Rot-grüne auf der Kriechspur

Vabanquespiel ist angesagt. Die Regierung bleibt weit hinter den politischen Notwendigkeiten - und Möglichkeiten.

Der rapide Anstieg der Energiekosten - im Kern die massive Steigerung des Ölpreises - hat etliche ökonomische und politische Verhältnisse durcheinandergewirbelt. In der Bundesrepublik wurde im Alltagsbewusstsein zum ersten Mal seit Juli 1993 die Arbeitslosigkeit von Platz eins der Problemliste abgelöst. Im September 2000 nennen 52% der befragten BundesbürgerInnen die Steuerlast und die Benzinpreise als wichtigstes Gegenwartsproblem, nur noch 38% die Massenarbeitslosigkeit; die Themen Rechtsradikalismus, Rente und die Asyl- und Ausländer"problematik" folgen auf den weiteren Plätzen. Diese Veränderungen führen auch zu außergewöhnlichen Ausschlägen bei der Bewertung der Parteien und ihrer Repräsentanten. Bundeskanzler Schröder und die regierende Sozialdemokratie haben in kurzer Zeit ihre exzellenten Umfragewerte eingebüßt. Ähnliche dramatische Veränderungen des politischen Stimmungsbarometers werden auch andernorts gemeldet: New Labour in Großbritannien wird ebenso abgestraft wie die Regierungslinke in Frankreich.

Die Entwicklung auf dem Energiemarkt hat der Preisbewegung deutliche Schubkraft verliehen. Pendler und Speditionen sind besonders betroffen. Die tariflichen Lohn- und Gehaltssteigerungen (2-3%) werden durch die Verteuerung der Lebenshaltung weitgehend aufgefressen. Bei vielen Arbeitslosen, Beziehern von Sozialhilfe oder Rente war von den spärlichen Umverteilungsmaßnahmen der rot-grünen Regierung nichts angekommen; sie geraten durch den von den Energiepreisen getragenen Inflationsschub besonders unter Druck. Die Regierungen reagieren mit Steuersenkungen und Energiekostenzuschüssen auf den wachsenden sozialen Druck. Die USA zapfen sogar ihre strategischen Ölreserven an, um auf den Energiemärkten für Entspannung und in der Bevölkerung für Beruhigung zu sorgen.

Bis Mitte der 80er Jahre war der weltweite Ölverbrauch - infolge des hohen Preisniveaus - deutlich zurückgegangen. Nachfolgend stieg der Verbrauch in den Jahren 1985-1998 um 13 auf 71,5 Millionen Barrel pro Tag an. Die Wachstumsrate beim Weltölverbrauch betrug im Jahresdurchschnitt 1,6%. 1997/98 haben die kapitalistischen Länder faktisch die Effekte eines Preisverfalls ausgekostet: Der Rohölpreis wurde Anfang 1998 auf das Niveau von 10 US-Dollar gedrückt. Die OPEC schaffte es zunächst nicht, die Produktion zurückzufahren, so dass zeitweilig über eine Auflösung des Kartells spekuliert wurde. Als es dann doch zur Fördereinschränkung kam, beschleunigte sich zeitgleich das Wachstum der Weltwirtschaft, was zu einer deutlichen Zunahme des Verbrauchs führte. Die OPEC war schließlich selbst überrascht, dass der Rohölpreis in wenigen Monaten auf über 30 Dollar stieg.

In kürzester Zeit ist ein altes Feindbild reaktiviert worden: die Öl-Scheichs und die Öl-Multis plündern - im Verein mit den Regierungen - die Kassen der transportintensiven Wirtschaftssektoren und der privaten Verbraucher. Die reale Preisbewegung zeigt etwas anderes: der Angebotsüberschuss auf den Ölmärkten ist in den letzten Jahren von den internationalen Konzernen genutzt worden, den OPEC-Ländern ein beispiellos niedriges Preisniveau aufzuzwingen. Die Förderpolitik Russlands, das "um jeden Preis" verkaufen musste, um an Devisen zu kommen, verstärkte diesen Prozess. Im Ergebnis ist (trotz der politisch motivierten Förderbeschränkungen im Falle des Irak) der Anteil des Mittleren Ostens an der Weltölversorgung in Laufe des letzten Jahrzehnts von 19 auf 31% gestiegen). Das niedrige Preisniveau führte zu sinkenden Investitionen bei der Exploration und Ausbeutung neuer Ölfelder; aus Afrika und Osteuropa häuften sich die Berichte über marode Anlagen und Pipelines. Als dann schließlich die Konjunkturmotoren schneller liefen, war der Rückschlag in der Preisentwicklung nur noch eine Frage der Zeit.

Die Verlierer des Ölpreis-Schubs sind eindeutig zu identifizieren. Mehr noch als die unteren Einkommensschichten in den Metropolen, die nicht über soviel soziale Macht verfügen, dass sie die höheren Lebenshaltungskosten durch höhere Löhne oder Sozialeinkommen abfangen können, zählen die Entwicklungsländer zu den Leidtragenden. Sie stecken in einer Zangenbewegung: einerseits haben sie mit einem Preisverfall ihrer Rohstoffen zu kämpfen, andererseits müssen sie zusätzliche Mittel für Energieimporte aufbringen. Der wirtschaftliche und soziale Graben zu den Metropolen wird zugleich breiter und tiefer.

Die Weltbank weist in ihrem neuesten Entwicklungsbericht aus, dass 1/5 der Bevölkerung in den Metropolen über 4/5 des weltweit erwirtschafteten Einkommens verfügen. 2,8 Milliarden Menschen, knapp die Hälfte der Weltbevölkerung, leben in Armut und müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen. Das Durchschnittseinkommen in den 20 reichsten Ländern liegt 37 mal über jenem der 20 ärmsten Ländern; vor 40 Jahren war diese Kluft nur halb so groß. Sogar die Weltbank konstatiert, dass die These, Armut lasse sich mit Wirtschaftswachstum beseitigen, nicht aufrechtzuerhalten ist; man müsse über zusätzliche Hilfen und Umverteilungsmaßnahmen nachdenken, was freilich in den wohlhabenden kapitalistischen Ländern auf immer geringere Resonanz stoße; folglich gehe der Transfer von öffentlichen Mitteln aus dem Norden in den Süden immer mehr zurück.

Die rechtspopulistische Polemik in der aktuellen Verteilungsauseinandersetzung gegenüber "den Ölscheichs" hat denselben Aufklärungswert wie gegenüber Ausländern und Flüchtlingen als vermeintliche "Nassauer" - nämlich keinen. Von speziellen Preisaufschlägen für Erdölprodukte kann keine Rede sein. Die Niedrigpreisphase der Jahre 1997/98 gehört der Vergangenheit an, aber auch der derzeit hohe Preis wird sich über längere Zeiträume nicht halten lassen, weil - ähnlich wie in den Erdöl-Krisen Anfang der 70er und 80er Jahre - das Preisniveau dafür sorgen wird, dass weitere Erdölfelder erschlossen und die Fördermengen erhöht werden.

Und die Gefahr eines Absturzes in eine weltwirtschaftliche Rezession? Von dem hohen Ölpreisniveau gehen Umverteilungseffekte aus: die russischen Energieexporteure verdienen mehr und setzen dies - neben binnenwirtschaftlichen Effekten - in höhere Importe um, wovon die bundesdeutsche Exportwirtschaft profitiert. Gleiches gilt für das Geschäft mit dem Mittleren Osten. Bedenklich ist für die Bundesrepublik und einige andere westeuropäische Länder, dass durch diese Umverteilung die extrem hohe Exportabhängigkeit weiter zunimmt. Die strukturellen Schwächen der Ökonomien der hochentwickelten kapitalistischen Länder werden durch diese Preiseffekte gerade nicht abgebaut. Gleichwohl könnte im Gefolge einer Abschwächung der Weltkonjunktur eine ähnliche Schuldzuweisung wie in den 70er und 80er Jahren erfolgen: die Ölpreisschocks waren vermeintlich für die schweren Rezessionen verantwortlich, nicht aber Strukturprobleme der kapitalistischen Ökonomien.

Die rot-grüne Koalition ist durch die plötzliche Unruhe aus ihren demoskopisch motivierten Träumen aufgeweckt worden. Mit den angepeilten Steuerzugeständnissen (Entfernungspauschale) und der Subventionierung der Heizkosten für die unteren Einkommensschichten sollen die gröbsten Umverteilungseffekte aufgefangen werden - es ist, als wolle man schwere Knochenbrüche mit einem Wundpflaster therapieren. Der Regierung wird erneut vorgeführt, wie eng die Spielräume für eine selbstgestaltete Lebensführung bei einem Großteil der sozialen Schichten geworden sind. Der Umbau des Rentensystems, die angekündigte Erhöhung der Krankenkassenbeiträge, höhere Eigenaufwendungen für Bildung und Ausbildung etc. signalisieren, dass die Koalition der Mitte noch manche verteilungspolitische Klippe umschiffen muss.

Solange die günstige Konjunktur anhält und sinkende Arbeitslosenzahlen die Hoffnungen auf eine stetige Besserung der gesamtwirtschaftlichen wie individuellen Lage nähren, hat die Regierung der Mitte politischen Handlungsspielraum. Doch nutzt sie ihn? Selbst bescheidene ökologische Strukturreformen werden nicht angepackt. Es bedurfte erst der UMTS-Milliarden, um Investitionen zugunsten der Bahn locker zu machen - die jetzt vielzitierte Ökosteuer hat keinerlei ökologische Steuerungswirkung: ihre Einnahmen dienen allein der Senkung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung. Und was die Gestaltung eines zukunftsfähigen Energiemix betrifft: im Aufgabenheft der Bundesregierung liest man davon nichts mehr. Die Regierung der Mitte nutzt ihren politischen Gestaltungsspielraum nicht, sie wird von den Verhältnissen getrieben. Statt rechtzeitig die Binnenwirtschaft zu stärken, um gegen weltwirtschaftliche Rückschläge gewappnet zu sein, setzt sie - Glücksrittern gleich - alles auf die Karte boomender Exportwirtschaft. Statt die arbeitsmarktpolitischen Instrumente tatsächlich im Sinne aktiver Strukturpolitik zu modernisieren, opfert sie sie auf dem Altar vermeintlicher "Sparpolitik". Statt einer Reform des Sozialstaats unter dem Leitbild sozialer Gerechtigkeit wird die soziale Polarisierung weiter vorangetrieben, so weit, dass Privathaushalte Gefahr laufen, ihre Heizkostenrechnung nicht mehr bezahlen zu können.

Vabanquespiel ist angesagt. Die Regierung bleibt weit hinter den politischen Notwendigkeiten - und Möglichkeiten.