Grün ist Trumpf – auf absehbare Zeit

Die Grünen haben auf dem Parteitag in Leipzig ihr Programm und die Kandidat*innen für die Europa-Wahl im kommenden Mai beschlossen. Vor dem Hintergrund einer eindeutigen pro-europäischen Ausrichtung haben die Delegierten eine Kampfansage an den Rechtspopulismus umrissen und sich auf einen konsequenten Klimaschutz sowie ein Bekenntnis zum Asylrecht festgelegt.

Europa stehe für Freiheit, Liberalität, Fortschritt. Parteichef Robert Habeck forderte, die EU wieder handlungsfähiger zu machen. Europa bedeute, die Dinge anzugehen »und sich nicht in nationale Placebos zurückzuziehen«. Wenn die Probleme zu groß würden, um sie in den einzelnen Staaten zu lösen, müssten sie transnational angegangen werden. Europa sei die Chiffre dafür, dass Politik wieder handlungsfähig werde.

»Die Rechtsnationalen wollen Europa zerstören«, sagte die 36-jährige Spitzenkandidatin Ska Keller warnend. Auf den zweiten Listenplatz wählten die Delegierten den EU-Parlamentarier und Mitbegründer des deutschen Ablegers der Attac-Bewegung, Sven Giegold. Der 48-Jährige bezeichnete Europa als Vorreiter beim Klimaschutz, der aber noch weiter ausgebaut werden müsse. Daneben forderte er »überall verbindliche Mindestlöhne«. Ein Europa wirtschaftlicher Freiheiten gebe es schon, nun brauche es ein Europa der sozialen Sicherheiten. Giegold bringt die Herausforderung der Verteidigung Europas auf den Punkt und kassiert ein Spitzenwahlergebnis:

Er verherrlicht nichts, aber er warnt davor, einem weit verbreiteten, aber gefährlichen Reflex zu erliegen und sich der Zerstörung Europas anzuschließen. »Man kann Europa nur verteidigen, wenn man es nicht erst mal schlecht redet.« Deutschland sei nicht Opfer, sondern größter Gewinner der europäischen Einigung. Deshalb werde er gegen alle kämpfen, die das Gegenteil behaupten. Diese eindeutige Verteidigung Europas ist ein Grund für die aktuelle Sympathiewelle für die Partei.

Programmatische Eckpunkte:

- DIGITALSTEUER: Eine europäische Steuer für Digitalkonzerne wie Facebook und Google soll der EU eigene Steuereinnahmen verschaffen.
- EU-STEUERN: Weitere Einnahmen sollen der Europäischen Union Steuern auf CO2-Ausstoß, Einweg-Plastik und den spekulativen Handel mit Finanzprodukten sichern. Zusätzliche Einnahmen aus der CO2-Steuer soll als »Energiegeld« an die Verbraucher ausgezahlt werden.
- PLASTIKMÜLL: Ab 2030 sollen alle Kunststoffprodukte wiederverwendbar, abbaubar oder kosteneffizient recycelbar sein.
- EURO-HAUSHALT: Es soll einen eigenen Haushalt für die Euroländer geben, der »stabilisiert und investiert«. Auch andere Länder sollen mitmachen können, wenn sie sich am Kampf gegen Steuerdumping und an einer gemeinsamen Steuer auf Unternehmenseinkommen beteiligen.
- GRUNDSICHERUNG: Eine Grundsicherungs-Richtlinie soll soziale Mindeststandards festlegen, je nach Situation der Staaten. Für Gesundheitssysteme soll es einen Mindestversorgungs-Standard geben.
- MINDESTLÖHNE: Eine Mindestlohn-Richtlinie soll allen Arbeitnehmern in der EU ein »auskömmliches Einkommen« garantieren.
- MEHRHEITSENTSCHEIDE: Manches muss in der EU noch einstimmig entschieden werden, was oft nicht klappt. Die Grünen wollen überall Mehrheitsentscheidungen, etwa in der Außen- und Steuerpolitik.
- FLUCHTWEGE: Flüchtlinge sollen legal in die EU kommen können. An den Außengrenzen sollen diese registriert, kontrolliert und erstversorgt werden, dann sollen sie schnell und fair verteilt werden.
- AUTOS: Ab 2030 sollen nur noch abgasfreie Autos neu zugelassen werden – also keine Diesel und Benziner mehr.
- MASSENTIERHALTUNG: Agrarsubventionen sollen Betriebe nur bekommen, wenn sie nicht mehr Tiere halten, als sie mit dem Ertrag ihrer eigenen Fläche grundsätzlich ernähren können.
- VERTEIDIGUNG: Die nationalen Streitkräfte sollen zusammenarbeiten, Ziel ist eine Sicherheitsunion. Das Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts fürs Militär auszugeben, lehnen die Grünen ab.


In der »Berliner Republik« werden die Grünen bereits als neue Volkspartei gefeiert. Nur ein Jahr nach der Bundestagswahl hat es die ehemalige Protestpartei geschafft, in Bayern und Hessen zur zweitstärksten Partei aufzusteigen. Manche Umfragen sehen die Grünen bereits bundesweit an zweiter Stelle. Mit rund 20% Zustimmung haben die Grünen selbst die einstige Volkspartei SPD hinter sich gelassen. Bei den Frauen sind sie laut einer Erhebung mit 28% sogar stärkste Partei, vor der CDU.

Man kann auf Basis der aktuellen Umfragen eine Rechnung anstellen, die den Höhenflug der Grünen verdeutlicht. Seit der Bundestagswahl im September 2017 ist die Zustimmung der Union um rund sechs Prozentpunkte zurückgegangen. Kamen CDU und CSU damals noch auf 32,9%, erreichen sie in der neuesten Sonntagsfrage von Forsa 27%. Das entspricht einem Minus von rund 2,8 Mio. Wähler*innen. 36% dieser Abwanderer würden sich momentan für die Grünen entscheiden, das entspricht rund einer Million. Nur 220.000 wanderten zur AfD ab.

Nimmt man diese Tendenz ernst, dann rücken weitere Koalitionsoptionen in den Bereich des Möglichen: Union und Grüne können zusammen 50% erreichen und hätten eine regierungsfähige Mehrheit. Die derzeit regierende Koalition aus Unionsparteien und SPD käme nur noch auf 41% und wäre damit ebenso wenig regierungsfähig wie Rot-Rot-Grün mit 46%. Die Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP würde 59% erreichen.

Auch in den europäischen Nachbarstaaten sind die Grünen im Aufwind: Mit Bezug auf die Wahlerfolge in Deutschland, Belgien und Luxemburg stellte der Europa-Politiker Bütikofer fest, es gebe kaum Unterschiede zwischen den drei nationalen grünen Parteien. »Was ich spannend finde, ist, dass die Grünen an diesen drei Orten eine Erzählung geliefert haben, die der vorherrschenden Vorstellung entgegengesetzt ist, nach der traditionelle, etablierte Parteien gerade zugrunde gehen. Tatsache ist viel mehr, dass die politische Mitte neu gestaltet wird, mit einer Verschiebung hin zu den Grünen.«

Ein weiterer Grund für den Höhenflug ist das desolate Bild der großen Koalition in Berlin, aber auch die Konzeptions- und Ratlosigkeit der bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien. Außerdem trägt die Überwindung der lange Zeit prägenden Richtungsauseinandersetzungen in den grünen Parteien zum aktuellen Aufstieg bei. Das Führungsduo Robert Habeck und Annalena Baerbock versteht sich darauf, die Flügelkämpfe als überflüssig und die Radikalität vieler Forderungen als verträglich für das bürgerliche Lager darzustellen.

Nach dem angekündigten Rücktritt von Angela Merkel forderten viele Politiker*innen, Journalist*innen und Politikwissenschaftler*innen, dass in der deutschen Politik wieder mehr gestritten werden solle. Laut den Forsa-Ergebnissen sieht die große Mehrheit der Deutschen das anders: Nur 18% der Bundesbürger*innen würden begrüßen, wenn es »mehr Streit und Auseinandersetzungen zwischen den politischen Parteien« gäbe. 79% sind dagegen. Die Ablehnung einer auf Konfrontation angelegten Politik findet bei den Anhänger*innen aller Parteien eine große Mehrheit. Eine etwas größere Streitlust gibt es nur bei Anhänger*innen der Linken mit 30% und der AfD mit 32%.

Wie die Wahlanalysen übereinstimmend ergeben haben, sind die Angst vor dem Klimawandel und die breite Akzeptanz für eine nachhaltige Umweltpolitik auch ein Grund für den Erfolg der Öko-Parteien. In Deutschland etwa rangiert die Angst vor dem Klimawandel seit etwas mehr als einem Jahr ganz oben. Im August 2017 ergab eine repräsentative Umfrage, dass sich 71% der Bevölkerung vor den Folgen der globalen Klimaveränderung fürchten. Eine große Rolle spielt aber auch die politische Kräfteverschiebung in vielen Ländern. Europaweit profitieren die Grünen vom Niedergang der Sozialdemokratie und vom Vertrauensverlust, den die etablierten Regierungsparteien derzeit erleiden. Laut ARD-Wähleranalyse machten die Grünen der SPD in Bayern 200.000 Wähler*innen abspenstig. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums verlor die CSU 170.000 Sympathisant*innen an die grüne Konkurrenz.

Zum Zeitgeist und einer kompetenten Führung kommt auch eine überlegte taktische Ausrichtung: Die Grünen riskieren derzeit nichts, was ihren Höhenflug gefährden könnte. Avancen an andere Parteien könnten die eigenen Leute und die Europawähler*innen übel nehmen. Die Volksparteien hätten große Verdienste, lobt Habeck bei seiner Abschlussrede auf dem Parteitag in Richtung Union und SPD. »Aber jetzt haben sie eine zu geringe Bindekraft.« Die derzeitige Wählerwanderung sieht er als Chance. »Menschen ändern ihre Meinung«, ruft er auf der Leipziger Bühne. Langjährige Sozialdemokraten, die jetzt bei den Grünen eintreten? »Das ist doch kein Problem! Das ist ein Ansporn für jeden Demokraten.« Der Rest geht im Jubel unter. Wie das bei den Grünen-Gründern ankommt, die Habecks Partei seit Jahrzehnten die Treue halten und altersmäßig den Großteil der Mitglieder stellen, interessiert in diesem Moment keinen.

Diese Ausrichtung der Grünen als Verteidigerin demokratischer Werte gegen die antizivilisatorische Rhetorik und Systemkritik von Rechts der AfD prägt die Bewertung vieler Wähler*innen[1] und macht womöglich einen Großteil des aktuellen politischen »Gebrauchswerts« der Partei aus. Daran ändern auch die oberflächlichen Attacken nichts, wonach die Grünen eine Partei der kosmopolitischen Elite, der Globalisierungsgewinner, des neuen Bürgertums seien, deren Wahl man sich erstmal leisten können müsse. Aber immerhin 40% sehen in den Grünen eine Partei »für Leute, denen es gut geht«.

Der Erfolg gründet zum einen auf der Aufmerksamkeit großer Wählerschichten für die zentralen Zukunftsfragen wie einer konsequenten Umwelt- und Klimapolitik, der ökologischen Modernisierung usw. Die politische Hilflosigkeit der Regierungsparteien ist im »Feinstaub-Desaster« (Dieselfahrverbote) überdeutlich zutage getreten. Zum andern löst die politische Praxis, die gesellschaftlich-ökologischen Konflikte mit einem problemorientierten und auf Ausgleich bedachten Politikstil anzugehen, eine große Sympathiewelle aus. Für viele Menschen ist eine Politik, die das Überleben auf unserem Planeten sichert, von zunehmender Bedeutung. Wenn dieses Anliegen nicht von anderen Parteien aufgegriffen wird, haben die Grünen gute Chancen, sich in der jetzt erreichten Größenordnung zu behaupten. Auf Landes- wie auf Bundesebene scheint den Grünen derzeit zu gelingen, was Robert Habeck als strategisches Ziel beschrieb: die »Reanimierung der demokratischen Mitte« (Interview im Tagesspiegel vom 26.8.2018).

Doch alle Komplimente und Hochgefühle werden durch den Alltag der Bundes- und Landespolitik getrübt: In Ostdeutschland stehen 2019 drei Landtagswahlen an. In Sachsen, Brandenburg und Thüringen ist das für die Grünen alles andere als ein Heimspiel, im Gegensatz zu den Grünen-Erfolgsländern Hessen, Bayern oder Baden-Württemberg. Gut möglich, dass nach der Europawahl wieder langer Atem notwendig ist.


[1] Vgl. dazu H. Kahrs, Die Wahl zum 20. Hessischen Landtag am 28. Oktober 2018. Wahlnachtbericht und erster Kommentar, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/wahlanalysen/2018-10-29_Ka_LTW18_HE_WNB.pdf