Oscar-nominiert: "Capernaum" und "Of Fathers and Sons"

in (24.03.2019)

Zwei arabische Filme haben dieses Jahr eine Oscar-Nominierung erhalten: Nadine Labakis Spielfilm Capernaum – Stadt der Hoffnung (Cafarnahum, LB/FR 2018, 120‘), der den Regularien der Academy of Motion Picture Arts and Sciences gemäß vom libanesischen Kulturministerium ins Rennen für den besten nicht-englischsprachigen Film geschickt wurde, und der Dokumentarfilm Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats (an al-Abua wa al-Abna, D/SYR/LB/QA 2017, 99 min) des in Berlin lebenden syrischen Regisseurs Talal Derki. Für nichtfiktionale Filme gelten andere Einreichbedingungen, eine Regierung war an Derkis Bewerbung um den Oscar nicht involvierti.

Beide Filme sind international gefeiert und mit Preisen überschüttet. Labaki bekam bei der Welturaufführung in Cannes im Mai 2018 minutenlang stehende Ovationen und später den begehrten Preis der Jury. Mehr als zwanzig internationale Auszeichnungen folgten. Derkis Film wurde im November 2017 beim renommierten Dokumentarfilmfestival IDFA in Amsterdam uraufgeführt und hat bis dato mehr als dreißig internationale Trophäen eingeholt. Nur selten schaffen es arabische Filme zu einer Oscar-Nominierung, dieses Jahr gleich zwei. Auch wenn sie den Oscar letztendlich nicht nach Hause holen konnten fragt sich: Was haben sie, was andere nicht haben? Was braucht es für arabische Geschichten, um so beehrt zu werden?

 

La Superstar

Nadine Labaki ist in der arabischen Welt, vor allem im Libanon, ein Star. In Deutschland machte sie sich mit ihrem Spielfilmdebut Caramel (2007) einen Namen. Die Regisseurin, Schauspielerin, Stadtratskandidatin und Mutter war lange in der Musikindustrie tätig und hat mit ihren Videos Stars wie Nancy Ajram geschaffen, sie schmückt Cover von Modemagazinen und ist ein gern gesehener Gast in Talkshows. Am Tag der Premiere von Capernaum im Libanon im September 2018 zum Beispiel ging die neue Talkshow Bayneh W Baynek (Unter uns) auf Sendung. Gast war Labaki. Eine halbe Stunde lang fläzte sie sich gemeinsam mit der Moderatorin auf einem Sofa. Barfuß und mit einem Kissen auf dem Schoß sprach sie über die gesellschaftskritischen Fragen, die sie in letzter Zeit beschäftigenii. Das ist Labaki, wie sie in der arabischen Welt bekannt ist, geliebt oder verlacht wird. Die Reaktionen von Presse und Öffentlichkeit auf Labakis Filme sind nur vor dem Hintergrund ihrer Selbstinszenierung, in der sich Lebens- und Filmrealität vermischen, zu verstehen. Der libanesische Filmkritiker Nadim Jarjoura lobte Capernaum im Mai 2018 als eine Befreiung Labakis von ihrer sterilen Sicht auf die libanesische Gesellschaft und bescheinigte der Regisseurin einen neuen unverstellten Blick auf das Landiii. Im Januar 2019 empörte er sich über die libanesische Begeisterung anlässlich der Oscar-Nominierung, weil der Film den Libanon schön färbe und die Gesellschaft aus ihrer Verantwortung entlasseiv. Die Arabia-Ausgabe des traditionsreichen US-amerikanischen Modemagazins Harper’s Bazaar reißt anlässlich der Oscar-Nominierung auf: „'Capharnaum', a snap shot of poverty in Beirut, continues to make history“v und Aljazeera ist stolz, dass mit Labaki nicht nur die erste arabische Frau eine Oscar-Nominierung erhält, sondern sie 2019 auch die einzige Regisseurin unter den Anwärtern für den besten fremdsprachigen Film istvi. AP nennt Labaki eine Quelle nationalen Stolzesvii. Tatsächlich repräsentieren Filme auf den großen internationalen Festivals ihre Herkunftsländer und Spielfilme haben ohne behördliche Einreichung keinen Zugang zum Oscar. Formal ist das Land für den begehrten Filmpreis nominiert und die Regisseurin oder der Regisseur nimmt die Trophäe stellvertretend für das Filmteam entgegenviii. Das Politische am Kino manifestiert sich weit mehr in den Produktions- und Vertriebsbedingungen als auf der Leinwand. In Ländern mit einer geringen Filminfrastruktur ist eine internationale Anerkennung immer in erster Linie ein Quell des Stolzes. Nicht selten sind die besonders begeistert, die den entsprechenden Film nicht gesehen haben.

 

The poor stay poor, the rich get rich

Die Bitte der New York Times ihren Film in höchstens 50 Wörtern zusammen zu fassen, beantwortete Nadine Labaki so: „Es geht um einen Jungen, der seine Eltern dafür verklagt, dass sie ihn in eine solch chaotische Welt hinein geboren haben. Eigentlich verklagt er nicht nur seine Eltern sondern er verklagt das ganze System, weil seine Eltern auch Opfer dieses Systems sind – eins das auf so vielen Ebenen versagt und letztendlich Menschen ausschließt.“ix

In Deutschland ist der Film im Januar 2019 ins Kino gekommen und wurde mehrheitlich positiv besprochen. Gemeinsam ist den meisten Rezensionen, dass eine Inhaltsbeschreibung fehlt, die präziser ist als Labakis Worte für die New York Times. Die DarstellerInnen in Capernaum sind Laien, Menschen, die in armen Verhältnissen leben, Flüchtlinge, Illegale aus afrikanischen Ländern. Freiwild. Jedes Leben wäre ein Film für sich. Auf jeden Fall eine gute Geschichte. Interessant für die Presse. So funktioniert das Marketing des Films analog zu Labakis Selbstinszenierung und in den Kritiken gehen Fiktion und Realität bunt durcheinander. Zain, der 12 Jährige Hauptdarsteller beispielweise ist ein syrischer Flüchtling, den Labakis Casting-Direktorin auf der Strasse gefunden hat, wie die Regisseurin in vielen Interviews erzählt. Er spielt einen libanesischen Jungen. In den Filmbesprechungen jedoch ist oft zu lesen, Capernaum sei ein Film über Flüchtlinge. Zain heißt auf der Leinwand und im Leben Zain und konnte dank des Films mit seiner Familie nach Europa übersiedeln. Der UNHCR hat im Zuge der Oscar Kampagne eine Vorführung von Capernaum in New York gesponsert und auf seiner Webseite ist zu lesen: „Film ändert Leben eines syrischen Flüchtlingsjungen und seiner Familie. Von Filmregisseurin Nadine Labaki in Beiruts Straßen entdeckt, finden Zain Al Rafeaa und seine Familie einen Neuanfang in Norwegen.”x Der knackige Aufreißer der UN Flüchtlingsorganisation lässt sich gut merken und ist leicht mit einem Kinomärchen zu verwechseln.

Was aber ist auf der Leinwand zu sehen? Die Rahmung von Capernaum ist eine Gerichtsverhandlung. Zain, in Begleitung seiner Anwältin Nadine (gespielt von Nadine Labaki) beantwortet die Fragen des Richters nach seiner Person und seinem Anliegen. Der Richter (ein echter Richter) stellt im Verlauf des Films drei Fragen, die jeweils durch Rückblenden beantwortet werden. Die Verhandlung selbst entwickelt sich nicht, die richterlichen Fragen haben allein die Funktion, die Erzählung zu strukturieren. Es gibt keine Unstimmigkeit in der Aussage des jungen – auch im Libanon noch nicht rechtsfähigen – Klägers; keine politischen, philosophischen oder juristischen Fragen; keine Gewissenskonflikte; keine Gesetze und keinen Richterspruch. Gegen Ende des Films lässt das Drehbuch Zain sagen, wer sich nicht um seine Kinder kümmern könne, solle keine bekommen. Der Kläger als Richter. Die Armen die Verbrecher. Die Möglichkeit einer politischen Lösung der Verhältnisse im Libanon wird im Drehbuch nicht angelegt. Der Film erzählt in den Rückblenden folgende Geschichte: Zain lebt mit seinen Eltern und zahlreichen Geschwistern in einer heruntergekommen Wohnung. Die Miete ist frei, dafür arbeitet Zain, der Erstgeborene, im Tante Emma Laden des Vermieters. Der ist ein junger Mann im heiratsfähigen Alter. Als Zain eines Morgens Blut auf der Schlafstelle seiner jüngeren Schwester Zaher und dann auch auf ihrer Hose sieht, wittert er Gefahr und plant mit Zaher abzuhauen. Er weiss, dass sie mit Beginn ihrer Menstruation verheiratet werden kann, der Vermieter ein Auge auf sie geworfen hat und die Eltern sie loswerden wollen. Während Zain die Flucht vorbereitet, verheiraten die Eltern Zaher im Eilverfahren. Zain kehrt dem Elternhaus den Rücken und geht auf Trebe. Unterschlupf findet er bei der Afrikanerin Rahil, die mit falschen Papieren im Libanon lebt und ihr illegales Kleinkind versteckt halten muss. Bei Rahil findet Zain Zuwendung und Schutz. Von nun an passt er im Versteck auf den kleinen Yonas auf, während Rahil arbeitet. Eines Tages verschwindet Rahil. Als das Überleben für die Kinder unmöglich wird, verkauft Zain Yonas an einen Schmuggler, der bereits die Papiere für Rahil gefälscht und schon lange ein Auge auf deren Söhnchen geworfen hat. Von dem Geld will Zain sich nach Europa schmuggeln lassen. Dafür braucht er Papiere von zu Hause. Als er dort ankommt erfährt er, dass Zaher durch den Vollzug der Ehe an inneren Blutungen verstorben ist, nimmt ein Messer und rennt los, um seine Schwester zu rächen. Er wird gefasst und kommt zunächst im Abschiebeknast in Gewahrsam. Dort sitzt, wie in der Eröffnungsszene des Films bereits angedeutet, Rahil ein, die Zain im Vorbeigehen flüchtig erkennt und nach ihrem Sohn schreit. Zain wird ins Jugendgefängnis verlegt. Von dort ruft er einer bei TV-Talkshow an, in der man seine Geschichte erzählen kann. Das sieht die Anwältin Nadine, kommt in den Knast und bietet dem Jungen Hilfe an. Rahil und die zahlreichen anderen Abschiebehäftlinge werden im Gefängnis von einer libanesischen christlichen Hilfsorganisation besucht und durch die Gitter der käfigartigen Zellen (in einem echten Abschiebeknast gedreht) besungen. Yonas wird, zusammen mit vielen anderen Personen, bei einer nächtlichen Razzia von staatlichen Sicherheitskräften aus einem Verlies der Schmuggler befreit und von einer Frau aus der Hilfsorganisation zu seiner, jetzt am Flughafen der Abschiebung entgegen sehenden, Mutter gebracht. Das letzte Bild zeigt wie Zain für ein Passfoto posiert. Er solle lächeln sagt der Fotograf aus dem Off und zum ersten Mal lächelt das Kind. Im Abspann danken Nadine Labaki und ihre Ehemann Khaled Mouzanar, Koproduzent und Komponist des Films, persönlich einer bemerkenswert großen Zahl an Generälen und Offizieren. Die ProduzentInnen legen dann noch einmal Dankesworte nach. Soviel Erkenntlichkeit an die Staatssicherheit ist im Kino unüblich und auch in Ländern mit starker Zensur, wie dem Libanon, nicht erforderlich.

Liest man sich durch die Texte über Capernaum und guckt sich durch die vielen Videos von Filmgesprächen während der Oscar-Kampagne, wird deutlich, dass der Erfolg des Filmes ohne die Vermarktung der DarstellerInnen und Labakis selbst nicht möglich wäre. In Cannes war Zain Al Rafeaa nicht weniger fotogen als Nadine Labaki zugegen und auch bei der Oscar-Kampagne ist er mit durch US-amerikanische Kinos getingelt. Da das Drehbuch die Themen, die es aufwirft nicht behandelt sondern eher als Stichwortgeber in puncto Ungerechtigkeit dient, lädt Capernaum jedwedes Publikum ein, unbedarft und kenntnislos mitzureden. Das Spektakel erinnert an eine Szene in Isabel Allendes Roman Das Geisterhaus, in der die Enkelin mit der Oma ein Armenviertel besucht, wo Frauen der Oberschicht eine Wohltätigkeitsaktion durchführen. Ob die Armen danach weniger arm seien, fragt das Kind. Die Oma verneint und erklärt, dass sich die Reichen danach aber besser fühlten.

 

Alptraum und Abenteuer

Talal Derkis Dokumentarfilm Of Fathers and Sons funktioniert bei aller Unterschiedlichkeit ähnlich. Auch in Derkis Selbstinszenierung verschwimmen die Grenzen zwischen dem Gegenstand des Films und dem Abenteuer, ihn zu machen. Für Of Fathers and Sons ist der Regisseur zurück nach Syrien gereist, hat sich als mit dem Jihadismus sympathisierender Kriegsreporter ausgegeben und zwei Jahre lang eine jihadistische Familie gefilmt, genauer gesagt Abu Osama und seine Söhne. Derki rahmt seinen Film durch eine knappe persönliche Erzählung aus dem Off: Damit seine Alpträume nicht wiederkehren, solle er sie aufschreiben, habe Vater Derki dem Kind Talal geraten. Er sei an einen fernen Ort geflohen, um Ungerechtigkeit und Tod zu entkommen. Der salafistische Jihadismus erlebe sein Goldenes Zeitalter in der Heimat, die er zurück gelassen habe. Im Bild waren bis hierher auf einer Sandfläche fußballspielende Jungs zu sehen. Einige Häuser und Rohbauten, Baugerät und einen Lastwagen im Hintergrund. (Der hier zu sehende Aufbau und die Infrastruktur der Gotteskrieger werden im Film keine Rolle spielen.) Eine ländliche Umgebung. Dann kommt ein Schnitt auf einen Fahrzeug-Konvoi mit schwarzen Fahnen. Uniformierte regeln den Verkehr. Nach einem weiteren Schnitt sind die Bilder aus einem fahrenden Auto gedreht, im Seitenspiegel ist der Regisseur mit seiner Kamera zu sehen. Seine immense Angst verbergend, so Talal Derki weiter aus dem Off, habe er sich von seiner Familie verabschiedet und sei in das Land der Männer, die Krieg wollten gereist. In die Provinz Idlib im Norden Syriens, in eine Region, die von der zu al-Qaeda gehörenden Nusra-Front kontrolliert wird. Dort wohnen Abu Osama und seine Familie, die in dem Film portraitiert wird. Das Publikum lernt Abu Osama, einige Freunde und die Söhne kennen, als sie den Jüngsten, der noch nicht sprechen kann, den Koran rezitieren lassen und kichern, wenn er die Laute eines Wortes nachahmt. Die Pose für Gast und Kamera sind deutlich. Die Pose wird im Laufe des Films nicht verschwinden und Derki wird sich nicht dazu verhalten, obwohl das dokumentarische Kino so manches künstlerische Werkzeug dafür bereithält. In einem Interview erzählt Derki, dass er Drehgenehmigungen von Abu Osama oder anderen militärischen Führern brauchte und dass die Kinder immer darauf bedacht waren, vor der Kamera stark zu wirkenxi. Im Stil des beobachtenden Dokumentarfilms begleitet er Vater und Söhne. Wobei genau ist schwierig zu sagen. Es gibt Szenen im Haus, eine Fahrt an die Front mit Spielen im zerschossenen Panzer, Kinderspiele vorm Haus, einen Einblick in die Schule, in die Abu Osamas Sohn Ayman geht, es wird ein Schaf geschlachtet, zu Beginn des Films ein Vogel gerupft, Derki begleitet Abu Osama zum Minenräumen und in den Schießstand, geht mit den Männern der Nusra-Front in ein Kriegsgefangenlager, in dem die Gegner zur Hinrichtung geführt werden, begleitet Osama (bei Drehbeginn 12 Jahre alt) in das militärische Ausbildungslager, in das er eintritt. Im Laufe des Films verliert Abu Osama einen Fuß und sein Haus wird bombardiert. Am Ende fährt die Kamera wieder eine Straße entlang, irgendwann geht es zu Fuß weiter. Diese letzte Reise beginnt im Ausbildungslager der Kinder. Sie fahren uniformiert im Konvoi ab, der Wagen in dem Derki sitzt löst sich aus dem Zug, fährt alleine weiter. Nieselwetter. Derki spricht aus dem Off. Der Krieg werde noch lange dauern habe er die Jihadisten immer wieder sagen gehört. Es werde Zeit brauchen, bis die Ideologie Alle in den Kriegsgebieten erreicht habe. Viele Jahre seien vergangen, seit er gekommen ist und ihre Wege hätten sich getrennt (sic!). Ayman sei ein Teenager geworden, gehe zur Schule und kümmere sich um seine jüngeren Geschwister. Osama sei den Pfad des Todes gegangen, kein Weg werde sie wieder zusammen führen. Er selbst schlage diese Seite seines Lebens um und beende diesen Alptraum. Mit Erinnerungen an eine Heimat, die sich schrecklich verändert habe kehre zu seiner Familie in Berlin zurück. Eine Heimat, die in Nichts der gleicht, die er einmal kannte.

 

Dass sich Derki grundsätzlich von den Jihadisten distanziert wird klar, aber was hat er bei Ihnen gewollt? In Interviews erzählt er, dass der Film aus seiner vorherigen Arbeit, Return to Homs (2014), hervorgegangen ist. Am Ende des Films habe er im Distrikt Homs auf dem Lande gedreht, wo er das erste Mal unter Männern des IS und der Nusra-Front gewesen sei. Nach der Endfertigung dachte er, sein Film sei noch nicht fertig, hier müsse er weitermachen. Darüber hinaus habe einer seiner Protagonisten, ein säkularer Mann mit dem er auf Demonstrationen für Freiheit und Demokratie war, sich dem Jihadismus zugewandt. Für Derki das Gegenteil der Werte, für die sie auf die Straße gingen. Da er gute Kontakte habe, die Jihadisten über ihr Goldenes Zeitalter und das Kalifat sprächen und das Ausland wenig über die arabische Welt wisse, habe er entschieden, er müsse aus der Innenperspektive filmen. Er sagt auch, dass er diese Leute nicht aus Syrien gekannt habexii. Als hätte es sie nicht gegeben. Das größte Problem des Films ist, dass er schlecht recherchiert ist. Es macht den Anschein, dass der Regisseur und sein Team zwar gut auf das Abenteuer, auf Derkis Sicherheit, aber nicht auf den Inhalt vorbereitet waren. Die Muslimbrüder haben sich in Syrien Ende der 1960 Jahre bewaffnet. Als sie zu stark wurden, ließ Hafez Al Assad 1982 die Stadt Hama, eine Hochburg, aus der Luft angreifen und ein ganzes Stadtviertel zerstören. Die Toten überschreiten die Tausend, je nach politischem Bedarf wird die Zahl nach oben katapultiert. Bis heute gibt es keine zuverlässigen Informationen über die Ereignisse. Muslimbrüder, Salafisten und Jihadisten haben bis zur vom Westen so vehement geforderten Amnestie Anfang 2011 die größte Zahl der politischen Gefangengen ausgemacht. Das war kein Geheimnis. Hama 82 war die Mobilisierungs- und Solidarisierungsparole der Opposition in den ersten Jahren der Aufstände. Viele säkulare oppositionelle KünstlerInnen haben das Massaker in ihrer politisierten Arbeit über die Revolution, wie es zunächst noch hieß, ikonisiert. Das Buch Syria Speaks. Art and Culture from the Foredfrontxiii hat Hama ’82 als erstes Kapitel gewählt. Die Demonstrationen begannen nach dem Freitagsgebet aus den Moscheen heraus – weil dort viele Leute und Versammlungen erlaubt waren. Vor diesem Hintergrund verwundert Derkis Erstaunen über die zunehmende Macht der Religion in den Aufständen. Und das Phänomen, dass Linke sich dem politischen Islam zuwenden ist seit der Niederlage im Juni-Krieg 1967 schmerzlich bekannt.

 

Salafistischer Jihadimus von Innen?

Wenn Derki den salafistischen Jihadismus von Innen filmen wollte und, wie er immer wieder betont, ihre Sicht zeigenxiv, was ist dann seine Position? Wie weit macht er sich mit ihnen gemein? Und wer führt wirklich Regie, wenn die Nusra-Front die Drehgenehmigungen gibt, die Protagonisten vor der Kamera posieren und der Regisseur Undercover ist? Während die Presse auf den Exotismus der Familie Abu Osmas und auf die Gefahr, in der sich Derki befand fokussiert, gibt es mehrere Szenen und Film-Schnittentscheidungen in Of Fathers and Sons, die dringend einer Diskussion bedürften. Einmal, z.B., bauen die Söhne von Abu Osama eine Bombe aus einer alten Plastikflasche, roter Erde, Zitronensäure und Wasser. Ihren Vater sehen sie oft Bomben bauen und mit seinem Minensuchgerät losziehen. Die explosive Plastikflasche nehmen sie mit nach draußen, legen sie an den Rand eines Bausandhaufens, vergraben sie ganz leicht und springen abwechselnd drauf. Der Kleinste, der vom Anfang des Films, ist zwischen zwei und drei Jahren alt, der größte nicht älter als dreizehn. Derki filmt. Die Bombe explodiert kurz nachdem die schwereren Kinder gesprungen sind. Niemand verletzt sich. Welchen Wert hat es, dass das Publikum diese Szene sieht? Hat jemand Derki gezwungen, zu filmen, wie die Jungs, denen es immer wichtig war, vor der Kamera stark zu sein, mit ihrem Leben spielen? Nehmen wir den eher unwahrscheinlichen Fall an, dass ja. Warum ist er dann von seinem nächsten Berlinaufenthalt zurück nach Idlib gefahren? In einer anderen Szene ist Derki mit Männern von der Nusra-Front ein einem Gefangenenlager. Es werden Männer verschiedener gegnerischer Kriegsparteien in einen Hof geführt, in dem sie kurz darauf getötet werden. Abu Osama befragt einen jungen Soldaten des Regimes, warum er zur Armee gegangen sei. „Wegen des Solds.“ „Du tötest Frauen und Kinder wegen Geld?“ Der junge Soldat sagt, er sei desertiert und habe sich den Rebellen angeschlossen, was Abu Osama ihm nicht glaubt. Derki filmt die Gesichter der Gefangenen während der Imam Gott anbetet, keine Männer mehr zur Armee des Regimes gehen zu lassen und den Jihad zu stärken. Nach dem folgenden Takbir, den wiederholten Allah hu Akbar Rufen, bleibt die Kamera auf dem Gesicht des ersten Soldaten stehen und zoomt heran. Der Mann beginnt zu weinen. Auf eine Interviewfrage danach, dass der Film keine Gewalt zeige antwortet Derki in Bezug auf die eben beschriebene Szene: „Die einzige Gewalt, die Sie gesehen haben ist, das Schaf zu köpfen, was etwas über die Vorstellung des Vaters zur Aufopferung erzählt, weil es entsetzlicher ist, wenn die Gewalt abwesend ist. Es geht mehr um den Moment vor der Gewalt. In einer anderen Szene, wo Sie den jungen Mann weinen sehen, bevor sie ihn im Gefängnis töten, er kann in dieser Situation nichts machen, bevor sein Leben endet und ich denke, diesen Moment zu sehen kann Menschen mehr erreichen, als ein Schuss in seinen Kopf. Ich kann das selbst nicht handeln, aber mit dieser Szene zum Beispiel, habe ich versucht zu bringen, was niemand anderes macht weil die meiste Zeit, in allgemeinen Aufnahmen, hören Sie, was die Jihadis glauben und ich habe versucht, die Not in ihrem Gesicht zu zeigen, wie traurig die Augen sind, sehr tief in die Psychologie der Situation zu gehen, wenn diese Männer in den Händen der Jihadisten gefangen sind und das war für mich die Seele des Films, den ich machen will.“xv Für den Mann, auf dessen Gesicht die Kamera gerichtet war, war Derki einer von den Jihadisten. Hier hat er wortwörtlich den Blickwinkel der Jihadisten eingenommen. Dass er dem Mann nicht helfen konnte, ist offensichtlich, er wäre gleich mit hingerichtet worden. Auch hier drängt sich die Frage auf, wieweit sich der Regisseur mit seinen Protagonisten gemein macht? Warum er das Projekt nicht abgebrochen hat? Und auch, warum diese Fragen in der Fach- und allgemeinen Presse über Of Fathers and Sons nicht gestellt werden?

„Der Film liefert einen einzigartigen Einblick in eine Kindheit, die von der systematischen Heranführung an radikal-islamistisches Gedankengut geprägt ist“, schreibt der SWR, Koproduzent des Films, über Of Fathers and Sonsxvi und das Branchenblatt Variety hält den Film für “ein wirklich augenöffnendes Portrait von ererbter islamistischer Inbrunst“xvii. Andere Medien sehen den Film ebenso. Aber gibt er einen Einblick? In der Inhaltsangabe der Produktionsfirma steht: „Osama (13) und sein Bruder Ayman (12) lieben ihren Vater und gehorchen seinen Worten, aber während Osama zufrieden wirkt, dem Weg des Jihad zu folgen, will Ayman zurück zur Schule.“xviii Zwar schreiben fast alle Publikationen ab, dass es um die beiden Jungen geht, nur Ayman sehen wir kaum. Die unterschiedlichen Wege der Jungen sind kein Beobachtungsgegenstand im Film. Zwei kleine Szenen sind Ayman gewidmet, eine kurze Unterhaltung zwischen dem Regisseur und dem Jungen in dem es um eine Bestrafung Osamas durch den Vater geht. Der Vater wollte den Sohn mit dem Wasserschlauch schlagen und forderte Ayman auf, ihm diesen zu bringen. Ayman sagt, er habe sich geweigert. Es scheint, der Erzählung nach, keine Strafe für Ayman gefolgt zu sein. Ein anderes Mal ist Derki mit bei Ayman in der Schule, im Mathe- und im Arabischunterricht. Die Klasse ist gemischtgeschlechtlich, Mädchen und Jungen sitzen auf verschiedenen Seiten des Raumes, viele Mädchen bedecken ihr Haar nicht. Aus salafistischer Perspektive ist beides völlig inakzeptabel. Ayman macht in Mathe besonders aufmerksam mit. Am Ende des Films erzählt Derki, dass Ayman zurück in der Schule ist und sich um seine jüngeren Geschwister kümmert. Was ist angesichts dessen die Innenansicht der jihadistischen Welt? Wie geschlossen ist sie und wie zwangsläufig werden die Söhne wie die Väter? Wie eindimensional kriegsbesessen ist der Vater aus dessen zerbombten Zimmer unzählige Bücher herausgeholt werden? Muss sich Ayman gegen seinen Vater widersetzen, wenn er zur Schule statt zur Militärausbildung will?

Of Fathers and Sons zeigt Menschen ohne Geschichte, ohne Kontext. Der Film bestätigt das dominante Bild von Jihadisten als absolut anders von einem nicht näher definierten „uns“. So banal ist die Wirklichkeit nicht. Den Medien liefert der Film mit Talal Derki einen Helden, der sich aufgeopfert hat, uns diese eigenartige Welt nahe zu bringen. Letzterer ist ein Topos, den das Kino, und ganz besonders Hollywood, liebt. Auch wenn es mit dem Oscar dann doch nicht geklappt hat.

i 91st Annual Academy Awards of Merit for Achievements during 2018, S. 11f Rule Eleven: Special Rules for the Documentary Awards; https://oscars.org/sites/oscars/files/91aa_rules.pdf

ii Bayneh W Baynek: Nadine Labaki: Truth-seeker, 11.9.2018; https://www.youtube.com/watch?v=MLZ_vEJeKlA (alle Links abgerufen: Februar 2019, alle Übersetzungen: die Autorin)

iii Capherahum der Libanesin Nadine Labaki: ein Schritt der Erneuerung, in: al-Araby al-Jadid, 18.5.2018; https//:www.alaraby.co.uk/entertainment/2018/5/19/كفرناحوم-للبنانية-نادين-لبكي-خطوة-تجديدية

iv Über Oscar und Capernaum und das libanesische Hochgefühl, in: al-Araby al-Jadid, 25.1.2019; https://www.alaraby.co.uk/entertainment/2019/عن-أوسكار-و-كفرناحوم-والتعالي-اللبناني-1

v Midwood, Milli: Lebanese Director Nadine Labaki's Latest Film has been Nominated for Another Award, in: Harper's Bazaar Arabia am 9.1.2019; https://www.harpersbazaararabia.com/people/culture/lebanese-film-nadine-labaki-oscar-nominated

vi Aljazeera: Nadine Labaki's film Capernaum receives Academy Award nod; https://www.aljazeera.com/news/2019/01/nadine-labaki-film-capernaum-receives-academy-award-nod-190123064657650.html am 23.1.2019

vii El Deeb, Sarah: Lebanon’s star filmmaker makes Oscars history with her nom, https://apnews.com/0f049561cf624a8a8e107e38d60b6e1b am 24.1.2019

viii 91st Annual Academy Awards of Merit for Achievements during 2018, S. 16f Rule Thirteen: Special Rules for Foreign Language Film Award

ix Aridi, Sarah: ‘Capernaum’ Is Not Just a Film, but a Rallying Cry, in New York Times am 14.12.2018; https://www.nytimes.com/2018/12/14/movies/capernaum-nadine-labaki.html

x von Martinez Marta auf https://www.unhcr.org/news/latest/2018/11/5be4b0044/film-changes-life-syrian-refugee-boy-family.html am 8.11.2018

xi Talal Derki Talks About Going Undercover in Syria for His Documentary, https://www.youtube.com/watch?v=PGVcFY66heg vom 21.11.2018

xii Z.B. Habechian, Hauvick: Interview mit Talal Derki über den Film „Of Fathers and Sons“ beim Festival Thessaloniki am 25.3.2018; https://www.youtube.com/watch?v=gArxl6zsz5c

xiii Halasa, Malu, Zaher Omareen und Nawara Mahfoud (Hrsg), Saqi London 2014.

xiv Z.B. Saito, Stephen: Interview: Talal Derki on What He Learned from Going Back to Syria to Make “Of Fathers and Sons” am 23.11.2018 auf moveablefest.com/interview-talal-derki-of-fathers-and-sons/

xv Ebd.

xvi SWR Doku erfolglos bei den Oscars; https://www.swr.de/film/oscar-nominierung-fathers-sons-kinder-kalifat-doku/-/id=5791128/did=20999230/nid=5791128/lh7e61/index.html

xvii Lodge, Guy: Film Review: ‘Of Fathers and Sons’, in: Variety am 23.11.2017; https://variety.com/2017/film/reviews/of-fathers-and-sons-review-1202622187/

xviii https://www.offathersandsons.com/