Das bewusstlose Projekt

Die rot-grüne Katalyse des deutschen Parteiensystems

Aufbau und Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie in Westdeutschland nach dem Untergang des "Dritten Reiches" haben sich, bedenkt man die 1945 gegebenen historischen Voraussetzungen, erstaunlich erfolgreich vollzogen. Diese Erfolgsgeschichte des Politiksystems der Alt-Bundesrepublik war bestimmten konstruktiv wirkenden Faktoren zu verdanken, die sich in knapper Form so beschreiben lassen:

Zwar hatte für den Zusammenbruch des totalitären nationalsozialistischen Systems eine innerdeutsche Opposition oder gar revolutionäre Bewegung keine Rolle gespielt (anders als beim Bruch mit dem deutschen Obrigkeitsstaat 1918), aber die Resultate des antidemokratischen Regimes waren 1945 so eindeutig desaströs, dass eine neue, "westliche", Staatsform bei der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung Kredit erhielt.

Historische Eckpfeiler des Projekts BRD

Diesen konnte sie vor allem aus zwei Gründen nutzen und einlösen: Erstens verband sich mit dem neuen politischen System schon nach wenigen Jahren ein erstaunlicher wirtschaftlicher Erfolg mit angenehmen sozial-materiellen Effekten für die Masse der BürgerInnen; zweitens entwickelte sich in der Alt-Bundesrepublik eine feste Struktur kollektiver sozialer Absicherung, die in ihrem sozial ausgleichenden Charakter gesellschaftlich einen Grundkonsens sicherte und im internationalen Vergleich ein besonders hohes sozialstaatliches Niveau bedeutete. Dieser "rheinische", d. h. sozial-regulativ gebändigte Kapitalismus entsprach gewiss nicht weiter gehenden sozialistischen Vorstellungen aus der Tradition der Arbeiterbewegung, aber er knüpfte in seiner Praxis an wichtige Teile derselben an und wurde für die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften weitgehend identifikationsfähig.

Sozioökonomisch und ideologisch stellte der "historische Komnpromiss" in Sachen Kapitalismus und Sozialstaat den Boden bereit, auf dem der zweite Versuch einer parlamentarischen, von der Bevölkerung getragenen und akzeptierten Demokratie in der deutschen Geschichte gelang. Entscheidend dafür war eine informelle "Große Koalition" zwischen den beiden großen Volksparteien, die - trotz zuweilen heftiger Kontroversen in anderen Politikfeldern - die Grundfragen sozialer Regulierung der kapitalistischen Dynamik betraf, was Konflikte über das Ausmaß und die Konkretion von Sozialstaatlichkeit keineswegs ausschloss.

Die damalige Systemkonkurrenz, d. h. die Konfrontation mit der anderen Sozialtsaatlichkeit der staatssozialistischen Länder trug zweifellos dazu bei, dass in Westdeutschland ein ungehemmter Kapitalismus auch von weiten Teilen der Unternehmerschaft nicht für vorteilhaft gehalten wurde; zudem trug der hohe Grad von organisierter Kooperation zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Westdeutschland zur Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen der Bundesrepublik im sich aufbauenden Weltmarkt bei.

Welchen Druck dieser "historische Kompromiss" ausübte, wird daran deutlich, dass auch die liberale Partei sich zuweilen zum Sozialstaat bekannte. Neoliberale Wirtschaftskonzepte traten in der Bundesrepublik, verglichen mit anderen westlichen Gesellschaften, verspätet und zunächst nur zaghaft auf.

Auf diese Weise erhielt zwischen den 50er und den 70er Jahren des inzwischen vergangenen Jahrhunderts die Parteiendemokratie eine ziemlich solide Grundlage. Die Bevölkerung gewöhnte sich an die Konkurrenz von zwei Großparteien und einer kleineren Partei, ausgetragen vor allem in außenpolitischen, in rechtspolitischen, auch in sozialpolitischen Fragen, zugleich aber im Antagonismus begrenzt durch die in einem breiten Spektrum vorhandene Übereinkunft, dass kollektive soziale Sicherung notwendig und soziale Polarisierung zu vermeiden sei. Die starke und institutionalisierte Einflussposition der Gewerkschaften bildete eine wichtige Stütze dieses Politiksystems. Ein bisschen mehr (die SPD) oder ein bisschen weniger (die Unionsparteien) waren die beiden großen politischen Lager auf die Berücksichtigung gewerkschaftlicher Konzepte gewohnheitsmäßig eingestellt.

Die Veränderung der politischen Landschaft

Diese Konstellation wurde in den 80er Jahren brüchig. Dabei wirkten verschiedene Faktoren zusammen: In der Nachfolge der Studentenbewegung und mit dem Auftreten einer neuen "grünen" Partei traten sogenannte "postmaterialistische" Politikeinstellungen auf, forciert auch durch den Wechsel der Generationen. Unter der begrifflich eher dubiosen Marke "Postmaterialismus" waren und sind höchst unterschiedliche politische Inhalte zu finden, die - wie inzwischen deutlich geworden ist - von dem Primat der Ökologie bis zur neoliberalen Abneigung gegenüber gewerkschaftlichen Positionen reichen. In der Entwicklung politischer Mentalitäten bringt dieser "Postmaterialismus" zumeist ein Desinteresse an der "sozialen Frage" mit sich, zu weiten Teilen auch die Vorstellung, der Staat solle sich aus der Regulierung des wirtschaftlich-sozialen Lebens tunlichst heraushalten.

Daneben hat sich - nicht nur in der FDP - ein mentaler Trend entwickelt, der Modernisierung als eine robuste wirtschaftliche Konkurrenz der Individuen versteht, als Trennung von herkömmlichen kollektiven Strukturen sozialer Sicherung, als Abschied vom Versorgungsstaat, im Interesse der "Leistungsträger". Hier gibt es durchaus Berührungspunkte zum "Postmaterialismus".

Im gleichen Zuge entwickelte sich ein "Sozialdarwinismus von unten" auf der Verliererseite der Modernisierung, der naheliegenderweise auf zivilgesellschaftliche Umhüllung verzichtet und bei älteren Generationen eher resignative, bei der jüngeren aggressive Formen hat. Was die Parteiendemokratie angeht, ist hier die nachhaltige Distanzierung typisch, während "Postmaterialisten" und neoliberale "Leistungsträger" dazu neigen, von Fall zu Fall und ohne langfristige Bindung für diese oder jene Partei zu optieren.

Selbstverständlich handelt es sich bei alldem nicht um frei schwebenden Mentalitätswandel, sondern um eine Entwicklung, die mit Veränderungen der Sozialstruktur zusammenhängt, mit dem Bedeutungsrückgang der alten Industrien, der Erosion des "Normalarbeitsverhältnisses", der Individualisierung von Erfahrungen am Arbeitsplatz. Dass gewerkschaftliche Organisierung für die nachrückenden Generationen an Stellenwert - subjektiv - verliert, ist im selben Kontext zu erklären.

Für kurze Zeit, am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl, schien es so, als würde sich noch einmal eine Politisierung der überkommenen Parteiendemokratie herausbilden, und zwar bestimmt durch die Frage nach dem Wegfall oder dem Erhalt der sozialstaatlichen Eigenschaften des deutschen Gesellschaftssystems. Die unionsgeführte Bundesregierung hatte dem Drängen der Unternehmerschaft, zugunsten der Gewinnmaximierung im internationalen Finanzmarkt agierender Aktiengesellschaften sozialstaatlichen "Ballast" abzuwerfen, immer mehr nachgegeben. Die Opposition, angeführt von der SPD, schien demgegenüber eine Perspektive zu bieten, wie Modernisierungspolitik mit der grundsätzlichen Beibehaltung des "Rheinischen" am deutschen Kapitalismus verbunden werden könne.

Exakt diese Erwartung brachte der Opposition den Erfolg über Helmut Kohl, wobei im sozialdemokratischen Wahlterrain zum Teil die Meinung weit verbreitet war, auch eine sozialdemokratisch geführte Große Koalition sei geeignet, das deutsche sozialstaatliche Modell reformerisch aufrecht zu erhalten und weiter zu führen. Dort, wo ein "rot-grünes Projekt" erhofft wurde, lag darin die Idee einer Alternative zum Neoliberalismus.

Die Abschaffung des "Politischen"

Die tatsächliche Entwicklung ist anders verlaufen. In der gegenwärtigen Parteienlandschaft ist die Thematik, die bei der letzten Bundestagswahl ausschlaggebend war, als Ort des gesellschaftlichen Konfliktes und Diskurses nicht mehr auffindbar. Sieht man von der PDS ab, die aus historischen Gründen wohl kaum die richtige Partei ist, Substanzerhaltung und Methodenreform des "rheinischen Kapitalismus" als ihr Thema zu vertreten,so repräsentiert derzeit keine Parlamentspartei in der Bundesrepublik die Idee eines modernisierten Sozialstaates. In der SPD wie in dern Unionsparteien und in geringerer Zahl auch bei den Grünen und in der FDP gibt es sozialpolitische Traditionalisten, die - zumeist auf dieses oder jenes Klientelumfeld bezogen - sozialstaatliche Reste retten möchten, woraus aber kein ordnungspolitischer Diskurs oder Entwurf hervor geht; mehrheitlich aber herrscht in der Praxis all dieser Parteien die immer mehr zur Doktrin werdende Meinung vor, die Eigendynamik der Kapitalverwertung, zumal die globalisierte, lasse eine sozial gestaltende Funktion der Politik strukturell nicht mehr zu, es komme also nur noch darauf an, durch einen günstigen Platz im internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb sich Spielraum für materielle Konzessionen ans wählende Publikum zu verschaffen.

Die Tatsache, dass ein Teil der Bevölkerung sich aus der aktiven oder passiven Teilnahme an der Politik zurück zieht und die Wahlbeteiligung im Gesamttrend zurück geht, kann da für die politische Klasse etwas durchaus Beruhigendes haben. Störungen des personalisierten und telekratisch geführten Spiels um Einfluss und Positionen sind so weniger zu befürchten; es sind ja meist die Unzufriedenen, die sich aus der Parteiendemokratie verabschieden.

Wie weit die Parteiführungen von dem Gedanken, Parteipolitik solle dem Problembewusstein und der Willensbildung der BürgerInnen ernsthaften Ausdruck verschaffen, abgerückt sind, läßt sich für die Sozialdemokratie am Beispiel des Blair-Schröder-Programmpapiers erkennen. Dieses wurde ohne demokratische Legitimation und ohne Beteiligung der Basis der Partei rasch in die Welt gesetzt und zur epochemachenden Aussage hochgelobt - und es verschwand ebenso rasch wieder in der Versenkung, nachdem es sich beim Politmarketing als schwer verkäuflich erwies. Mit einem Prozess der Kommunikation über Probleme und Akternativen gesellschaftlicher Entwicklung zwischen Wahlbevölkerung, Parteienmitgliedschaft und Parteivorständen wird offenbar gar nicht mehr gerechnet.

Als Kompensation dafür werden Möglichkeiten diffuser und kurzatmiger Stimmungsartikulation angeboten, etwa innerparteiliche Personen-"Plebiszite". Diese neuen Methoden des Managements der Parteiendemokratie setzten sich in schnellem Tempo durch. Einerseits passen sie sich einem Zeitgeist an, der längerfristige Bindungen als zu belastend empfindet und flexible, marktförmige soziale Verkehrsformen vorzieht; andererseits geben sie dieser Tendenz eine neue Qualität, lassen sie über die private Sphäre hinauswachsen in den Raum gesellschaftlicher Orientierung.

Plausibel ist, dass die demokratische, über Parteien und Parlamente sich vollziehende Gestaltung einer sozialen Ordnung ein nachhaltiges Problembewusstsein bei BürgerInnen, einigermaßen konturierte Alternativen bei der Problemlösung und strapazierfähige Werthaltungen für die Realisierung von Zukunftsentwürfen voraus setzt.

Es geht dabei nicht um ein wirklichkeitsfremdes Idealbild von Demokratie, sondern um bescheidene funktionale Bedingungen. Eben diese verflüchtigen sich derzeit, ziemlich lautlos, so dass ihre Abwesenheit nicht zur massenmedialen Sensation wird. Die Anwesenheit von schwarzen Parteikassen hat es da leichter, öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Was von vielen aktiven Mitgliedern der SPD (gewiss nicht allein) und der Grünen als "rot-.grünes Projekt" gedacht war, als Entwurf für eine spezifische, soziale und ökologische Perspektive von "nachindustrieller Gesellschaft", ist nun zu einer Passage in ein anderes Politiksystem geworden, in dem ganz generell gesellschaftspolitische Projekte keine Bedeutung mehr für Parteien haben, vielmehr Politik (nach einer Formulierung von Gerhard Schröder) als "Geleitschutz für die Wirtschaft" verstanden wird. Nahezu reibungslos vollzieht sich dieser Übergang, weil er eben nicht als "Putsch" der wirtschaftspolitischen Standortkommandeure, auch nicht als "Verschwörung" neoliberaler Politiker zustande kam, sondern als sozusagen bewusstloses Projekt der Abschaffung politischer Projekte.

Vor dem Ende des "Rheinischen"?

Zur Reibungslosigkeit trägt auch bei, dass die rot-grüne Bundespolitik, nach anfänglichen Schwierigkeiten, inzwischen ihre Sache effizient betreibt und tüchtige Leute (einige jedenfalls) vorzuweisen hat, während die große Oppositionspartei immer noch nicht weiß, wie sie ohne Helmut Kohl auskommen soll.

Es hat seine Logik, dass die Umwandlung der Parteiendemokratie in einen Wirtschaftsstaat mit konkurrierenden Dienstleistungsagenturen nicht von einer CDU/CSU/FDP-Koalition, sondern von einem rot-grünen Regierungsbündnis vollendet werden konnte und die Sozialdemokratie bei diesem Vorgang dafür zu sorgen hat, dass nicht zuviel Grausamkeit gegenüber der Arbeitnehmerbevölkerung auftritt; an ärgerlichen Reibungsverlusten ist niemandem gelegen.

Nach der Gründung der Bundesrepublik hatte sich in Westdeutschand eine Parteiendemokratie etablieren könne, die - bei allen Schwächen - ideengeschichtlich die deutsche Wende hin zu einem freiheitlichen Politikverständnis brachte. Die Westdeutschen lernten, dieKonkurrenz zwischen den Parteien als einen Prozess zu verstehen, in dem ohne Vernichtungswillen gegenüber dem politischen Gegner Konflikte um die gesellschaftliche Gestaltung, um gesellschaftliche Weichenstellungen und Einflussgrößen ausgetragen wurden und Werthaltungen sich herausbildeten, die die Politk prägen konnten.

Es gibt keinen Grund, die nun untergehende Politikform zu glorifizieren, aber sie hatte einige Qualitäten, die wohl erst richtig sichtbar werden, wenn sie nicht mehr vorfindbar sind. Die heutige Konkurrenz der deutschen Parteien enthält nicht mehr jene Kontroversen um die Außenpolitik, die Deutschlandpolitik und die Wehrpolitik, die zwischen den 50er und 70er Jahren den politischen Diskurs bestimmten. In dieser Hinsicht erscheint das Terrain konfliktfrei; was freilich überhaupt nicht heißt, dass da keine Probleme bestünden.

Diese kommen jedoch in den Parlamentsparteien nicht zum Vorschein, jedenfalls nicht in ihrer realen Dramatik - auch nicht in der PDS.

Die altrepublikanische Parteiendemokratie lebte aber auch aus jener Verbindung vom Konsens und Konflikt in Sachen Sozialstaat, aus der das besondere westdeutsche Gesellschafts-"Modell" hervor ging. Die Ausgestaltung der sozialen Ordnung durch die Politik, als eigener Auftrag und nicht als Dienstleistung für Unternehmen und Finanzmarkt definiert, bildete den Kern der Parteiendemokratie, auch der Interaktion zwischen dem politisch interessierten Teil der Bevölkerung und den Parteien.

In dem Maße, in dem die Politik auf die Souveränität des Sozialen gegenüber dem Ökonomischen verzichtet, also das "Rheinische" am deutschen Kapitalismus fallen läßt, zerfällt auch die historische Parteiendemokratie. Gelegentliche Gedenkveranstaltungen der einen oder anderen Partei werden daran nichts ändern.

Marginalien:

Dass ein Teil der Bevölkerung sich aus der Politik zurück zieht, kann für die politische Klasse etwas durchaus Beruhigendes haben

In dem Maße, in dem die Politik das "Rheinische" am deutschen Kapitalismus fallen läßt, zerfällt auch die historische Parteiendemokratie.