*1991) aus Mainz eingeladen. Die Autorin der Broschüre „Proletarisches Mainz. Der Rudolf Rocker-Stadtführer“ (1) nahm die TeilnehmerInnen mit auf eine virtuelle Stadtführung und stellte Rocker und die damalige Arbeiterbewegung vor. Am 26. November interviewten Monika und GWR-Redakteur Bernd Drücke die Autorin im Studio des Medienforums Münster. Die Radio-Graswurzelrevolution-Sendung wurde am 15.12.2017 im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlt. Sie kann in der Mediathek der Bürgermedienplattform angehört werden. (2) Wir drucken eine überarbeitete Kurzfassung. Eine um weitere Fragen und Antworten ergänzte Version des Interviews erscheint voraussichtlich im Oktober 2018 in dem von Bernd Drücke herausgegebenen Buch „Anarchismus Hoch 4“ im Unrast-Verlag. (GWR-Red.)

 

Monika: Wie bist du eigentlich auf das Thema gekommen? Warum Rudolf Rocker?

 

Emmelie Öden: Rudolf Rocker ist ja nicht nur ein bedeutender Anarchist, sondern vor allem ein herausragender Theoretiker und auch Praktiker des Anarchosyndikalismus. Insofern bin ich, dadurch dass ich mich mit dem Anarchosyndikalismus beschäftigt habe, zwangsläufig auf Rudolf Rocker gestoßen, der nicht nur für Deutschland wichtig ist, sondern gerade auch international eine große Rolle spielte und spielt. Interessanterweise ist er im englischsprachigen und auch im spanischsprachigen Raum bekannter als in Deutschland selbst.

 

Monika: Wo hast du für die Broschüre recherchiert?

 

Emmelie: Rudolf Rocker hat ausführliche Memoiren geschrieben. Ich unterstelle ihm, dass er beim Schreiben im Hinterkopf hatte, dass sie vielleicht mal veröffentlicht werden könnten, weil sie nicht so privat geschrieben sind, wie man es von einem Tagebuch kennt. Diese Memoiren gibt es im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam. Dort kann man die „Rudolf Rocker Papers“ als Nachlass anfordern und kriegt sie als Digitalisat zugeschickt. Teilweise sind diese Memoiren im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht worden, aber nur eine Auswahl. Die gesamten Memoiren habe ich für die Broschüre durchgearbeitet, das war meine Hauptquelle. Es werden viele Adressen genannt und man weiß meist direkt, wo was stattgefunden hat. Das war für den Stadtführer, den ich gemacht habe, hilfreich. Als Ergänzung habe ich in den zeitgenössischen Tageszeitungen gestöbert, vor allem in der sozialdemokratischen Zeitung von damals, der „Mainzer Volkszeitung“, in der Rudolf Rocker als Jugendlicher oft erwähnt wurde. Anfangs durchaus positiv, später dann weniger, da er sich im Clinch mit der Partei befunden hat, aber seinen Namen findet man doch des Öfteren.

 

Bernd Drücke: Was bedeutet der Anarchosyndikalismus für dich?

 

Emmelie: Anarchosyndikalismus ist in erster Linie eine Gewerkschaftsbewegung. Historisch betrachtet kann man seine Ziele und Ideen am besten verstehen: Er ist aus einer Gewerkschaftsbewegung heraus entstanden, die gesagt hat: „Wir wollen keine zentralistische Gewerkschaft in dem Sinne, dass die Funktionäre von oben entscheiden, wann was gemacht wird, sondern wir wollen uns basisdemokratisch auf einer Ebene gemeinsam gleichberechtigt organisieren.“ Das verschmilzt zusammen mit der Idee des Anarchismus von Herrschaftslosigkeit und Selbstbestimmung. Die anarchosyndikalistische Gewerkschaftsbewegung ist somit zweiteilig. Wir haben zum einen die Ziele, die auch die Gewerkschaften, die man sonst so kennt, eigentlich haben sollten, also konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt, höhere Löhne, bessere Arbeitszeiten und Bedingungen allgemein; zum anderen aber eben auch was der Anarchismus fordert: perspektivisch eine freie Gesellschaft, in der Menschen ohne Zwang miteinander leben können.

 

Bernd: … und ohne Herrschaft...

 

Emmelie: Genau, natürlich.

 

Bernd: Kannst du ein bisschen mehr zu Rudolf Rocker erzählen? Wie ist er aufgewachsen? Wie verlief sein Leben?

 

Emmelie: Er wurde 1873 in Mainz geboren. Seine Hauptbetätigungszeit hat ca. 1900 angefangen.

In London hat er sich viel in der jüdischen Arbeiterbewegung eingesetzt, hat Streiks organisiert und ist auch viel publizistisch tätig gewesen. Ab 1919 hat er in Berlin gelebt und die erste anarchosyndikalistische Gewerkschaft in Deutschland mit aufgebaut, die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD).

Dann, 1933 nach dem Reichstagsbrand, musste er ins Exil in die USA gehen und ist dort 1958 gestorben.

Seine Kindheit und seine Jugend hat er in Mainz verlebt. Dort hat er sich politisiert und sozialisiert. Diese Zeit ist spannend, denn so kann man sehen, wie dieser Mensch, der tatsächlich bis hin zu Albert Einstein und Thomas Mann rezipiert wurde, überhaupt selbst auf diese ganzen Ideen gekommen ist: Was er als Kind und Jugendlicher gelesen hat z.B., um dann eigene Ideen zu entwickeln.

 

Monika: Kannst du bitte mehr über sein politisches Bewusstsein erzählen? Wie ist es dazu gekommen, dass er sich in die Richtung Anarchosyndikalismus entwickelt hat? Damals wurde es noch nicht so genannt oder definiert.

 

Emmelie: Ja, das stimmt. Als Rocker angefangen hat, sich mit der Politik auseinanderzusetzen, da hat der Anarchosyndikalismus ja gerade erst in seinen Kinderschuhen gesteckt. Die Ursprünge lagen in Frankreich. Damals kannte Rocker das noch nicht. Er ist selbst erst einmal in die sozialdemokratische Bewegung gelangt, das war damals vor allem in Deutschland die größte und – das dachten viele – auch die einzige sozialistische Bewegung. Aber sie war damals auch noch revolutionärer – aber was heißt viel, es scheint nicht so schwer, revolutionärer zu sein als die Sozialdemokratie es heute ist. Aber damals hatte sie noch revolutionäre Ideale und war kämpferisch. Von 1878 bis 1890 war sie auch illegal durch die Sozialistengesetze. Das heißt, die Sozialdemokraten sind im Untergrund aktiv gewesen. Schon als 13-Jähriger ist Rocker in die sozialdemokratische Bewegung gelangt, durch seinen Onkel, der schon aktiv war. Dann hat er angefangen, die ersten sozialistischen Schriften zu lesen, ist mitgekommen auf die Versammlungen und hat sich schließlich immer mehr davon entfernt, wurde immer kritischer, hatte auch immer mehr kritische Stimmen gehört, aufgenommen und dann auch selbst umgesetzt.

 

Bernd: Für mich ist auch spannend, dass er sich dem Kriegsdienst entzogen hat. Kannst du dazu noch etwas erzählen?

 

Emmelie: Ja, genau. Ihm hat der Militärdienst gedroht, weil damals jeder Mann dienen musste. Mainz war immer eine Militärstadt und das ist ihm schon früh aufgestoßen. Ihm hat sowieso keine Autorität je besonders zugesagt und er war nie gerne in der Schule, auch nie ein Lehrerliebling. Insofern konnte er das Militär nie leiden. Dem Militärdienst wollte er entgehen, weil er ein Antimilitarist war. Unter anderem deshalb hat er Deutschland verlassen. Er war kein Dogmatiker, insofern darf man seinen Antimilitarismus nicht zu eng verstehen. Ich würde ihn nicht als Pazifisten bezeichnen, weil er auch kämpferische Auseinandersetzungen befürwortet hat, zum Beispiel in Spanien 1936. Und auch in seinen Memoiren sind viele Anekdoten zu finden, die ein bisschen mit Gewalt zu tun haben und im Nachhinein auch witzig zu lesen sind, zum Beispiel Kneipenschlägereien. Später, während des Zweiten Weltkriegs hat er in Teilen die Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten befürwortet, um den Faschismus zu zerstören.

 

Monika: Ich würde gerne mehr über seine Familie wissen und seine Sozialisation. Wie sah sein Leben aus?

 

Emmelie: Seine Familie war eine Handwerkerfamilie. Sein Vater war Steindrucker und ist gestorben, als Rocker drei Jahre alt war. Seine Mutter hat sich danach als Näherin durchgeschlagen, bis sie neu geheiratet hat.

Seine Familie war sehr liberal. Sein Großvater war bei der 1848er Revolution aktiv. Ansonsten hat auch die Beziehung zur Kirche keine große Rolle gespielt. Trotzdem waren freiheitliche oder gar anarchistische Ideale nicht präsent in der Familie. Der Onkel war Sozialdemokrat und das war für Rocker der größte revolutionäre Einfluss im weitesten Sinne. Aber sein Onkel war immer zurückhaltend, er hat niemandem seine Meinung aufgezwungen. Insofern ist es eher natürlich gewachsen mit den Jahren zwischen ihm und seinem Onkel.

 

Monika: Und wenn es um seine Schulzeit geht?

 

Emmelie: Seine Schulzeit war für ihn ein Grauen. Damals war die Schule noch viel schlimmer als sie es heute ist. Da wurden die Kinder geschlagen, Zwang und Zucht waren die höchsten Gebote. Später ist seine Mutter auch noch verstorben und dann ist er im Waisenhaus gewesen. Dort hat er das, was er schon aus der Schule kannte, noch mal schlimmer erlebt. Es gab eine starke hierarchische Ordnung im Waisenhaus. Die Jungen, die dort gelebt haben, waren teilweise schwer geschädigt, weil sie dort keine Bezugsperson, keine Zuneigung erfahren hatten. Darüber hinaus war jede Phantasie abgestorben und er hatte auch einfach keine Beschäftigung dort.

 

Bernd: Auf den Anarchismus ist Rocker durch Michail Bakunins Schrift „Gott und der Staat“ gestoßen. Kannst du dazu etwas erzählen? Wann war das? Wie ist er damit in Berührung gekommen?

 

Emmelie: Das war nach seiner Lehrzeit 1891. Da hat er sich überlegt, wenn ich jetzt fertig mit der Lehre bin, kann ich ins Ausland gehen. Dann ist er auf Wanderschaft gegangen, zu Fuß von Mainz bis nach Brüssel. Dort hat damals ein internationaler Sozialistenkongress stattgefunden. Zu diesem Zeitpunkt war er in Mainz schon in der sozialdemokratischen Bewegung aktiv. Auf dem Kongress hat er viele andere Sozialisten kennengelernt. Es gab gerade im Ausland sehr viele Anarchisten. Das war in Mainz gar nicht der Fall, Mainz war damals eine sozialdemokratische Hochburg. Und in Brüssel hat er auch Anarchisten kennengelernt, auch viele deutsche Anarchisten, die zu dem Zeitpunkt im Exil gelebt. Speziell hat er dort einen jungen Mann kennengelernt, der sich Lambert genannt hat, das war sozusagen sein Pseudonym. Er war Schriftenschmuggler, deshalb musste er sich so einen Namen zulegen. Schriften, die in Deutschland verboten waren, hat er hierher geschmuggelt, zum Beispiel die Zeitschriften „Die Autonomie“ und „Die Freiheit“.

 

Bernd: „Die Freiheit“ von Johann Most aus Chicago.

 

Emmelie: Ja. Und die hat Rocker später gelesen. Über diesen Lambert hat er sie kennengelernt. Von ihm hat er die ersten anarchistischen Schriften bekommen und eben auch Bakunins „Gott und der Staat“. Das war seine erste spezifisch anarchistische Lektüre, die er auf dem Rückweg idyllisch im Grünen verschlungen hat. Darüber schreibt er auch ganz schön in seinen Memoiren, dass das der Moment war, in dem der Anarchist in ihm erwacht ist.

 

Bernd: Wunderbar. Du hast den Stadtführer „Proletarisches Mainz“ geschrieben, der das Leben von Rocker in Mainz nachzeichnet. Regelmäßig machst du damit Stadtführungen. Wie hat Rocker in Mainz gewirkt und wie wirkt er dort heute?

 

Emmelie: Er hat Mainz früh verlassen, schon kurz vor seinem 20. Geburtstag. Insofern muss man sozusagen seine Wirkung, also das, was er in Mainz hinterlassen hat, schon mal ein bisschen einschränken, aber dafür, dass er so jung war, hat er erstaunlich viel hinterlassen. Ich habe das schon vorhin kurz angesprochen, dass er oft in den Lokalzeitungen Erwähnung gefunden hat, weil er damals zu diesen jungen Menschen gehört hat, die die Sozialdemokratie kritisiert haben. Das war im Rahmen der sogenannten „Unabhängigen-Bewegung“ ab 1890. Mit der Aufhebung der Sozialistengesetze haben die sogenannten Unabhängigen begonnen, den Parlamentarismus als Taktik zu kritisieren, weil die Strategie immer opportunistischer wurde. Rocker hat sich in Mainz hervorgetan, weil er selten ein Blatt vor den Mund genommen hat, mutig und rebellisch war. Das hat den Parteiführern in Mainz nicht gefallen. Die haben dies in der Presse ein bisschen verunglimpft, nach dem Motto „der Grünschnabel hat mal wieder eine Rede gehalten und wir wissen genau, welche Phrasen er gedroschen hat“. Aber trotzdem haben sie über ihn geschrieben, so unwichtig kann er nicht gewesen sein.

 

Monika: Ich finde es spannend, dass Rocker in seinen Memoiren viele Anekdoten geschrieben hat. Könntest du eine Anekdote erzählen?

 

Emmelie: Ja, gerne. Die Memoiren sind unterhaltsam geschrieben und wahnsinnig informativ, so erfährt man viel historische Hintergründe. Eine Anekdote, die mir jetzt spontan einfällt, ist, als seine Lehrzeit angefangen hat. Er wollte immer Buchbinder werden. Das Handwerk hat er schon durch seinen Onkel kennengelernt. Allerdings war es damals nicht möglich, eine geeignete Lehrstelle zu bekommen und er musste sich durch ein gutes Dutzend anderer Lehrstellen durchhangeln, die er immer wieder gewechselt hat. Die erste Lehrstelle war die einzige, die er tatsächlich noch freiwillig ausgewählt hat, als Schiffsjunge. Für nichts anderes außer das Buchbinden hat er sich interessiert, aber er hat sich gesagt: als Schiffsjunge, das kann ich mir einigermaßen vorstellen, da bin ich wenigstens unterwegs, da hatte er Lust drauf. Also hat er angeheuert und war alleine auf einem Schiff mit einem Matrosen, der eine besondere Art und Weise hatte, sich auszudrücken. Er hat Rudolf Rocker direkt gefragt: „Du kommst doch gewiss aus Mannheim“ – dieser ganz verdutzt: „Nein, aus Mainz.“ – „Ach so, aus Mainz, das ist ja noch schlimmer. Da könnse nicht mal gerade scheißen. Die scheißen alle krumm oder um die Ecke.“ Da hat er sich ausgelassen über die Mainzer, die fand er ganz schlimm. Im rheinischen Dialekt. Ich kann das jetzt leider nicht so schön nachmachen, aber das kann man sich vielleicht vorstellen. Dann hat er ihn gefragt, wie er denn heißt: „Rrrrrrrudolf.“ und gemeint, dass sein Vater den Kalender neun Monate lang misshandelt hätte, um den dämlichsten Namen auszufinden. Der Matrose hat ihn zusammengeschissen auf dem Schiff. Man muss sich das vorstellen: Rocker war damals 15 Jahre alt und hat von diesem erfahrenen Matrosen keinen Respekt entgegengebracht bekommen. Es war hart für Rocker, da er mit ihm eine Weile auf dem Schiff war und er musste sich Mühe geben, um ein bisschen von ihm geachtet zu werden. Er hat sich ins Zeug gelegt und vernünftig gearbeitet. Mit der Zeit sind die beiden warm miteinander geworden. Rocker konnte Kartoffeln kochen, da war der Matrose erstaunt darüber.

 

Monika: Das zeigt schon Rockers Charakter und seine Erfahrungen.

 

Bernd: Was ich an Rocker auch interessant finde, ist seine Fähigkeit andere vom Anarchosyndikalismus zu begeistern. Der Anarchosyndikalismus war im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg ja eine kleine Bewegung. Vor 1914 gab es ungefähr zehntausend AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen, die zum Teil in den lokalistischen Gewerkschaften organisiert waren. Das waren basisdemokratische Gewerkschaften, die auch den Generalstreik propagiert haben. Während des Ersten Weltkriegs waren alle anarchistischen und antimilitaristischen Agitationen verboten, aber die fanden natürlich trotzdem statt, es gab zum Beispiel die anarchistische Untergrundzeitung „Der Ziegelbrenner“ von Ret Marut bzw. B. Traven. Dadurch dass die Anarchisten während des Kriegs gegen Herrschaft, Krieg und Militarismus trommelten, hatten sie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der grausamen Kriegserfahrungen von Millionen Menschen eine Massenbasis. Als Rocker 1919 aus dem Exil zurückkam wurde die FAUD als anarchosyndikalistischer Zusammenschluss der verschiedenen lokalistischen Gewerkschaften gegründet. Statt zehntausend waren es dann plötzlich für kurze Zeit bis zu 150.000 FAUD-Mitglieder. Das war in gewisser Weise eine Massengewerkschaft. Davon sind wir heute weit entfernt. Die Zeitung, für die Rocker zeitweise auch als Redakteur gearbeitet hat, „Der Syndikalist“, hatte eine wöchentliche Auflage von bis zu 120.000. Aus heutiger Sicht eine extrem hohe Auflage. Wie erklärst du dir das? Das hatte auch viel mit Rocker zu tun, weil Rocker ja durch seine Schriften stark gewirkt hat. Wie erklärst du dir diese Entwicklung? Und wie erklärst du dir die Weitsicht, die Rocker hatte? Also, er hat z.B. schon früh erkannt, dass die Russische Revolution der Bolschewisten nicht in eine emanzipatorische, sondern in eine diktatorische Richtung geht. Anders als Emma Goldman und Alexander Berkman, die das später in Russland am eigenem Leib erlebt haben und erst dann erkannt und kritisiert haben, hatte Rocker schon vorher analysiert, dass in Russland eine neue Diktatur entsteht. Wie erklärst du dir, dass Rudolf Rocker eine so weitsichtige Person war?

 

Emmelie: Das ist schwer zu begründen, ich kann ja nicht in seinen Kopf schauen. Aber er hat schon früh sehr viel gelesen, das war im Waisenhaus seine einzige Beschäftigung. Und er hat sich immer gerne theoretisch mit Dingen auseinandergesetzt und sich für Geschichte interessiert. Ich kann mir vorstellen, dass das ein Grund war, warum er in der Lage war, solche Umwälzungen gut zu analysieren: Weil er sich eben auch mit solchen Umwälzungen in der Geschichte befasst hat Zum Beispiel mit der Französischen Revolution als Schwerpunkt noch während seiner Mainzer Zeit. Das Beispiel der Russischen Revolution ist interessant, weil ihn das abgehoben hat von vielen anderen Anarchisten. Auch zum Beispiel Erich Mühsam war einer derjenigen, die am Anfang sehr viele Hoffnungen in die Russische Revolution gesteckt haben. Rocker war von Anfang an ein harscher Kritiker von totalitären Systemen und auch vom Marxismus gewesen. Deshalb hat er erkannt, dass, wenn sich dort irgendwelche Staatsformen entwickeln sollten, dann werden diese auch am Ende zu totalitären Systemen neigen, zu totalitären Strukturen führen. Er hat den sowjetischen Staat nicht so sehr unterschieden vom Faschismus. Er hat gesagt, dass Faschismus – wie er dann später in Deutschland und auch in Italien und Spanien an der Tagesordnung war – und Staatskommunismus aus demselben Holz geschnitzt seien.

 

Bernd: Rocker hat auch den bekanntesten lebenden Anarchisten, Noam Chomsky, geprägt. Aber auch Albert Einstein und Thomas Mann waren von „Nationalismus und Kultur“, Rockers Hauptwerk, beeindruckt. Dieses Buch hatte im Spanischen Bürgerkrieg Massenauflagen.

Aber auch seine Zeit in London finde ich interessant. Kannst du mehr über sein Wirken im East End erzählen?

 

Emmelie: In London hat er von 1895 bis 1918 gelebt. Es war die längste Zeit, die er an einem Ort verbracht hat, insofern hat er dort viel geleistet. Er war zum einem publizistisch tätig, und zum anderen praktisch in der Arbeiterbewegung aktiv.

Das waren seine beiden Standbeine: Theorie und Praxis. Seine publizistische Tätigkeit bestand darin, dass er eine jüdische Arbeiterzeitung mit herausgegeben hat und später auch der Herausgeber und Chefredakteur war. Die hieß „Arbeiterfreund“ oder „Arbeter-Fraynd“ auf jiddisch, denn sie war jiddisch-sprachig. Er hat sich in der jüdischen Arbeiterbewegung stark engagiert, obwohl er selbst kein Jude war. Über Kontakte im Londoner Viertel East End, wo viele jüdische Migranten und Anarchisten gelebt haben, ist er dort gelandet. Dadurch ist er zu dieser Zeitung gekommen, hat dort auch seine theoretischen Gedanken geschult und viel veröffentlicht, was er später in seinen anderen Werken vertieft hat. Was interessant ist: er hat sich viel für Literatur interessiert und in dieser Zeit auch eine Zeitschrift mit Literaturschwerpunkt selbst gegründet, die „Germinal“. Der Titel bezieht sich auf den gleichnamigen Roman von Émile Zola über die Bergarbeiter und die Arbeiterorganisation.

Das andere Standbein in London war seine Tätigkeit in der Arbeiterbewegung. Er hat Streiks mitorganisiert, saß in Streikkomitees, hat mit dafür gesorgt, dass die Arbeiter Geld bekommen und weiter Geld erhalten während des Streiks. Es gab einen erfolgreichen Streik mit mehreren hunderttausend Streikenden. Das war nicht nur im East End, wo die jüdischen Arbeiter waren, sondern das haben sie gemeinsam mit dem West End gemacht. Gerade dadurch ist die Schlagkraft entstanden, weil es viele waren und sie übergreifend gehandelt haben. Die Arbeiter im East End waren die ärmsten und die im West End waren nicht ganz so arm. Gerade durch diese Zusammenarbeit und Solidarität konnten sie so erfolgreich sein und ihre Forderungen durchsetzen.

 

Bernd: In Berlin hat Rocker bei der FAUD gewirkt. Was heute nicht so bekannt ist – die FAUD hat auch den Generalstreik als direkte Aktion propagiert, eines der Hauptkampfmittel sozusagen. Als dann am 13. März 1920 reaktionäre Freikorpssoldaten gegen die nach der Novemberrevolution geschaffene Weimarer Republik putschten, scheiterte dieser konterrevolutionäre Putschversuch nach 100 Stunden am größten Generalstreik, den es in Deutschland je gegeben hat. Dass der Kapp-Putsch scheiterte, hat viel mit den AnarchosyndikalistInnen zu tun, die zum Generalstreik aufgerufen haben und zusammen mit KommunistInnen und SozialdemokratInnen das gesellschaftliche Leben im Land zum Erliegen gebracht haben. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass man mit dem Generalstreik und anderen direkten Aktionen tatsächlich auch einen faschistischen Putsch ersticken kann. Das wird in der bürgerlichen Geschichtsschreibung kaum erwähnt.

 

Emmelie: Ja, genau, das ist gerade die Frage, die wir am Anfang schon hatten, was Anarchosyndikalismus überhaupt ist. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, um zu zeigen, wie der Anarchosyndikalismus auch arbeitet. Wir haben schon gehört, dass er parlamentarische Arbeit ablehnt, sprich auch den Staat, dann fragt man sich, was soll denn stattdessen passieren, dann leben wir alle im Chaos? Nein, es gibt eben eine Organisation durch die Gewerkschaft und auch die Methoden, um eine Gesellschaft zu verändern.

Diese Kraft, diese Macht, die die Arbeiterinnen und Arbeiter haben, denn durch ihre Arbeit kommt erst alles ins Laufen. Wenn sie dann sagen, wir machen es nicht mehr, dann stehen die Leute blöd da. Dadurch sitzen wir am längeren Hebel, wenn wir uns zusammentun und für etwas kämpfen.

 

Monika: Genau. Was können wir von Rudolf Rocker heute lernen? Was für unsere gewerkschaftliche Praxis können wir von seiner Lehre anwenden?

 

Emmelie: Das ist eine große Frage, die ich nicht abschließend beantworten kann. Ich finde seine Lehre allgemein philosophisch interessant, weil es viele Konzepte sind, die man wahrscheinlich in vielen Jahren auch noch wird anwenden können, weil sie übergreifend sind. Das ist zum Beispiel die Analyse von Zentralismus und Föderalismus, vom Gesellschaftsaufbau, der über das hinausgeht, was wir heute von Zentralismus und Föderalismus verstehen.

Also, die Bundesrepublik als Beispiel für den föderalistischen Staat, das hat Rudolf Rocker nicht gemeint, sondern Föderalismus als einen Gesellschaftsaufbau, der von Unten nach Oben funktioniert: Dass wirklich unten auf der Basis die Entscheidung stattfindet und die Entscheidung immer weiter getragen wird, aber nicht von Oben nach Unten entschieden wird. Darüber hinaus hat er damit auch verbunden, dass immer der Mensch im Vordergrund steht und die menschlichen Bedürfnisse, während im Zentralismus immer eine abstrakte Idee ganz oben steht.

Wenn man es sich wie eine Pyramide vorstellt, dann sitzt ganz oben an der Spitze der Pyramide im Zentralismus immer eine abstrakte Idee, zum Beispiel ein Gott in der Religion, oder das Kapital im Kapitalismus und im Staat eben die Regierung. Das hat er sozusagen in einem Konzept zusammengefasst, so dass man es auf viele Situationen anwenden kann: auf die neoliberalistische Wirtschaftsform heute genauso wie auf ein monarchistisches politisches System vor vielen Hunderten von Jahren.

 

Bernd: Welche Perspektiven für die anarchosyndikalistischen Bewegungen weltweit siehst du heute?

 

Emmelie: Spannende Frage. Ich sehe ganz andere Perspektiven als die, die Rocker hatte. Ich glaube, dass diese Massengewerkschaftsbewegung momentan nicht durchführbar ist. Meine persönliche Perspektive aktuell ist die eines Kollektivbetriebs: Selbermachen, indem man sich selbst nach anarchosyndikalistischen Prinzipien organisiert und wirtschaftet und dadurch versucht, eine Parallelwirtschaft gewissermaßen zu etablieren. Es gibt aktuell schon viele Kollektivbetriebe, und die Idee ist, dass je mehr es gibt und je mehr diese sich miteinander vernetzen, desto mehr kann auch auf diese kapitalistischen Strukturen verzichtet werden. Man kann hier und jetzt schon ein bisschen anders leben. Ich glaube, dass das hilfreich ist, zum einen, um Leuten zu zeigen, dass man es anders machen kann. Weil immer davon zu reden und Texte darüber zu schreiben, das hilft auch nicht, denn viele lassen sich davon nicht überzeugen.

Das ist auch verständlich, denn mit Ideen kann man erstmal nicht so viel anfangen. Aber wenn man sieht, dass die Menschen anders arbeiten können, dass es funktioniert, dass auch dadurch was erwirtschaftet wird – das öffnet einem nochmal ganz anders die Augen.

Das Andere ist, dass ein Kollektivbetrieb auch im Alltag weiterhilft, weil man andere Arbeitsbedingungen hat, also man arbeitet einfach mit mehr Freude, wenn man für sich selbst arbeitet, als wenn man sich immer nach den Vorschriften von fremden Menschen und deren Kapital richten muss. Kollektivbetriebe stehen aktuell bei mir ganz oben auf der Liste. Ich glaube auch darüber hinaus, dass eine Entwicklung zur anarchosyndikalistischen, freiheitlichen Gesellschaft ein langer Weg ist, den wir erst über Generationen erreichen werden, nach und nach, und nicht über einen großen Knall und dann gibt’s die Revolution und plötzlich ist alles anders.

 

Bernd: Also praktisch durch eine libertär-sozialistische Graswurzelrevolution, die von unten wächst und die Gesellschaft umwälzt.

 

Emmelie: Von unten natürlich sowieso, weil wir machen sie ja selber. Also langsam und mit der Zeit, so dass man lernen kann, sich anders zu verhalten.

 

Bernd und Monika: Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Interview:

Monika, Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

  1. Emmelie Öden, Proletarisches Mainz. Der Rudolf Rocker-Stadtführer, Verlag Barrikade (Edition Syfo Nr. 8), Hamburg 2017, 32 Seiten, ISBN 9783921404089, 3 Euro bei: https://black-mosquito.org/proletarisches-mainz-der-rudolf-rocker-stadtfuhrer.html

2) Die Radio Graswurzelrevolution-Bürgerfunksendung mit Emmelie Öden ist dokumentiert unter: https://beta.nrwision.de/radio-graswurzelrevolution-rudolf-rocker-rockt-noch-immer-171214/

 

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 425, 47. Jahrgang, Januar 2018, www.graswurzel.net