Eine Frage der Haltung

in (28.11.2019)

Es ließe sich einfach angehen: Jede Kunst ist politisch. Und dafür muss sie nicht politische Kunst sein. Politische Kunst ist ein eigen Ding und gerät so fürchterlich schnell in den Geruch der Parteinahme. Was ist schlimm an Parteinahme? Vielleicht nicht allzu viel, aber sie schmeckt uns nicht, wir fassen sie nur mit spitzen Fingern an. Sie riecht nach Ideologie und Vereinnahmung. 
Trotzdem: Jede Kunst ist politisch, selbst dann, wenn sie ausschließlich für einen Markt gemacht und gedacht ist oder als privates Auftragswerk entsteht. Sie ist dazu gedacht, das Atelier zu verlassen und sich in die Welt zu werfen. Nicht unbedingt, die Welt zu verändern, das müssen dann andere machen. Aber Katalysator, das kann sie wohl sein. Wir werden erst durch Zuspitzung radikalisiert. Im Guten wie im Schlechten.
Der Filmemacher Jean Luc Godard hat erklärt, er mache keine politischen Filme, immer aber politisch Film. Er betrachtet es wohl als eine Frage der Haltung. Wie schaue ich auf die Welt, wie übersetze ich Welt, und muss ich mir der Verantwortung bewusst sein (gibt es überhaupt eine?), wenn ich der Welt etwas präsentiere? Es ist immer ein Offenbarungseid. In vielerlei Hinsicht. Aus der Einsamkeit, die fast jedem künstlerischen Schaffensprozess innewohnt, selbst dann, wenn das kreative Tun kollektiv erfolgt, ins Öffentliche und damit Offene zu gehen, heißt ja auch, sich anheimzustellen. Anderen, vielen und vor allem gesellschaftlichen Aktualitäten. Und auch die Entscheidung, ausschließlich für den Markt, für Geld also, Kunst zu schaffen, ist Ausdruck einer Haltung und einer Sicht auf ein ökonomisches System, das die Kommodifizierung aller Dinge und jeden Tuns so perfekt beherrscht und so fürchterlich perfektioniert hat. Die Kunst kann sich dem widersetzen – in Gestalt individueller Entscheidungen – nicht aber als Ganzes.
Nichts, aber auch gar nichts, verpflichtet die Künstlerin oder den Künstler, dies alles von vornherein mitzudenken. Kunst, die auf Zielgruppe geht, ist geeignet, dem Neoliberalismus noch schneller zu verfallen, oder hat sich bereits angedient. Eine steile These, wohl wahr, aber wenn wir über Solidarität reden, wäre darüber zu diskutieren. Solidarität ist nicht Zielgruppe, auch wenn sie Menschen, Gruppen, Bevölkerungen in den Blick nimmt. Sich möglicherweise ganz und gar dem Leid einzelner oder vieler widmet. Oder – und da fängt es an, noch schwieriger zu werden – sich des Leids Einzelner oder vieler bedient, um daraus Kunst zu machen, die dann vielleicht sogar eine Zielgruppe findet und einen Preis aufgeklebt bekommt. Wenn das Subjekt zum Gegenstand der Kunst wird, kann es sich nicht darauf verlassen, dass dies in seinem Sinne geschieht und zu seinen Gunsten ausgeht. In der radikalen Zuspitzung dieser Erkenntnis verlangen Menschen, nicht länger Subjekt künstlerischer Verarbeitung und/oder Verwertung zu sein, es sei denn, sie tun es selbst. 
Kürzlich hat der chinesische Künstler Ai Weiwei erklärt, Deutschland zu verlassen, dem er attestiert, keine offene Gesellschaft zu sein. Dieser Befund ist völlig richtig. Die bemerkenswerte Attitüde des Künstlers liegt darin, dass er ausschließlich von sich redet. Ai Weiwei ist zuerst einmal mit sich solidarisch. Dabei hätte es sehr viele und ausreichend schlechte Gründe gegeben, dieser Gesellschaft zu erzählen, warum sie nicht offen ist, stattdessen zum Beispiel Teil einer großen Allianz, die alles an Einfluss, Macht und Geld in die Waagschale wirft, um Geflüchtete nicht nach Europa, sondern im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Ai Weiwei hat Geflüchtete zum Thema seiner Kunst gemacht. Er hat sich ihrer bedient. Ob er mit ihnen solidarisch ist, darüber wissen wir nichts. Und er muss es uns auch nicht erzählen. Wir können uns sicher selbst eine Meinung über seine hochpreisig geförderten Werke bilden.
Die gesellschaftlichen Befunde sagen, Solidarität hat keine Konjunktur. Klingt zu allgemein? Wohl wahr, denn es gibt Bewegungen und Bewegung. Aber wir können die Frage, ob auch die Kunst sich im Sinne Walter Benjamins politisiert, um zu einer reaktiven und verändernden Macht zu werden, nicht oder nur partiell beantworten. Hin und wieder tut sie das. Das sind oft große Momente. Eine Kontinuität gibt es nicht und auch nicht – so sehr wir es vielleicht bedauern – eine aufsteigende Linie, eine Zunahme solidarischer Haltungen in der Kunst, der Künstlerinnen und Künstler. Dieser Befund allerdings ist mit Vorsicht zu genießen, denn er kann nur auf dem fußen, was uns zugänglich gemacht wird. Und das bestimmen nicht wir in einer sogenannten Mediengesellschaft oder Aufmerksamkeitsökonomie.
Solidarität, auch das wissen wir, funktioniert noch immer horizontal am besten. Sich mit Menschen zu solidarisieren, die in ähnlicher oder gleicher Situation gefangen sind wie man selbst oder aus ihr ausbrechen wollen, ist vergleichsweise einfach. Gewerkschaften bauen genau auf diese zum Glück weit verbreitete Verhaltensweise. Mach meinen Kumpel nicht an! Wir streiken für unsere Arbeitsplätze und gleiche, vor allem höhere Löhne! Die Situation freier Künstlerinnen und Künstler ist so, dass wir uns zusammentun und etwas verändern müssen... Es gibt viele Möglichkeiten, sich mit Menschen, denen es so zu gehen scheint, wie ich mich fühle, zu solidarisieren. Das funktioniert. Aber es funktioniert immer nur temporär. Ist der Anlass erledigt, der Kampf verloren oder gewonnen, ist es vorbei mit der Solidarität.
Vertikal wird es schwieriger. Bewunderung und Neid sind möglich, blicken wir zu jenen auf, denen es besser geht (aber „Krieg den Palästen“ funktioniert gegenwärtig einfach nicht). Verachtung und Erleichterung, ja auch Mitgefühl oder Scham, schauen wir auf jene, die noch schlechter dran sind. Solidarität in die Horizontale gerichtet, ist vielleicht gar keine, stattdessen eine vernünftige Art des Fraternisierens und gemeinschaftlichen Handelns, um berechtigte Interessen durchzusetzen. Und schön, wenn dabei für jene etwas abfällt, die in weitaus prekäreren Verhältnissen leben. 
Der Kunstkritiker Francisco Dalcol schrieb in einem Text für das Goethe-Institut, die Politik in der Kunst manifestiere sich über die „gefährliche Freiheit, die die Kunst in sich birgt. Gefährlich im Sinne der emanzipatorischen Möglichkeit einer Transformation, die die künstlerische Freiheit nutzt, indem sie sich auf eine der Kunst eigene Autonomie beruft, da dies frei von Zweck und Bestimmung ist.“ Frei von Zweck und Bestimmung – wo bleibt da die Solidarität? 
Genau dort ist sie als Möglichkeit enthalten. Die Kunst verfügt seit jeher über größeres emanzipatorisches Potenzial, als die Politik, der die Autonomie, frei von Zweck und Bestimmung zu sein, gar nicht innewohnen kann. Dalcol leitet daraus die Frage ab: „Doch wenn die Ästhetisierung offensichtlich zur Politik und Machtausübung gehört, kann die Kunst dann ihre potenziell emanzipatorische Politisierung überhaupt finden?“ Und läge, weiter gefragt, in dieser emanzipatorischen Politisierung das Potenzial zur Solidarisierung? 
Für die Literatur und für den Film lässt sich das noch recht einfach deklinieren. Obwohl dem Film ein wesentlich sinnstiftendes Subjekt abhanden gekommen ist, wie der Autor Georg Seeßlen für epd-film schrieb: „Der alte Widerspruch von Bürgertum und Proletariat funktioniert nicht mehr, und so unterschiedliche Filmautoren wie Ettore Scola und Harun Farocki haben ihre Trauerarbeit geleistet über das Verschwinden der Arbeiterklasse – nicht in einem Aufstieg zur Mittelschicht, wie ihr versprochen war, sondern im Abstieg in eine Masse der prekarisierten, vereinzelten Verlierer, zu denen längst auch Teile des akademischen Bürgertums gehören. Das politische Kino hat es also nicht mehr so leicht, ein Objekt der cineastischen Solidarisierung oder der scharfen Analyse zu finden.“ Aber es findet anderswo seine Subjekte, wie die Filme von Ken Loach, den Dardenne-Brüdern, Kaurismäki und anderen zeigen. Der Film kann schaffen, dass wir das Kino verlassen und beschließen, ab morgen für »Sea Watch« zu spenden oder auf die nächste Unteilbar-Demonstration zu gehen.
Die Literatur ebenso, auch wenn der ganze Betrieb drumherum – wie in allen Kunstgattungen – in hohem Maße darauf aus ist, zu kommodifizieren. Welcher Film und welches Buch ist nicht zugleich Ware, deren Gebrauchswert sich hinter einem Preis versteckt, der durch ganz andere Parameter bestimmt wird, hinter eingespielten Geldern, Auflagenhöhen, dem Berühmtheitsfaktor? Was treibt uns, treibt die Medien, einen Mann, wie Gerhard Richter, in den Nachrichten als den gegenwärtig höchstdotierten lebenden Maler anzuteasern, als sei dies die genaueste und wichtigste Beschreibung eines Künstlers?
Es ist gut möglich, dass wir der Poetologie und der Poesie der Klasse verlustig gegangen sind. Solidarität braucht Subjekt und am besten gleich Gruppe, noch besser, Klasse, um uns wirklich ein Bedürfnis zu sein. Und ist auch etwas anderes, als sich gegen etwas zu positionieren. Gegen, das geht uns noch gut von den Lippen. Schon aus Überlebenswillen wollen wir nicht, dass jene, deren geistige Vorfahren den Begriff „Entartete Kunst“ erfanden, Raum und Köpfe gewinnen. Auch das Elend findet seinen Weg in künstlerische Werke, um jene, die es betrachten, vielleicht sogar aufzurütteln. Aber die Elenden?  Die Pauperisierten? Die Geflüchteten mit ihrer Wut im Bauch und dem Mut der Verzweiflung? Die Bildungsfernen, wie sie gern genannt werden? Die schlecht riechenden Obdachlosen vor unserer Haustür oder nebenan? Wie sähe denn eine Solidarität frei von Sozialromantik, von der wir in der Vergangenheit genug hatten, aus? Mit denen, die schon längst an einen Punkt gezwungen sind, da ihnen die Kunst nicht mehr Bedürfnis sein kann, weil es ums Überleben und die damit einhergehenden Zumutungen geht. 

Die Umstände, alle Umstände, sprechen dafür, in dem, was man tut, solidarisch zu sein. Also tatsächlich mit den und für die Unterdrückten zu kämpfen. Aber dafür muss es eigene Gründe geben, aus geborgtem Grund entsteht keine gute Kunst. Das ist ja wohl auch das Schönste an der Solidarität. Sie. Lässt. Sich. Nicht. Verordnen.



Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 51, Herbst 2019, „Solidarität (Vorwärts und fast vergessen!)“.

Kathrin Gerlof ist Journalistin und Schriftstellerin, sie lebt in Berlin.