Zwieschlächtig

Wissenschaftsglaube, grüner Liberalismus und Mitmachdemokratie bei Fridays for Future

Die schwedische Schülerin Greta Thunberg setzte mit ihrem "Schulstreik fürs Klima" im Jahr 2018 eine weltweite Protestbewegung in Gang, an der sich mittlerweile Millionen junger Menschen unter dem Label Fridays for Future (FFF) beteiligen. Sie hat ein breites soziales Bewusstsein über die Dramatik der Klimakrise geschaffen. Jenseits der Kritik an der aktuellen Klimapolitik ist FFF inhaltlich zahm und bewegungspolitisch brav. Bürgerliche Wissenschaft, realexistierende Marktwirtschaft und Demokratie hinterfragen die tragenden Akteure nicht. Christian Stache hat den zwieschlächtigen Charakter der jungen Öko-Bewegung analysiert.

Schon über ein Jahr verweigern weltweit SchülerInnen und Studierende, inspiriert von der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg, freitags die Lemmingwanderung in die Schule, um für eine andere Klimapolitik zu demonstrieren. Die FFF-Bewegung hat innerhalb dieser kurzen Zeit ihres Bestehens ungeahnte Dimensionen erreicht. Allein an den vier globalen "Klimastreiks" haben sich mehrere Millionen Menschen beteiligt. In Deutschland gibt es laut eigenen Angaben mittlerweile über 500 FFF-Ortsgruppen.1 Ihre beiden Kernforderungen sind im öffentlichen Diskurs unzweideutig angekommen: die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens aus dem Jahr 2015 und insbesondere die Einhaltung des darin formulierten Ziels, den von Menschen gemachten ("anthropogenen") Treibhauseffekt auf 1,5°C gegenüber vorindustriellem Niveau zu begrenzen.

Bereits dieser Grundkonsens und die Aktionsform der Bewegung lassen allerdings erkennen, dass der politische Erfolg FFFs darauf gründet, in zwei Richtungen anschlussfähig zu sein. Einerseits ist FFF radikal genug, um an die virulenten Hoffnungen, Wünsche und das Bedürfnis der subalternen Klasse nach einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft und ihres Verhältnisses zur Natur anzuknüpfen. "Schulstreik", selbstbewusstes Auftreten gegenüber dem Establishment, Veränderungswille in der Klimapolitik - all das versetzt zwar Schulpflichtverteidiger-, Klimaskeptiker- und PolitikerInnen in hellen Aufruhr, die dem fossilen Kapital zur Seite stehen. Es begeistert aber offenbar auch viele andere Menschen. Andererseits geht FFF in der Sache nicht an die Wurzel des Problems. Mit der Selbstbeschränkung auf "Paris plus 1,5°C" ist die FFF-Programmatik offen für das grünliberale Kleinbürgertum und ähnlich gesinnte Fraktionen der politisch und ökonomisch herrschenden Klasse, welche die Reproduktion der natürlichen Produktionsbedingungen des Kapitals gefährdet sehen und sich von einem anderen, begrünten Modell kapitalistischer Entwicklung etwas versprechen. Diese politische Zwieschlächtigkeit durchzieht Theorie und Praxis von FFF und lässt sich an ihrem Umgang mit den (Natur)Wissenschaften, ihren Positionierungen und ihrem Verhältnis zur offiziellen Politik zeigen.

Naiver Realismus und die Janusköpfigkeit der Wissenschaften

Im September 2019 nahm Greta Thunberg an einer Anhörung vor dem US-Kongress teil. Sie verweigerte allerdings ein Eingangsstatement und überreichte stattdessen den ParlamentarierInnen den jüngsten IPCC-Bericht aus dem Jahr 2018. Dazu sagte sie: "Ich überreiche den Report als meine Aussage, weil ich will, dass Sie nicht auf mich, sondern auf die Wissenschaftler hören. Und ich möchte, dass Sie sich geschlossen hinter die Wissenschaft stellen und reale Maßnahmen ergreifen." Auf Nachfrage fügte Thunberg hinzu: "Hier geht es nicht um politische Meinungen oder Ansichten, auch nicht um meine Auffassungen. Hier geht es um die Wissenschaft."2

Auch die deutsche Sektion von FFF beruft sich mit Nachdruck auf die Erkenntnisse der Klimaforschung. Auf ihrer Homepage heißt es an prominenter Stelle: "Im Namen der Wissenschaft: Über 27.000 Wissenschaftler*innen [von Scientists4Future; C.S.] allein im deutschsprachigen Raum stehen hinter uns und unterstützen unsere Forderungen. Wir fordern von der Politik nicht mehr als die Berücksichtigung wissenschaftlicher Fakten."

Die "wissenschaftlichen Fakten" sind in der Tat eindeutig. Die fünf WissenschaftlerInnen William J. Ripple, Christopher Wolff, Thomas M. Newsome, Phoebe Barnard und William R. Moonaw warnten etwa jüngst öffentlichkeitswirksam mit fundierten Argumenten vor einem "Klimanotstand". Über 11.000 WissenschaftlerInnen aus der ganzen Welt unterzeichneten ihren Artikel "World Scientists’ Warning of a Climate Emergency" vor seiner Publikation in der Fachzeitschrift BioScience. Die AutorInnen weisen vor dem Hintergrund, dass die bisherige Klimapolitik "weitgehend gescheitert ist, das Problem zu lösen", in ihrem Beitrag auf die anhaltenden Entwicklungen hin, welche den Treibhauseffekt weiter befeuern: Die Konzentrationen der drei wichtigsten Treibhausgase in der Atmosphäre habe weiter zugenommen. Die globalen Eisflächen gingen rasant zurück. Die Ozeane heizten sich auf und versauerten. Der Meeresspiegel sei gestiegen und Extremwetterereignisse hätten in jüngerer Vergangenheit zugenommen. Verstärkt würden diese "besonders verstörenden" Entwicklungen u.a. durch die Zunahme der Viehbestände und der Fleischproduktion pro Kopf.3

FFF ist angesichts solcher Erkenntnisse wohl beraten, auf die Wissenschaft im Allgemeinen und die Klimatologie im Besonderen zu rekurrieren. Deren Forschungsresultate untermauern nicht nur ihre Argumente und ihren umfangreichen Aktivismus, sondern auch die Dringlichkeit, mit der die Krise des gesellschaftlichen Naturverhältnisses gelöst werden muss.

Allerdings grenzt die Bezugnahme auf die Ergebnisse der (Natur)Wissenschaften bei FFF mitunter an realistische Naivität und naiven Realismus. Dies gilt weniger für die Darstellung des Zusammenhangs zwischen menschlichen Handlungen, dem aktuellen Treibhauseffekt und seinen Folgen. Diesen in Frage zu stellen, ist das Geschäft der KlimaskeptikerInnen. Aber der Wissenschaftsglaube, das Vertrauen auf ExpertInnen und das Selbstverständnis der FFF-AktivistInnen als politische ÜbersetzerInnen scheinbar neutraler Einsichten in natürliche und soziale Prozesse verstellt auch die Analyse und Kritik der Fortsetzung politischer Ökonomie mit wissenschaftlichen Mitteln.

Dazu zwei Beispiele: In zahlreichen Studien, Beiträgen, Büchern und auch im Aufsatz von Ripple und KollegInnen wird etwa das menschliche Bevölkerungswachstum immer noch als ein, wenn nicht sogar als das zentrale Problem für die Erwärmung der globalen Atmosphäre angeführt. Gleichzeitig verweist nur eine sehr überschaubare Anzahl an AutorInnen auf die kapitalistischen Produktions- und Verteilungsverhältnisse als wesentliche Ursache des Treibhauseffekts. Ähnliches gilt für die Ratschläge zur Eindämmung des Klimawandels durch dieselben (Natur)WissenschaftlerInnen. Dabei handelt es sich in der Regel um (markt)liberale Ideen, wie z.B. die Bepreisung von CO2- und anderen relevanten Treibhausgasemissionen oder die Veränderung von Lebensstilen und Konsumverhalten, und um technokratische Lösungen wie die Umleitung von Investitionen und technologische Innovationen. Vorschläge zur Veränderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse sind z.B. in den IPCC-Empfehlungen für die angeblich "fundamentalen gesellschaftlichen und systemischen Übergänge und Transformationen" nicht vorgesehen.4

Die Wissenschaft und WissenschaftlerInnen erweisen sich auf dem Feld des Klimawandels also derzeit zumindest als janusköpfig: Naturwissenschaftlich können sie den Treibhauseffekt zweifelsfrei beschreiben und erklären. Sozialwissenschaftlich interpretieren sie ihn aber nicht als sozio-ökonomisches Problem des Kapitalismus, als vom Kapital gemachten ("kapitalogenen") Klimawandel. Sie betrachten ihn sogar als Möglichkeit, die kapitalistische Gesellschaft ökologisch zu modernisieren. Mit anderen Worten: Das revolutionäre Potential, das die Naturwissenschaften in der Gesellschaft freigelegt haben und das Thunberg, FFF und andere beginnen zu entfalten, wird gerade auch von den Klima-ExpertInnen sozialwissenschaftlich wieder eingehegt und auf einen Formwandel des Bestehenden verpflichtet. Treue zur Wissenschaft wäre in diesem Punkt nicht ihre Adaption, sondern ihre rücksichtslose Kritik.

Grünliberale Generationen- statt ökosozialistischer Klassenfrage

Die widersprüchliche Haltung gegenüber den (Natur)Wissenschaften korreliert mit der politisch-inhaltlichen Ambivalenz FFFs, wie sie in den sechs, von FFF-Deutschland formulierten Forderungen zum Ausdruck kommt. Die Bewegung fordert offiziell: Nettonullemissionen bis 2035, Kohleausstieg bis 2030, 100 Prozent erneuerbare Energieversorgung bis 2035 und - noch im Jahr 2019 - das Ende der Subventionen für fossile Energieträger, ¼ der Kohlekraft abschalten und eine Steuer für alle Treibhausgasemissionen von 180 Euro/Tonne CO2.

Wie der sogenannte Kohlekompromiss und das Klimapaket der Großen Koalition belegen, gehen die realpolitischen Ideen von FFF deutlich über die aktuelle nationale Beschlusslage hinaus. Das ist auch zwingend erforderlich. Denn die Bundesregierung hat in ihrem jüngsten Klimaschutzbericht unmissverständlich eingestanden, dass sie die gesteckten Ziele für 2020 deutlich verfehlt.5 Die Emissionsminderung gegenüber 1990 beläuft sich auf lediglich 32 Prozent. Geplant waren 40. Ein Forschungskonsortium hat ferner im Projektionsbericht 2019 für das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit dargelegt, dass auch das Reduktionsziel 2030 höchstwahrscheinlich nicht erreicht wird.6 FFF fordert also die GroKo, die noch immer ihre Hand über das fossile Kapital hält, in der Sache von links heraus. Mehr aber auch nicht.

Eine transformatorische oder gar revolutionäre Perspektive jenseits des Privateigentums an der Natur und ihrer privatwirtschaftlichen Ausbeutung - Grundpfeiler der bürgerlichen Produktionsweise und wesentliche Ursachen kapitalistischer Naturzerstörung - sucht man im FFF-Forderungskatalog oder seiner Begründung vergeblich. Von Eingriffen in die ökonomische Produktion privater Unternehmen, in der die meisten relevanten Treibhausgase entstehen, sieht FFF mit Ausnahme des Kohlesektors ab. Auch die Profite, die Unternehmen wie RWE über Dekaden auf Kosten von Menschen, Natur und Tieren gemacht haben, würden bei der Umsetzung der sechs Forderungen keineswegs angetastet. Ganz zu schweigen davon, dass u.a. die Energie- und Nahrungsmittelproduktion weiterhin undemokratisch und profitorientiert organisiert wäre.

Eine CO2-Steuer, wie sie FFF verlangt, führte sogar nicht nur zur Bepreisung - und damit de facto zur Inwertsetzung - eines Teils der Natur. Sie würde auch den sozial-ökonomischen Widerspruch zwischen den Klassen noch verschärfen, weil alle für die Umweltverschmutzung von einigen Wenigen zahlten und die Produktion von CO2-Emissionen weiterhin möglich wäre. Ohnehin sticht hervor, dass die soziale Komponente des ökologischen Klassenkampfs von FFF im Stile klassischer Ein-Punkt-Politik sozialer Bewegungen weitgehend außen vor geblieben ist. Die CO2-Steuer möge bitte "sozialverträglich" gestaltet werden. Aber eine kollektive Vorstellung, was etwa mit den Kohlekumpels des Rheinlands oder der Lausitz geschieht, existiert nicht.

In anderen Worten: In der jetzigen Form sind die FFF-Positionen mit einer ökologischen Modernisierung des Kapitalismus oder der "sozialökologischen Marktwirtschaft" vereinbar, wie Bündnis 90/Die Grünen ihre Zielgesellschaft im "Zwischenbericht" zu ihrem neuen Grundsatzprogramm bezeichnen. In der Tat sind die Forderungen trotz aller offiziellen Überparteilichkeit der Bewegung weitgehend identisch mit Vorschlägen der grünen Partei und den Grünen nahestehenden NGO-Betrieben, in denen FFF-Kader auch Mitglieder und/oder aktiv sind. So nimmt es nicht wunder, dass die AktivistInnen laut einer Studie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung überwiegend (zu 36 Prozent) mit den Grünen sympathisieren.7

Folgerichtig tritt der Klassenwiderspruch in der großen Erzählung des ökologischen Linksliberalismus, wie sie die FFF-ProtagonistInnen verbreiten, und in der dazugehörigen Kultur, wie die überwiegend jungen AktivistInnen sie leben, in den Hintergrund. Die ökosoziale Klassen- wird von einer anthropologischen Generationenfrage überlagert: Statt um ökonomische Ausbeutung von Mensch und Natur durch das Kapital geht es um die Einschränkung individueller Freiheit einer Generation durch "unsere" Lebensweise und die dadurch hervorgerufene ökologische Zerstörung. Der Hauptwiderspruch verläuft - zugespitzt formuliert - für FFF zwischen jung und alt, nicht zwischen oben und unten.

"Wir streiken, bis ihr handelt"?

Unter "den Erwachsenen" richtet sich der jugendliche Zorn besonders gegen PolitikerInnen. Diese kämen ihrer "selbst gewählten Verantwortung nicht" nach, für das im Grundgesetz (Artikel 20a) verankerte Staatsziel einzutreten, Tiere und die natürlichen Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu schützen. Zumindest argumentieren so Luisa Neubauer, FFF-Frontfrau in der Bundesrepublik, und Alexander Repenning, Bildungsmanager der Right Livelihood Foundation (die den "Alternativen Nobelpreis" vergibt) in ihrem jüngst veröffentlichten Buch Vom Ende der Klimakrise. Es liege, so Neubauer und Repenning, "an uns allen, dazu beizutragen", diese "Verantwortungskrise" zu lösen, indem "Verantwortungsübernahme im Sinne von Artikel 20a" erzwungen wird. Eine Möglichkeit, dies zu tun, seien "Proteste und kreative Formen, die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen".8

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen ist es nur konsequent, dass sich FFF in der Bundesrepublik in erster Linie an die institutionalisierte Politik wendet, d.h. in Deutschland an die Kanzlerin, die Bundesregierung, ihre bereichspolitischen Ausgründungen (z.B. die "Kohlekommission") und an die bürgerlichen Parteien mit Ausnahme der AfD. Von diesen verlangen die SchülerInnen und Studierenden die "Verantwortungsübernahme" in Form einer Kursänderung in der Klimapolitik: "Wir streiken, bis ihr handelt" heißt es schlüssig auf Plakaten, Transparenten, in Pressemitteilungen und Interviews.

Entsprechend setzt die FFF-Führung auch ihre Agenda und rahmt die Aktionen. Zum ersten globalen Klimastreik Ende Mai 2019 mobilisierten die AktivistInnen in Deutschland mit dem Slogan "#voteforclimate". Die Landtagswahlen in Thüringen im vergangenen Oktober erklärten sie zu "Klimawahlen". Der große Klimastreik Ende September fiel mit der Verkündung des sogenannten Klimapakets der Großen Koalition zusammen, an die man zuvor bereits die eigenen Erwartungen in einer Pressekonferenz formuliert hatte. Der darauffolgende Klimastreik fand am Freitag vor der UN-Weltklimakonferenz in Madrid statt.

Aus der Perspektive sozialer Bewegungen ist es naheliegend, auf das Versagen des politischen Establishments der Bundesrepublik hinzuweisen, die politisch Verantwortlichen für den Treibhauseffekt und seine Folgen zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Gleichzeitig sind die realen Entscheidungsprozesse im Staat maßgebend für die zukünftige soziale Entwicklung. Ferner antizipiert FFF mit ihrer Adressierung der Politik die Versuche, die Klimakrise und ihre Bewältigung zu individualisieren oder sie gar auf die rebellierende Jugend abzuwälzen.

Gleichwohl überschreiten die moralische Kritik von Politik und PolitikerInnen, die Orientierung auf die bestehenden Institutionen und der appellative Charakter der FFF-Bewegungspolitik nicht ansatzweise die Grenzen der westlich-liberalen Mitmachdemokratie. In dieser ist, wie Thomas Wagner in Die Mitmachfalle darlegt, Partizipation zum Herrschaftsinstrument geronnen.9 Zivilgesellschaftliches, außerparlamentarisches Engagement gehört im Vorfeld richtungsweisender politischer Entscheidungen heute zum Verfahren bürgerlicher Souveränitätsausübung dazu: möglichst mediengerecht, mit kreativem Schnickschnack für schöne Bilder, einer wohltemperierten Erzählung und publikumsspezifischen Identifikationsfiguren. Im Kontext dieses Politikmodus und mit den aktuellen Forderungen agiert FFF daher eher als NGO für EinsteigerInnen, die zu allem Überfluss vor allem in Westdeutschland - gewiss nicht von allen beabsichtigt - auch noch de facto Wahlkampfhilfe für Bündnis 90/Die Grünen leistet.

Darüber hinaus entspringt, um einen der genannten Punkte aufzugreifen, die Klimapolitik der bürgerlichen Parteien, ihrer VertreterInnen und der Bundesregierung nicht deren mutmaßlicher Verantwortungslosigkeit. Sie ist Ausdruck politisch-ökonomischer Interessen und Kräfteverhältnisse, die sich im Klassenkampf (auch zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse) innerhalb des strukturellen Rahmens bürgerlicher Eigentumsverhältnisse und des bürgerlichen Staats herausgebildet haben. Anstatt also von Merkel, Scholz, Habeck usw. "Verantwortungsübernahme" oder institutionelle Reformen einzufordern, bedürfte es einer grundlegenden Kritik der bürgerlichen (Klima)Politik und der Fundamentalopposition gegen sie - gerade weil die Politik des bürgerlichen Parteienblocks und die überwiegende Mehrheit der staatlichen Apparate die Klimakrise über Jahrzehnte nicht nur nicht verhindert, sondern ermöglicht (!) haben. Es besteht kein Handlungsdefizit seitens der etablierten Politik oder des Staats. Schwarz-Gelb, Rot-Grün und die GroKo haben auf Landes- und Bundesebene über Jahrzehnte gehandelt - im Sinne von RWE, VW, Tönnies usw.

Klassenlage - und dann?

Ein möglicher - sicher nicht der einzige - Ansatzpunkt zur Erklärung für die politische Zwieschlächtigkeit FFFs ist die sozialstrukturelle Herkunft der Aktiven. Es ist zwar angesichts des überschaubaren empirischen Materials bei der Bewertung Vorsicht geboten. Allerdings legen die Ergebnisse der bereits erwähnten Studie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) einen eindeutigen Schluss nahe. Denn über 90 Prozent der vom IPB befragten FFF-DemonstrantInnen stuften sich selber als Angehörige der "gehobenen" und "unteren Mittelschicht" ein. Nur knapp über 7 Prozent zählten sich hingegen zur "Arbeiterschicht".10 Immer freitags demonstriert also - klassentheoretisch betrachtet - der Nachwuchs des Kleinbürgertums (ÄrztInnen, JuristInnen, selbständige HandwerkerInnen usw.), der StaatsdienerInnen (verbeamtete LehrerInnen z.B.), qualifizierter produktiver ArbeiterInnen und LeitungsagentInnen ("Angestellte").

Aus der Klassenzusammensetzung allein sollte man jedoch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Was passiert etwa, wenn die herrschende Klasse keinen Modus integrativer Anerkennung für FFF findet? Grün-Rot-Rot auf Bundesebene wäre das einzige realistische Szenario dafür, aber auch keine Garantie. Im Falle des Scheiterns der Integration könnten die Angst vor der Klimakrise und die Enttäuschung über das politische System die jungen Ökobewegten zur Kritik an den Grenzen der eigenen Theorie und Praxis führen - mit den bekannten Optionen: pragmatische Anpassung oder bestimmte Negation.

Anmerkungen

1) Sofern nicht anders gekennzeichnet, finden sich alle folgenden Zitate von FFF-Deutschland online unter: https://fridaysforfuture.de/.

2) New York Times Video, 19.09.2019: "Listen to the Scientists," Greta Thunberg Says to Congress. Online unter: https://www.nytimes.com/video/climate/100000006726110/greta-thunberg-congress.html. (Alle Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche im Text stammen vom Autor.)

3) William J. Ripple et al. 2019: "World Scientists’ Warning of a Climate Emergency", in: BioScience. Band 20, Nr. 10, 1-5.

4) IPCC 2018: Global Warming of 1.5 ºC. Summary for Policymakers, Genf.

5) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2019: Klimaschutzbericht 2018 zum Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 der Bundesregierung, Berlin.

6) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2019 (Hg.): Projektionsbericht 2019 für Deutschland gemäß Verordnung (EU) Nr.525/2013, Berlin.

7) Moritz Sommer et al. 2019: Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland. IPB Working Paper 2/2019, Berlin.

8) Luisa Neubauer und Alexander Repenning 2019: Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft, Stuttgart.

9) Thomas Wagner 2013: Die Mitmachfalle. Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument, Köln.

10) A.a.O.

Dr. Christian Stache lebt in Hamburg, ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker und seine Arbeitsschwerpunkte sind Marxismus, Ökologie und Mensch-Tier-Verhältnisse.