Was heißt Europa?

Willkommen in Europa, Belgrad - so hört man es in feierlichen Reden und liest es in den Gazetten. Auch wer, wie der Autor dieser Zeilen, die Freude teilt über den Sturz des Diktators und seines korrupten Regimes, über den - hoffentlich dauerhaften und durchgreifenden - Sieg der demokratischen Opposition in Jugoslawien, stutzt bei dieser Begrüßung. Lag Belgrad nicht immer in Europa? Natürlich geht es nicht um Geographie, sondern um Inhalte. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß ein friedensorientierter Zusammenschluß demokratisch verfaßter europäischer Länder Unterstützung verdient gegenüber dem jahrhundertelangen Zustand nationalistisch bestimmter Auseinandersetzungen, Kriege und bösartiger, alle Seiten schädigender Rivalitäten. Die simple Formel aber von gut = europäisch und böse = nichteuropäisch geht dennoch nicht auf. Belgrad liegt nämlich wirklich in Europa. Und es lag dort auch, als Europäer das europäische Jugoslawien im Kosovo-Krieg bombardierten, und damit ein wesentliches Element aller seit der frühen Neuzeit entwickelten Pläne für ein vereinigtes Europa, das Streben nach einer Gemeinschaft ohne Krieg, aufgaben.

Man sollte genauer nachdenken über einen Sprachgebrauch, der suggeriert, jeder Staat, jede Gesellschaft sei in Ordnung, täte gut und verhielte sich richtig, wenn sie nur europäischen Mustern folge. Was nämlich wären solche Muster? Man heißt Belgrad willkommen in Europa, nachdem der Diktator gestürzt ist. Wo aber, muß man doch fragen, war es zuvor? Wo lag Deutschland zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8./9. Mai 1945? Es kehrte mit der Kapitulation zurück nach Europa, wäre eine Antwort in der Logik des eingangs Zitierten. Wo es inzwischen gewesen war, ist nicht ganz klar. Dabei ist die Antwort einfach: Es war ein europäisches Land, es befand sich mitten in Europa, und zwar nicht nur geographisch. Das Schreckliche, das in diesen zwölf Jahren geschehen war, war nicht uneuropäisch. Deutschland kehrte 1945 nicht zurück nach Europa, sondern es wechselte, gezwungen von den Siegermächten, von einer schlechten in eine bessere Spur. Beide aber waren europäisch. Überdeutlich weist das Symbol des italienischen Faschismus, die fasces, die drohenden Rutenbündel mit dem Beil der römischen Liktoren, auf die bewußte Anknüpfung des Faschismus an älteste, europäische Tradition von Herrschaft und Gewalt. Durch die Jahrhunderte zieht sich in der Geschichte Europas eine Linie von Gewalt und Terror, Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender. Hitler und seine Spießgesellen - ganz abgesehen von den gebildeten konservativen Eliten in Wirtschaft und Politik, die sie unterstützten - waren Europäer, die schlimmen europäischen Traditionen folgten und sie auf die Spitze trieben.
Auch Auschwitz kehrte nicht nach Europa zurück, als die kommunistische Diktatur gestürzt wurde. In Europa lag es auch zuvor, auch in seiner schlimmsten Zeit, als europäische Herrenmenschen dort ihre unsäglichen Verbrechen verübten. Was sie taten, war Verbrechen in nie dagewesener Dimension. Vorbilder aber, die in diese furchtbare Richtung wiesen, finden sich immer wieder in der langen Geschichte Europas. Da waren die Pogrome im Zuge der Kreuzzüge oder die Ende des 15. Jahrhunderts einsetzende Verfolgung der Juden in Spanien, mit der die "allerchristlichsten Könige" Ferdinand und Isabella den endgültigen Triumph der reconquista krönten, den Sieg christlicher Heere über die Araber, die einige Jahrhunderte hindurch auf der iberischen Halbinsel geherrscht hatten, tolerant gegenüber Christen wie Juden. Gewiß, das ist sehr lange her. Niemand kann es wiederholen. Ein zweites Auschwitz gar liegt außer jeder Vorstellung. Nicht so lange her ist freilich das Wort des preußischen Hofhistoriographen Heinrich von Treitschke (geboren war er in Sachsen) über die Juden, die unser Unglück seien. Ähnlich Denkende - und entsprechend Handelnde - finden sich auch heute noch in vielen Ländern Europas, nicht nur in Deutschland. Scham, Trauer und ohnmächtiger Zorn packen einen, liest man in diesen Tagen, daß der Zentralratspräsident Spiegel meint, unsicher zu sein, was er den Menschen in jüdischen Altersheimen sagen solle, wenn sie ihn fragen, ob es nun wieder losgehe.
Nein, ein Gütesiegel schlechthin ist es nicht, das erwirbt, wem attestiert wird, er kehre (aus Europa) nach Europa zurück. Kein Zweifel, daß Denken und Handeln in europäischen Dimensionen hilfreich sein kann für die Überwindung engstirnigen Nationalismus. Daß am deutschen Wesen die Welt genesen werde, war eine arrogante, törichte Devise. Grundsätzlich nicht vernünftiger wäre es aber, ähnliche Heilswirkung einem europäischen Wesen zuzuschreiben.