Kleider machen Leute

Themenschwerpunkteditorial iz3w 377 (März/April 2020): Der Lauf der Mode - Ästhetik & Ausbeutung

»Er deutet in Richtung einer Studentengruppe; ich zähle vier Mädchen in weiten Trenchcoats und fünf Jungs mit schweren Armbanduhren.« So lautet ein beliebiger Satz aus Leif Randts Roman »Leuchtspielhaus«. Er verdeutlicht, wie man sich augenblicklich anhand äußerer Codes ein Bild macht. Wir sprechen über Mode.

Mode bezeichnet einen gesellschaftlichen Rahmen des Geschmacks oder der Sitte. Kleidungsstile (oder genauer: -trends) legen fest, wie man sich kleidet, ohne Anstoß zu erregen, sondern lieber Akzeptanz oder Bewunderung hervor ruft. Mode bietet aber auch einen Spielraum, in dem sich Menschen einen individuellen Ausdruck verleihen können. Und Mode ist dynamisch. Sie wird von den Einzelnen, von Kollektiven, aber auch von den Zentren des Modebetriebes ständig weiterentwickelt.

Mode ist ein breites, offenes System und sie hat mannigfaltige gesellschaftliche, ästhetische, kulturelle, macht- und genderpolitische, ökonomische und arbeitsweltliche Implikationen. Wir beschränken uns in diesem Heft auf textile Mode. Zu Beginn nahmen wir uns ein Motto vor, nach der Novelle von Gottfried Keller: Kleider machen Leute. Wie kreiert die Mode das gesellschaftliche und individuelle Sein? Kleider machen Männer. Kleider machen Frauen. Kleider machen Kinder … Kleider zeigen die Klassenzugehörigkeit oder das kulturelle Kapital an. Kleider erzählen Geschichten und Menschen drücken sich mit ihnen aus. Kleider klären die Zugehörigkeit: Zu Kulturen und Gruppen; zu einem ‚Volk‘; zu einem Milieu; zu Oppositionen oder zu Subkulturen.

Gottfried Keller wendete seinen Buchtitel »Kleider machen Leute« einmal in seiner Erzählung: Leute machen Kleider. Im Einleitungsartikel dieses Themenschwerpunktes erzählt Sascha Klemz, welch großen Anteil die Textilindustrie an der globalen wirtschaftlichen Entwicklung hat. Das Los der Arbeiter*innen in der Baumwollproduktion, den Spinnereien, Schneidereien und Textilfabriken lässt sich bis heute am ehesten mit dem Begriff der Ausbeutung charakterisieren. Das ist die Schattenseite der Modebranche: Prekäre Anstellungen, mangelhafter Arbeitsschutz, Niedriglohn.

Der Textilsektor ist keine privilegierte Branche (wie etwa Maschinenbau oder Informatik), sondern deprivilegiert. Deshalb ist der Anteil von Ungelernten oder von Frauen hoch, und deshalb wird zunehmend im Globalen Süden produziert. Aus einer süd-nord-politischen Perspektive sind die Asymmetrien in den globalen Produktionsketten und beim Handel empörend. Die Modebranche ist zwar hochgradig innovativ und lebt geradezu vom permanenten Wandel. Aber zur Charakterisierung der Missstände bleibt die altgediente sozialkritische Literatur aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert hochaktuell.

Einige Beispiele erläutern dies. Die »von Demütigung zu Demütigung schreitenden« schlesischen Weber von Gerhart Hauptmann: Sie leben heute in Indien. Der von Heine den Webern in den Mund gelegte »Fluch dem König, dem König der Reichen,/Den unser Elend nicht konnte erweichen«: Er wird heute etwa in Kambodscha ausgestoßen. Noch immer lässt sich die Branche auch mit den Reimen von B. Traven aus »Die Baumwollpflücker« von 1926 beschreiben: »Es trägt der König meine Gabe,/Der Millionär, der Präsident./ Doch ich, der lump’ge Pflücker, habe/ In meiner Tasche keinen Cent.« Bei seiner Beschreibung der Zustände in Mexiko verschweigt Traven aber nicht die Geschichte der Kämpfe und Emanzipation der Arbeiter*innen. Im Themenschwerpunkt betrachten wir das mit Beispielen aus den Fabriken in Indonesien und Bangladesch.

Kleidung ist zur Ware geworden, und der massenhafte Kleiderkauf substituiert für viele Käufer*innen den Mangel an erfülltem Leben im täglichen Konkurrenzkampf. Dagmar Venohr schreibt in ihrem Artikel sogar, dass die Kategorie Mode per se in der kapitalistischen Stupidität verfangen sei.

Doch unser Blick richtet sich auch auf das schöpferisch-kulturemanzipative Potential von Mode und Kleidung: Kluge postkoloniale Mode in Südafrika, coole Looks in Vietnam, Indonesien oder im Mittleren Osten. Die Modeschöpfung beschränkt sich immer weniger auf die dominierenden Zentren wie Paris, Mailand, London, New York oder Tokio. Neue Horizonte eröffnen sich, wie Daniela Goeller mit Blick auf Johannesburg schreibt: »Für seine preisgekrönte Installation African Studies stellte der Modeschöpfer Thebe Magugu die Kleiderpuppen auf eine lange Papierbahn, die mit dem Text der südafrikanischen Verfassung bedruckt war.«

Themen wie die Dekonstruktion von klassischen Geschlechterrollen, von ‚Volkszugehörigkeiten‘ und Klassenschranken bilden sich in neuen Looks ab. Besonders spannend ist dabei die Bedeutung textiler Codes für Subkulturen. Nicht immer stehen sie aufseiten der Emanzipation – wie die Aneignung subkultureller Kleiderstile durch die identitäre Rechte in Österreich zeigt.

»Was soll ich anziehen?« Mit dieser so umfassenden wie universellen Frage kämpft auch die

die heute sehr aufgechicte redaktion. Zum Look: Sie trägt weite Trenchcoats und schwere Armbanduhren.