Bagdads Tahrir-Platz

Die Situation im Irak ähnelt in vielem dem Arabischen Frühling

Im vergangenen Herbst entstand im Irak eine bis dahin ungekannte Protestbewegung. Sie richtet sich nicht nur gegen die unfähige eigene Regierung, sondern auch gegen die iranische Einflussnahme. Wer sind die Protagonist*innen dieser Bewegung? Was sind ihre politischen Anliegen, und wie sind ihre Erfolgsaussichten einzuschätzen?

Irak hat eine der jüngsten Bevölkerungen im Nahen Osten. Wenn hunderttausende Irakis auf die Straße gehen, handelt es sich also automatisch um eine Jugendrevolte. Und genau das ist die Protestbewegung, die seit Oktober 2019 gegen Korruption und allgemeine Perspektivlosigkeit aufbegehrt. Es geht bei diesen Massendemonstrationen um Vieles, vor allem aber um die Zukunft einer Generation, die größtenteils keine Erinnerungen mehr hat an die Zeiten unter Saddam Hussein und die für sich keinen Platz in den bestehenden Strukturen sieht. Fast jede*r dritte Jugendliche im Irak ist arbeitslos, während gleichzeitig die Zahl der Armen steigt. Die Menschen im Irak sind aber nicht nur jung, sondern auch überdurchschnittlich gut gebildet. Nur fehlt ihnen in der Regel jedwede Chance, später auch einen entsprechenden bezahlten Job zu finden.

Aufgewachsen sind diese Protestierenden in einem destabilisierenden Bürgerkrieg, der das Land nach 2005 spaltete und auch den Aufstieg des Islamischen Staates ermöglichte. Schon ihre Eltern kannten wenig außer Krieg, Sanktionen und eine traumatisierende Dauerkrise. Auch sie mussten erleben, wie sich Parteien und politische Klasse als notorisch unfähig und unwillig erwiesen, auch nur eines der unzähligen drängenden Probleme anzugehen. So mangelt es bis heute im Süden des Landes selbst an Strom- und Wasserversorgung. Gelder versickern in den Kassen einer chronisch korrupten Verwaltung, in der Gruppenzugehörigkeit eine wichtigere Rolle spielt als Kompetenz: Politik organisierte sich im Irak, ähnlich wie im Libanon, streng entlang konfessioneller oder ethnischer Zugehörigkeiten.

Nach 2003 sahen schiitische Parteien ihre Stunde gekommen: Mit Hilfe des Iran gelang es ihnen, die Sunnit*innen zu marginalisieren und sich des Staatsapparates zu bemächtigen. Denn wer diesen kontrolliert, verfügt über auch die Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf, die bis heute knapp 95 Prozent der irakischen Wirtschaftsleistung ausmachen. Dieses Rentiersystem stützt sich auf Klientelismus und einen künstlich aufgeblähten staatlichen Sektor, in dem bis zu drei Viertel der arbeitenden Bevölkerung irgendwie ihr Auskommen finden. Fällt der Ölpreis, wie dies nach 2014 geschah, gerät das gesamte System in eine tiefe Krise. Folgerichtig wächst seit Jahren vor allem im Süden des Landes und in Bagdad der Unmut. Bereits 2018 kam es immer wieder zu Demonstrationen.

Citizenship versus Konfessionalismus

Zwar waren schon die Proteste 2018 dem Namen nach gesamtirakisch. Aber sie beschränkten sich fast ausschließlich auf den Süden des Landes sowie schiitische Stadtviertel in Bagdad. Erst mit der Ausweitung der Bewegung im Herbst 2019 zeigte sich, dass die neue Generation die festgefahrenen konfessionellen und ethnischen Trennungen überwinden will. Wie schon im Arabischen Frühling 2011 spielt dabei ein für die ganze Region neues Verständnis von Citizenship eine zentrale Rolle, ein Momentum, das in Europa übrigens nicht als solches wahrgenommen wurde. Mit Ausnahme von Tunesien gibt es in keinem Land der gesamten MENA-Region eine Idee der Gleichheit der Bewohner*innen als freie und gleiche Staatsbürger*innen vor dem Gesetz, sondern Geschlecht und Konfession bestimmen in zivil- und eherechtlichen Fragen.

Auch im Irak begehren nun immer mehr Bürger*innen gegen den allumfassenden Einfluss von Religion und Klerus auf Politik und Staat auf. Wie überall in der arabischen Welt schwindet die Akzeptanz islamischer Parteien besonders unter Jugendlichen. »Die Trennung von Religion und Staat ist wichtiger als die von Frau und Mann«, brachte ein junger Demonstrant auf dem Tahrir-Platz in Bagdad die Botschaft der Protestbewegung auf den Punkt.

Die Demonstrierenden auf Iraks Straßen wollen nichts weniger als eine Revolution, sie verlangen nicht nur politische Reformen, sondern grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. War Protest bisher weitgehend Männersache, beteiligen sich inzwischen auffällig viele junge Frauen und trotzen den Repressionen, die bislang zu über 400 Toten und zehntausend Verletzten geführt haben. Auf dem Tahrir-Platz in Bagdad herrsche schon jetzt eine Gleichberechtigung, die man für die ganze Gesellschaft wolle, heißt es immer wieder in Gesprächen mit Demonstrantinnen. Dabei gebe es keinen Ausschluss, die meisten Protestschilder auf dem Tahrir-Platz in Bagdad sind zweisprachig in Arabisch und Kurdisch geschrieben. Und immer wieder berichten mitdemonstrierende Yesidi*innen und Christ*innen, wie willkommen sie geheißen werden.

Aufstand gegen iranischen Einfluss

Als im Herbst Milizen, die formal der irakischen Regierung unterstellt sind, de facto aber ihre Befehle aus dem Iran erhalten, auf Demonstrierende schossen, entlud sich die angestaute Wut gegen die eigene Regierung auch gegen die des östlichen Nachbarlandes: In Najaf zündeten Protestierende mehrmals das iranische Konsulat an, überall gingen Bilder von Ayatollah Khomeini und Ali Khamenei in Flammen auf und wurden die Büros irantreuer Parteien und Milizen zerstört. Iranische Waren werden seitdem mittels der gezielten Kampagne »Lasst sie verfaulen« boykottiert.

Diese offene Ablehnung überraschte die Machthaber im Iran, die den Irak bislang weitgehend unter ihrer Kontrolle geglaubt hatten. Als sich auch der einflussreiche irakische Klerus in Karbala und Najaf hinter die Demonstrierenden stellte und den Abzug aller fremden Truppen, also auch der iranischen, aus dem Land forderte und den Rücktritt von Premier Adel Abdel Mahdi erzwang, wurde die Lage für Teheran bedrohlich.

Der schiitische Klerus im Irak wird für die Machthaber im Iran seit Jahren zu einem wachsenden Problem. Traditionell vertreten irakische Ayatollahs eine theologische Sicht, die im Gegensatz zur Lehre Khomeneis von der Statthalterschaft der Rechtsgelehrten (Welāyat-e Faqih) steht. Laut irakischer Schia sollen Kleriker lediglich beratende und moralische Vorbilder sein, nicht aber selbst regieren. Deshalb unterstützt die Mehrheit der Kleriker im Irak seit 2003 die demokratische Verfassung des Landes, und selbst religiösen Parteien käme es nie in den Sinn, Kleriker in die Regierung zu entsenden.

Indem die Ayatollahs im Irak offen die iranische Einmischung und die Gewalt gegen die Protestbewegung kritisierten, legitimierten sie sie als keineswegs »gottlos« oder vom Westen gesteuert, wie es die proiranische Propaganda gerne verbreitet. Konnte sich die Islamische Republik Iran bisher immer als Sprachrohr der Schiit*innen in der arabischen Welt inszenieren, hat sie es nun mit Demonstrationen zu tun, die sich ganz dezidiert gegen ihren Einfluss richten. Umso größer war daher auch die Solidarität auf irakischen Straßen mit den jüngsten Protesten im Iran, die mit bislang unbekannter Radikalität das Teheraner Regime kritisierten und ein Ende seiner theokratischen Verfassung forderten.

Je blutiger Sicherheitskräfte im Irak gegen die Protestierenden vorgehen, desto entschlossener scheinen diese, ihre besetzten Plätze zu verteidigen. Kompromisse mit der Regierung scheinen deshalb immer unwahrscheinlicher. Die Wut nimmt zu, während die Parteien in Bagdad bislang keinen Ausweg aus der Krise finden. Monatelang stritten sie um die Nachfolge des zurückgetretenen Premiers. Selbst wenn nun eine Regierungsbildung gelingt, wird diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur von der Straße abgelehnt, sondern sich als unfähig erweisen, die geforderten Reformen umzusetzen. Denn würde eine neue Regierung auch nur partiell den Forderungen der Straße nachkommen, müsste sie in der Lage sein, sich souverän gegenüber dem Iran zu zeigen.

Keine guten Perspektiven

Herrschte 2011 während des Arabischen Frühlings noch der Glaube, eine bessere Zukunft hinge nur vom Sturz der bestehenden Regimes ab, haben die Erfahrungen der vergangenen Dekade gelehrt, dass sich die miserable Situation damit nicht ändert, sondern kurzfristig oft sogar eher verschlechtert. Solche Illusionen gibt es heute nicht mehr: Die neue Generation, ob im Irak oder anderen Ländern der Region, ist aufgewachsen in dysfunktionalen Trümmerlandschaften. Die jungen Leute mussten miterleben, wie Syrien zerbombt wurde, Jemen in Chaos versank und der Islamische Staat seine Terrorherrschaft ausübte. Sie kennen nur wirtschaftliche Misere, Massenflucht und ein politisches Establishment, das sich hemmungslos selbst bereichert, aber ihnen nichts zu bieten hat. Abgesehen von der Brutalität, mit der die eigene Regierung gegen jede Dissidenz vorgeht, bleiben meist nur abgegriffene Parolen von ‚Widerstand und Kampf gegen Imperialismus und Zionismus‘.

Dieser »alte Nahe Osten« liegt in Agonie darnieder und reagiert reflexhaft mit Gewalt und Propaganda auf die sich verschärfenden Krisen. Die bestehenden Strukturen sind inzwischen so marode, dass sie vermutlich selbst mit gutem Willen, der innerhalb des Machtapparates nirgends zu erkennen ist, nicht reformierbar wären. Zudem fehlt es zwischen Demonstrierenden und System an vermittelnden Institutionen und Akteur*innen.

Vor einem ähnlichen Dilemma standen die Aktivist*innen des Arabischen Frühlings schon vor knapp zehn Jahren; seitdem hat die Situation sich keineswegs verbessert. Die meisten Staaten der Region haben weiter abgewirtschaftet und sind bankrott. Die Gesellschaften sind tief gespalten in zwei unversöhnliche Lager: Die Gegner*innen der herrschenden (Un-)Ordnung und deren überall schrumpfende Anhängerschaft. Letztere verfügt zwar über Waffen, Geld und den erklärten Willen zum unbedingten Machterhalt, hat in den Augen großer Teile der Bevölkerung aber jedwede Legitimität verloren. Währenddessen fällt es den Apparaten zunehmend schwerer, ihr Klientel mit Gratifikationen bei der Stange zu halten.

Trotz der Schwäche der alten Systeme gibt es aber keine guten Perspektiven für die Protestbewegung. Sie steht weitgehend isoliert da, mit nennenswerter internationaler Unterstützung kann sie nicht rechnen. Wer sich außerdem mit dem Iran anlegt, hat es mit einem Gegner zu tun, der zu allem bereit scheint, um Macht und Einfluss zu bewahren. Auch wenn sich die Demonstrierenden im Irak den Sicherheitskräften und Milizen bisher eindrucksvoll entgegenstellten, wird ihr Widerstand nicht ewig währen. Einfach nur gewaltsam niederschlagen lässt diese Protestbewegung sich aber auch nicht, wie die letzten Wochen zeigten. Das wissen die Machthaber. Eine Rückkehr zum alten Status quo scheint somit ebenfalls undenkbar.

Thomas von der Osten-Sacken ist Publizist und Geschäftsführer der im Irak aktiven NGO WADI. Eine längere Fassung dieses Beitrags steht auf www.iz3w.org.