Der Westen & Russland – zum Diskurs

Auch die Russen wollen keinen Krieg.

Dirk Kurbjuweit
Der Spiegel, 30/2018

 

Man sagt ja: zwei Ärzte, drei Meinungen. Es soll aber auch schon vorgekommen sein, dass die Weißkittel hinsichtlich Anamnese und Diagnose einer komplexen Symptomatik meilenweit auseinander lagen und dann doch zu vergleichbaren therapeutischen Ansätzen gelangt sind.
Daran kann man sich erinnert fühlen, wenn man den „Fünf vor 8:00“-Beitrag (die Morgenkolumne der Zeit) von Theo Sommer vom 22. August liest.
Sommer thematisiert die Entfremdung zwischen Moskau und Berlin, die „schon weit vor der Annexion der Krim und dem Krieg zwischen Kiew und den russischen Separatisten im Donbass“ begonnen habe. Seine zutreffende Feststellung unterlegt der Ex-Chefredakteur und Ex-Herausgeber der Zeit dann jedoch mit einem ziemlich flotten Bogen: „Im Bundestag hatte Wladimir Putin noch 2001 verkündet, Russland habe Europa gewählt, doch nur sechs Jahre später klang er auf der Münchner Sicherheitskonferenz ganz anders.“ Zwar habe der Kremlchef sich „bedrängt, sogar eingekreist fühlen“ mögen „vom Vordringen der Nato bis an Russlands Haustür“, doch Putin hätte sich auch selbst abgekehrt „von Europa […], das er mittlerweile für Amerikas Speerspitze in der Alten Welt hielt. Außerdem hatte er sich unter dem Einfluss des politphilosophischen Rechtsauslegers Alexander Dugin vom dekadenten ‚Gayropa‘ […] hingewendet zu den herkömmlichen Werten der Orthodoxie, zum Neo-Panslawismus und zu einem Eurasianismus […]. Die Ukraine-Krise wurde dann vollends zum Wende- und Bruchpunkt […].“
Alles, was in solcher Art Kurzfassung an weiteren maßgeblichen Gründen für das Wiederaufleben der Konfrontation im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland unter den Tisch fällt, muss hier nicht wiederholt werden. Das ist in früheren Blättchen-Ausgaben zur Genüge thematisiert worden – unter anderem in den Nummern 25/2015 sowie 6/2016:
Dessen ungeachtet unterstreicht Sommer drei Essentials, denen schwerlich zu widersprechen ist:

  • Es sei „im dringlichen Interesse Deutschlands, den Absturz in eine lang anhaltende Eiszeit (in den Beziehungen zu Russland – S.) zu verhindern“.
  • „Die amerikanische Russlandpolitik entbehrt jeglicher Rationalität. […] Die Republikaner wollen mit ihrer antirussischen Scharfmacherei vor allem Trump treffen.“
  • „Was Russland angeht, muss Deutschland sich aus dem Schlepptau Washingtons lösen.“

Und Sommer unterbreitet einen höchst bedenkenswerten Katalog von „Illusionen als auch […] Obsessionen“, vor denen wir uns in „unserer Russlandpolitik […] hüten [sollten]“:
Illusion Nummer eins: „Das harte Vorgehen mit immer schärferen Sanktionen könne einen Kurswechsel der russischen Außenpolitik erreichen.“
Illusion Nummer zwei: „Verstärkter Druck von außen werde die Wandlung Russlands in eine liberale Demokratie und soziale Marktwirtschaft befördern.“
Illusion Nummer drei: „Es lasse sich eine tragfähige und friedenssichernde Sicherheitsarchitektur in Europa gegen Russland errichten.“
Obsession Nummer eins: Dass die Bedrohung des Westens der Bedrohung während des Kalten Krieges entspreche. Damals standen fast eine halbe Million Mann der atomar bewaffneten Roten Armee in Ostdeutschland; dazu stehen die in den Zapad-Manövern zusammengezogenen 40.000 oder 60.000 Mann östlich der Nato-Grenzen in keinem Vergleich.“ Die Zahlen der Verteidigungsbudgets im Jahre 2017: „USA: 602,8 Milliarden; NATO-Europa: 239,1 Milliarden […]. Russland: offizieller Etat 47,6 Milliarden Dollar, Gesamtwehrausgaben: 63,9 Milliarden. Angesichts dieser Zahlen können wir uns das große Zittern sparen.“
Obsession Nummer zwei: „Dass Russland die liberale Weltordnung untergrabe. […] Wer tut es nicht? Donald Trump (aber auch sein Botschafter in Berlin) tut es mit seiner unsäglichen Twitterei […]. Dass die russischen Einmischungen wirklich etwas bewirkt haben, ist mehr als zweifelhaft. Es werden ihnen Trumps Wahlsieg, das Brexit-Votum, der Aufstieg der AfD zugeschrieben, aber sie hatten alle ganz andere, hausgemachte Ursachen. Die Anfälligkeit unserer Demokratien für die autoritäre Versuchung ist nicht das Werk der Russen; sie ist das Produkt demokratischer Schwäche.“
Obsession Nummer drei: „Dass Putin entschlossen auf territoriale Expansion aus sei.“ Es „war […] immer eine haltlose Spekulation, dass die Krim-Annexion der Auftakt zu einem revisionistisch-revanchistischen Feldzug gegen die baltischen Staaten und Polen gewesen sei.“
Sommers Fazit: Wir sollten uns „dadurch so wenig von selbstbewusster Diplomatie abhalten lassen wie im Kalten Krieg, als die Sowjets halb Europa, darunter auch halb Deutschland unterdrückt hielten“.
Möge diesen und ähnlichen Überlegungen und Argumenten in späteren Tagen ein anderes Resümee vergönnt sein als vor knapp zehn Jahren den Aktivitäten des US-Spitzendiplomaten Richard Holbrooke, den Krieg in Afghanistan durch multilaterale Verhandlungen zu beende. Holbrooke scheiterte und konstatierte bitter, „dass sogar das beste Argument kein gutes Argument ist, wenn es nun einmal keiner hören will“. (Zu Details siehe im letzten Abschnitt!)
Die Folgen sind bekannt …

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Gleich nach seinem Amtsantritt unter der Berliner Traditionsadresse Werderscher Markt 1 im Frühjahr dieses Jahres hatte der neue Hausherr durch markige Sprüche von sich reden gemacht. Von der Politik Moskaus hätten viele „unserer Partner […] die Nase voll“, so könne „es nicht weitergehen“.
Wer daraufhin gespannt war, was der Jungspund im gediegenen Zwirn wohl zur Lösung des Gordischen Knotens beizutragen habe, der wartete bisher vergebens. Nun allerdings hat Heiko Maas zumindest ein teilweises Machtwort folgen lassen: „Wenn wir die Krim als russisches Territorium anerkennen, wäre das womöglich eine Einladung an andere, völkerrechtswidrig zu handeln.“
Da soll ihm nicht widersprochen werden. Man hat es ja erlebt: Erst bombardierten NATO-Staaten völkerrechtswidrig Serbien, dann separierten sie, ebenso wenig völkerrechtskonform, das Kosovo. (Denn so, wie es Gernot Erler, der frühere Russland-Beauftragte der Bundesregierung gern darstellt, dass nämlich „Moskau mit seinem Vorgehen […] gegen völkerrechtlich verbindliche Regeln und Verträge verstoßen hat, die bis dahin von keiner Seite infrage gestellt wurden“, war es ja gerade nicht.) Und schon missbrauchte der Kreml diese Einladung des Westens für den Coup mit der Krim und sein Verhalten im Konflikt in der Ost-Ukraine!
Das kann man sich nun natürlich gegenseitig bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag um die Ohren schlagen und in Konfrontation verharren, während das Militär wechselseitig das Pulver trocken hält und immer mal wieder mit dem Säbel rasselt – etwa in Kürze in Gestalt des größten NATO-Manövers seit Ende des Kalten Krieges, „Trident Juncture 2018“ mit 40.000 Mann (davon 8000 Bundeswehr) aus 30 Pakt- und Partnerstaaten, in Norwegen, quasi vor der russischen Haustür, oder moskauerseits gar mit 300.000 Mann, wobei zumindest diese nicht im europäischen Teil Russlands, sondern im Fernen Osten üben werden.
Oder man erinnert sich, wie Matthias Platzeck das jüngst erneut tat, „an die Ostpolitik Willy Brandts: Da gab es auch strittige Punkte, die hat man einfach als ungelöst zunächst ausgeklammert. […] So könnte man es mit der Krim auch machen. […] Brandt hat darauf gesetzt, dass die Verhältnisse sich ändern, sodass man die ungelösten Probleme später angehen kann.“

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Der früh verstorbene US-Spitzendiplomat Richard Holbrooke hatte als junger Mann seine Lektion in Indochina gelernt: Derartige Kriege sind militärisch nicht zu gewinnen und nur auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Entsprechend engagiert war Holbrooke Jahre später als US-Sonderbeauftragter für den Balkan in jenem Prozess, der zum Abkommen von Dayton führte, mit dem der dreieinhalbjährige Krieg zwischen Bosnien und Herzegowina beigelegt wurde. Im Jahre 2009 wurde Holbrooke zum US-Sondergesandten für Afghanistan und Pakistan ernannt. Da war der gegenwärtige Afghanistan-Krieg bereits in sein achtes Jahr gegangen, und erneut war Holbrookes Ziel eine einvernehmliche Beendigung, worin ihn seine unmittelbare Vorgesetzte, Außenministerin Hillary Clinton, eher halbherzig unterstützte. Ansonsten stieß Holbrooke auf den konzertierten Widerstand der auf militärischen Sieg fixierten Hardliner des Nationalen Sicherheitsrates, des Pentagons, des Generalstabes und von anderen involvierten Teilen der US-Regierung. Als Holbrooke Ende 2010 überraschend verstarb, war er bereits gescheitert. Und von Anfang an nicht zuletzt auch direkt an Präsident Barack Obama; in Holbrookes Audiotagebuch fand sich später diese Passage: „In den ersten Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates mit dem Präsidenten erwähnte ich ein paarmal Vietnam, und Hillary teilte mir daraufhin mit, dass der Präsident keinerlei Bezugnahme auf Vietnam wünsche.“
Dass die jeweils agierende politische und militärische Führung außen- und sicherheitspolitisch aus Geschichte wenig bis nichts gelernt hat, ist frustrierende Erkenntnis oder Erfahrung vieler, die sich länger mit der Materie befasst haben. Das ist jedoch kein Grund, es nicht immer wieder zu versuchen – wie etwa Herfried Münkler, der in der Juli-Ausgabe von MERKUR. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken einige „politikstrategische Überlegungen“ für eine „neue Sicherheitsarchitektur für Europa“ entwickelt hat.
Mit Blick auf eine der maßgeblichen Ursachen des Scheiterns der 1919 siegerseitig vereinbarten Versailler Nachkriegsordnung – Deutschland und Sowjetrussland waren „von deren Gestaltung und Trägerschaft ausgeschlossen“ – hebt Münkler als konstituierend hervor: „Eine stabile politische Ordnung Europas, die nicht auf eine außereuropäische Macht als Garanten rekurrieren kann, darf keine europäische Großmacht exkludieren, sondern muss alle zu deren langfristiger Zufriedenheit einschließen. Konkret betrifft dieser Imperativ Russland, das zwar keine ausschließlich europäische, aber doch mit dem Gros seiner Bevölkerung und den Zentren seiner Macht eine wesentlich europäische Macht ist.“
Darüber hinaus findet sich bei Münkler auch folgende Bewertung: „Die Erzählung vom ‚Westen‘ als einem ausschließlichen Wertebündnis ist eine nachträgliche Konstruktion, in der konstitutive Bedingungen seines Bestands ausgelassen werden.“ Solches begründet der Historiker Münkler natürlich: „Es ging bei der Nato […] um die Formierung eines Bündnisses, das den Sowjets und ihren Verbündeten den Zugang zu den Weltmeeren versperren sollte, und demgemäß reichte es von der Nordspitze Norwegens bis zum Südzipfel Portugals und dem britisch kontrollierten Gibraltar, und im Mittelmeer waren Italien, Griechenland sowie die Türkei die Eckpfeiler der Nato-Südflanke. Die Türkei sicherte dabei auch noch die Erdölreserven des arabischen Raums gegen sowjetische Zugriffe ab. Aber weder Portugal noch Griechenland noch die Türkei waren […] demokratische Staaten und passten deswegen eigentlich nicht in die Werteordnung des Westens. Aus geopolitischen Gründen waren sie jedoch für das Bündnis unverzichtbar. Wer sie herausgedrängt hätte, hätte dessen Zweck unerreichbar gemacht.“
Wer eine dauerhafte europäische Sicherheitsarchitektur wirklich anstrebt, dem kann auch Putins „gelenkte Demokratie“ nicht ernsthaft der Grund sein, an dem das Vorhaben scheiterte …