Vorwärts nach Gestern

Militärs, so heißt es, bereiteten nie den kommenden, sondern stets den letzten Krieg vor.
Dieses Aperçu basiert auf der historischen Erfahrung, dass militärische Vorkehrungen für künftige Kriege vor allem auf Lehren aus zurückliegenden beruhen, wobei nicht selten neue gefechts- und kriegsrelevante Entwicklungen übersehen oder unterschätzt werden. Das hatte nach Ausbruch des nächsten Krieges häufig katastrophale Konsequenzen. Zu denken ist dabei etwa an den exorbitanten Blutzoll auf allen Seiten durch den massenhaften Einsatz des Maschinengewehrs im Ersten und die raschen Niederlagen Polens und Frankreichs infolge der Gefechtsführung des deutschen Heeres mit massiven durchmechanisierten Angriffsverbänden sowie deren Zusammenwirken mit den Luftstreitkräften (Kampf mit verbundenen Waffen) im Zweiten Weltkrieg.
Doch gestriges militärisches Denken ist keineswegs ein Privileg der Vergangenheit.
So wird bereits seit einiger Zeit die bestehende Struktur des deutschen Heeres komplett umgebaut: Bis 2031 werden drei voll ausgestattete Divisionen, zwei schwere, eine leichte, mit je acht bis zehn Brigaden aufgebaut. Jede Brigade (etwa 3000 Mann) soll aus Panzer- und Panzergrenadierbataillonen, einem Pionier-, einem Aufklärungs-, einem Artillerie- und einem Versorgungsbataillon bestehen. Von dafür erforderlichen 27 zusätzlichen Bataillonen war im Blog „Augen geradeaus!“ die Rede. Bis 2026 soll eine erste Division mit 20.000 Mann und drei gepanzerten Brigaden kampfbereit sein. Für die neue Struktur soll die Anzahl der Transportpanzer Boxer des Heeres von derzeit über 300 bereits zugeführten oder genehmigten auf insgesamt etwa 1000 erhöht werden. Mindestens. Höhere Stückzahlen des neuen Schützenpanzers Puma sind im Gespräch. Der Bedarf an Artillerie wüchse ebenfalls erheblich. Der Experte Otfried Nassauer vermerkte, dass die Bundeswehr für diese Planungen „mit einem zusätzlichen Finanzbedarf von fünf Milliarden Euro jährlich“ kalkulierte.
Johannes Leithäuser und Marco Seliger fassten in der FAZzusammen: „Damit würden die Divisionen wieder die klassische Struktur aus der Zeit vor 1990 einnehmen.“
Wir erinnern uns: Das war die Zeit, als sich beiderseits der deutsch-deutschen Grenze schwere konventionelle Massenheere mit der Befähigung zu raumgreifender Land- und Luftkriegsführung gegenüberstanden, die aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges heraus entwickelt worden waren, und als die NATO-Strategie der Flexible Response vorsah, ein Vordringen der überlegen gewähnten Verbände der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschlandgegebenenfalls durch frühzeitigen massiven Einsatz taktischer Kernwaffen zu stoppen.
Die jetzige Umstrukturierung des deutschen Heeres begründete dessen Inspekteur, Generalleutnant Jörg Vollmer, am 6. November auf einem von der Deutschen Atlantischen Gesellschaft (DAG) veranstalteten Panel in Berlin mit der „russischen Bedrohung“: Angesichts der Aggressionen Moskaus in Georgien und der Ukraine sowie der Annexion der Krim müsse die Bundeswehr auf „drei einsatzbereite Divisionen“ ausgebaut werden, um über eine „glaubhafte Abschreckung“ gegenüber Russland zu verfügen.
Vollmer musste nicht befürchten, ausgerechnet bei der DAG kritisch hinterfragt zu werden. Inzwischen genügt es hierzulande ja, die Begriffe Russlandund Bedrohungnur in einem Atemzug zu nennen, um selbst beim sicherheitspolitischen Fachpublikum andächtige Konsens- und Aufnahmebereitschaft für jegliche militärischen Gegenmaßnahmen zu induzieren. Schließlich ist das Menetekel, dass die baltischen Staaten und Polen zu den nächsten Opfern Putinscher Übersprungshandlungen werden könnten, längst allgegenwärtig.
Aber gerade weil die Russen wahrscheinlich schon jetzt in der Lage wären, das Baltikum im Handstreich zu nehmen und durch Abriegelung des Suwalki Gaps vom polnischen NATO-Hinterland abzukoppeln, gäbe es einiges kritisch zu hinterfragen.
Das beginnt damit, dass jemand, der für eine aktuelle, als gravierend beschworene militärische Bedrohung eine Antwort unterbreitet, für die er erst in zwölf Jahren in der als notwendig dargestellten Weise gerüstet sein würde, sich schon fragen lassen muss, wie ernst er seine Bedrohungsperzeption eigentlich nimmt. Oder woraus ihm die Hoffnung zuwächst, dass der aggressive Russe warten wird, bis die Bundeswehr endlich fertig ist. Ob die angesichts ihres desaströsen Beschaffungswesens und ihrer bereits jetzt kaum lösbaren Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung dazu überhaupt in der Lage wäre, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Im Übrigen würden zwölf Jahre nicht nur ausreichen, nacheinander sowohl den Ersten wie den Zweiten Weltkrieg vom Zaun zu brechen, zu führen und wieder zu beenden, sondern sie stellen zugleich einen Zeitraum dar, über den selbst die kühnsten russophoben Auguren des Westens keine Prognosen abzugeben wagen, die ernst genommen werden wollen.
Doch nehmen wir einfach einmal an, alles geht glatt, und 2031 stehen die drei Bundeswehrdivisionen bereit. Auf deutschem Boden, wohl gemerkt. Warum in drei Teufels Namen sollte Moskau sich davon in irgendeiner Weise abgeschreckt fühlen? Kapazitäten, solche Großverbände rasch nach Osten zu verlegen, bestehen derzeit nicht, und daran wird sich nach gegenwärtigem Stande bis 2031 auch nichts Grundsätzliches ändern.
Dabei ist das Fehlen praktisch jeglicher Lufttransportkapazitäten für die Verlagerung von Schützenpanzern – von Kampfpanzern gar nicht zu reden – noch das geringste Problem, denn die müssten sich in jedem Fall außerhalb der Reichweite der modernsten russischen Luftabwehrsysteme vom Typ S-400 halten. Die sind bereits heute zu Abschusstreffern bis zu einer Entfernung von 400 Kilometern in der Lage …
Seetransport über die Ostsee scheidet praktisch ebenfalls aus, es sei dann, man wollte in diesem engen Gewässer Ziele zum Scheibenschießen offerieren.
Bliebe – Eisenbahntransport. Dafür sind nur äußerst geringe Waggonkapazitäten vorhanden, und Brücken mit ausreichender Tragkraft für militärische Schwerlasttransporte gibt es bis in den polnischen Osten und ins Baltikum noch viel weniger.
Vor diesem Hintergrund wären die drei Bundeswehrdivisionen wohl noch am besten dazu geeignet, sich einfach an der Oder-Neiße-Grenze einzugraben und den Russen dort zu erwarten. Allerdings ist diese Grenze rund 460 Kilometer lang, und in der zeitgenössischen Militärwissenschaft veranschlagte man noch bis in die 1990er Jahre hinein die Frontbreite für eine Division auf maximal acht bis zwölf Kilometer … Wobei mit voll funktionsfähigen Großverbänden kalkuliert wurde und nicht mit Streitkräften wie der Bundeswehr, deren Großwaffensysteme seit längerem nur noch teilweise einsatzbereit sind – siehe meinen Beitrag „Operettenarmee“.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wer von drei Bundeswehrdivisionen in waffentechnisch lediglich etwas aufgehübschter Weltkriegs-II-Struktur eine Verbesserung der Sicherheitslage des Baltikums und Polens gegenüber Russland behauptet oder gar ernsthaft erwartet, der ist im besten Fall ein armer Tor, dem kaum zu helfen sein wird, und im schlimmeren jemand, den ganz andere Interessen und Ziele leiten. Womit keinesfalls selbstmörderische Absichten einer Angriffskriegführung gegen Russland unterstellt werden sollen.
Auch wenn die derzeitige polnische Regierung gern zwei Milliarden US-Dollar (jährlich?) für eine ständige US-Militärpräsenz im Lande ausgeben würde, wem an realer Verbesserung der Sicherheit an der NATO-Ostflanke gelegen ist, der muss sich der Erkenntnis öffnen, dass der Versuch, das Problem militärisch zu lösen, darauf hinausläuft, sich wieder einmal erfolglos an der Quadratur des Kreises zu versuchen. Denn das Problem wird entweder politischgelöst oder gar nicht.
Es kann natürlich jederzeit auch in einem alles vernichtenden militärischen Konflikt samt den Kontrahenten endgültig eliminiert werden.
Soll letztere Möglichkeit nachhaltig vermieden werden, wird an einem Neuansatz zur (beim nächsten Mal hoffentlich dauerhaften) Entfeindung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland kein Weg vorbeiführen. Was dieses Thema anbetrifft, so wird Das Blättchenja nicht müde, dazu immer wieder Anregungen zu präsentieren. Vor allem in der Beitragsreihe „Der Westen und Russland – zum Diskurs“.

P.S.: Auch wenn der deutsche Heeresinspekteur derzeit keine Anhaltspunkte dafür bietet, dass er bereit sein könnte, einen Entfeindungs-Ansatz auch nur in Erwägung zu ziehen, so ist man – etwa im Kalten Krieg – auch von langgedienten Militärs bisweilen schon überrascht worden, sobald sie erst einmal „a. D.“ waren; Stichwort: „Generale für den Frieden“ …