Memorandum

Plädoyer für ein europäisches "Diplomatie Zuerst!"-Konzept - Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA

Am 16. November 2000 haben auf Einladung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) Persönlichkeiten aus der Friedensforschung die Raketenabwehrp

1. Unser Anliegen - unser Vorschlag im Überblick

Der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird sich höchst
wahrscheinlich bald für den Aufbau eines landesweiten
Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) entscheiden.
Wir sind besorgt, dass ein solcher Beschluss zu einer neuen Runde des
Wettrüstens führt - und damit weltweit nicht mehr Sicherheit, sondern mehr
Unsicherheit schafft. Davon ist auch die Bundesrepublik Deutschland
gravierend betroffen. Darum melden wir uns zu Wort.

Mit unserer Besorgnis über die Einführung eines umfangreichen
Abwehrsystems stehen wir nicht allein, wie die Reaktionen auf die Pläne
der Vereinigten Staaten weltweit zeigen. Auch innerhalb der USA stoßen
die Vorhaben auf Kritik. Wir sehen die Gefahr, dass politische Maßnahmen
gegenüber militärischen Mitteln mehr und mehr ins Hintertreffen geraten
und nicht ausgelotet werden, wenn es darum geht, die Proliferation
(Verbreitung) von Massenvernichtungswaffen (Trägersysteme
insbesondere mit atomaren, biologischen und chemischen Sprengköpfen)
wirksam zu bekämpfen. Bei den militärischen Vorhaben geht es nicht nur
um die Pläne zum Aufbau eines Nationalen Verteidigungsgürtels, sondern
auch um vorschnell aufgestellte regionale Abwehrsysteme (Theater Missile
Defense, TMD). Sie können leicht zu regionalen Rüstungswettläufen
führen.

Vor diesem Hintergrund zielt unser "Diplomatie Zuerst!"-Vorschlag darauf
ab, der Politik als Mittel zur Lösung insbesondere des
Proliferationsproblems wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und ihr den
Vorrang einzuräumen. Die "Diplomatie Zuerst!-Initiative" richten wir
insbesondere an den deutschen Außenminister und an die Mitglieder der
verantwortlichen Parlamentsausschüsse.

Unser Vorschlag hat drei Dimensionen:

Erstens fordern wir vor allem die Bundesregierung auf, ihre
diplomatischen Anstrengungen gegenüber Washington zu intensivieren. Das
Hauptziel gegenüber der neuen US-Administration und dem neuen
Kongress muss es sein, ein Nationales Raketenabwehrsystem wegen der
absehbaren negativen Folgen zu verhindern. Der nach wie vor wichtige
Raketenabwehr-Vertrag von 1972 (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM)
muss in seiner jetzigen Substanz erhalten bleiben. Wir befürchten, dass die
Schwächung oder gar die einseitige Aufkündigung des ABM-Abkommens
durch die Vereinigten Staaten das gesamte Rüstungskontrollgebäude der
letzten Jahrzehnte zum Einsturz bringt, insbesondere den Nuklearen
Nichtverbreitungsvertrag. Der Prozess der nuklearen Abrüstung wäre
nachhaltig gestört und würde möglicherweise zum Erliegen kommen.
Washington ist auch in erster Linie angesprochen, wenn es darum geht, eine
weitere Militarisierung des Weltraums zu beschränken. Aber auch Moskau
und Beijing müssen stärker dazu gebracht werden, dass sie glaubwürdiger
als bisher unter Beweis stellen, es ernst mit der Nichtverbreitung von
Massenvernichtungsmitteln zu meinen.

Zweitens drängen wir im Rahmen der "Diplomatie Zuerst!"-Initiative
darauf, durch den Ausbau eines internationalen Frühwarn- und
Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen eine
präventiv angelegte Rüstungskontrolle zu betreiben. Zu denken ist hier zum
einen an Maßnahmen der Vertrauensbildung und Risikominderung, wie z.B.
die rechtzeitige Meldung von Raketenstarts oder die getrennte Lagerung
von Sprengköpfen und Raketen. Bedeutsam sind zum anderen eine
Beschränkung oder gar ein Teststopp von bestimmten ballistischen Raketen
sowie ein globales oder regionales Aufstellungsverbot für neue Raketen.
Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass diese Forderung aus
gegenwärtiger Sicht nur schwer zu verwirklichen ist. Dies muss jedoch
nicht für erste gezielte Schritte gelten.

Drittens fordern wir deshalb die Bundesregierung und den Bundestag auf,
auf diesem langen Weg zusammen mit den europäischen Partnern eine
"Diplomatie Zuerst!"-Initiative gegenüber einzelnen Problemstaaten zu
starten. Länder wie Iran, Irak, Syrien und Libyen liegen in einer graduell
nach Süden zu erweiternden "Sphäre europäischer Verantwortung". Eine
solche Initiative dürfte insbesondere gegenüber Iran gute Chancen haben,
zu wirksamen Ergebnissen zu gelangen. Mit Blick auf den EU-Gipfel im
Dezember in Nizza empfehlen wir, ein solches Konzept zu einem
Kernelement der viel beschworenen Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik zu machen.

2. Lagebericht:
Stagnierende Abrüstung, bedrohliche Aufrüstung

Zum vielfach erhofften Aufschwung bei der Abrüstung ist es nach dem
Ende des Ost-West-Konflikts nicht gekommen. Die weltweite
Verminderung der Rüstungspotentiale hat sich in einigen Bereichen deutlich
verlangsamt, in anderen ist sie gar zum Stillstand gekommen. So hat der
amerikanische Senat den Umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) nicht
ratifiziert, auch die Umsetzung der Chemiewaffen-Konvention kommt nur
schleppend voran. Ein Abkommen zur weiteren Reduktion der strategischen
Nukleararsenale in den Vereinigten Staaten und Russland auf rund je 1500
Sprengköpfe (START III) ist derzeit genauso wenig in Sicht wie ein
Vertrag zur Beendigung der Produktion von atomwaffenfähigen Materialien
("Fissile Material Cut-off") oder die Einbeziehung taktischer
Nuklearwaffen in den Abrüstungsprozess. Die russische Duma hat zwar
den START II-Vertrag verabschiedet, seine Umsetzung jedoch an Erhalt
und Einhaltung des Raketenabwehr-Vertrages seitens der Vereinigten
Staaten gekoppelt. Dieses Abkommen haben die damalige Sowjetunion und
die Vereinigten Staaten 1972 abgeschlossen, um ein politisch wie finanziell
kostspieliges Wettrüsten zwischen Raketen und Abwehrraketen zu
vermeiden.

Zur vielfach paralysierten Abrüstung kommt der deutliche Gegentrend zur
Aufrüstung im Kontext der Weiterverbreitung von
Massenvernichtungsmitteln hinzu. Die Nukleartests in Indien und Pakistan
von 1998 und die Folgeentwicklung zeigen, dass diese zusätzlichen
Kernwaffenstaaten im Begriff sind, ihre Potentiale auszubauen. Die
Erprobungen der iranischen Shahab-Rakete verdeutlichen beispielhaft, dass
einige Dritt-Welt-Länder dabei sind, ein Arsenal von Trägersystemen für
Massenvernichtungswaffen zu entwickeln; große Teile der Türkei und
andere Nachbarländer des Iran liegen bereits in der Reichweite der
iranischen Shahab, die sich noch im Teststadium befindet.

Zum Gegentrend der Aufrüstung gehören auch die amerikanischen Pläne,
ein landesweites Raketenabwehrsystem (NMD) aufzustellen. Dies bedeutet
das Ende des ABM-Vertrages in seiner bisherigen Substanz und Form.
Denn sein zentrales Anliegen ist es, die Stationierung eines solchen Systems
und die Vorbereitungen hierfür zu verbieten. Mit dem geplanten
NMD-Abwehrschirm soll das gesamte Staatsgebiet der Vereinigten Staaten
vor einem begrenzten Raketenangriff geschützt werden - also vor einer
Attacke mit einigen wenigen Langstreckenraketen, die entweder
versehentlich von russischem Boden aus oder absichtlich von einem der
Risikostaaten, wie beispielsweise Nord Korea, abgeschossen werden
könnten. Um ihre Aufrüstungspläne zu verwirklichen, hat die
Clinton-Administration in den Gesprächen mit Moskau angestrebt, die
Vertragsinhalte gravierend zu verändern. Dabei ging vielen Republikanern
in beiden Häusern des Kongresses bereits die Gesprächsbereitschaft der
Clinton-Regierung zu weit. Sie forderten eine einseitige Aufkündigung des
Vertrages, den auch die scheidende US-Administration als "Eckstein
strategischer Stabilität" bezeichnet hat.

Die Zukunft des ABM-Vertrages ist nicht nur eine Sache der beiden
Vertragsparteien. Seine Aufweichung oder gar sein Bruch werden
weltweite Folgen haben, denen sich auch Europa nicht verschließen kann.
Ein weiterer Rüstungsschub droht. Denn die amerikanischen Rüstungspläne
haben zu heftigen internationalen Reaktionen geführt. Russland und China
haben mit dem Ende des feinmaschigen Netzwerks von
Rüstungskontrollabkommen und mit der Aufrüstung bei ihren
Kernwaffenarsenalen gedroht. Das NMD-Programm, das für die
Vereinigten Staaten Sicherheit stiften soll, hat globale Auswirkungen und
führte zu einer Belastung der transatlantischen Beziehungen, da die meisten
europäischen Staaten das amerikanische Vorhaben weitgehend ablehnen.
Nicht nur die absehbaren negativen weltweiten Folgen betreffen die
Europäer gravierend. Zumindest Großbritannien und Dänemark werden
direkt durch die Pläne für die Umrüstung zweier NMD-Radarstationen in
Fylingdales und Thule (Grönland) in das amerikanische Militärprogramm
involviert sein. Die meisten europäischen Regierungen fürchten zu Recht,
dass die Sicherheit auch auf dem Alten Kontinent stark beeinträchtigt wird.

3. Nach der amerikanischen Wahl: Optionen

US-Präsident Clinton hat am 1. September 2000 bekanntgegeben, dass er
seinem Nachfolger die Entscheidung über die Stationierung des umstrittenen
Systems überlässt. Clintons Beschluss, nichts zu beschließen, bedeutet aus
heutiger Sicht nur eine begrenzte Hinauszögerung der historischen
Entscheidung, ein Nationales Abwehrsystem aufzustellen. Denn die beiden
Präsidentschaftskandidaten Al Gore und George W. Bush haben sich -
wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - für den Aufbau eines
Abwehrsystems ausgesprochen.

Setzt der Demokrat Gore seine Wahlkampf-Rhetorik um, dann kommt es zu
einem eher begrenzten System. Ein US-Präsident Gore würde wie sein
Amtsvorgänger versuchen, die notwendigen Veränderungen des
ABM-Vertrages möglichst einvernehmlich mit Russland zu erzielen. Macht
der republikanische Kandidat George W. Bush seine
Wahlkampf-Äußerungen wahr, dann ist mit einem umfassenderen
Abwehrsystem zu rechnen. Er will einen mehrschichtigen Gürtel aufbauen
und die US-Alliierten einbeziehen; Bush will weniger Rücksicht auf die
Sorgen Russlands nehmen. In jedem Falle bleibt die Gefährdung des
Raketenabwehr-Vertrages weiterhin real.

Von entscheidender Bedeutung wird die Zusammensetzung des ebenfalls
neu gewählten Kongresses bleiben. Die entschlossenen NMD-Stationierer
vor allem im Senat waren in den vergangenen Jahren der Motor der
militärischen Abwehrpläne. Diese ideologische Gruppierung von Senatoren
ist auch im neuen Kongress unvermindert stark vertreten. Es ist daher
zweifelhaft, dass sich die geschrumpften Mehrheiten der Republikaner in
Senat und Repräsentantenhaus automatisch auf eine
rüstungskontrollpolitisch wünschenswerte Verlangsamung der
amerikanischen Raketenabwehrpolitik auswirken. In jedem Falle wird es
sich auch der 107. Kongress nicht nehmen lassen, die Politik des neuen
Präsidenten und seiner Administration in diesem Bereich maßgeblich
mitzubestimmen.

4. Nationale Raketenabwehrsysteme:
Wenig wirksam und doch gefährlich

Wie immer das mehr oder minder stark veränderte NMD-Design der neuen
Administration und ihr Zeitplan für Weiterentwicklung und Stationierung
aussehen werden: Auch diese amerikanische Regierung muss die
technischen Probleme, die bereits durch die Tests in der Clinton-Ära ans
Tageslicht kamen, bewältigen. Im Falle eines umfassenderen und
anspruchsvolleren Systems, das stärker als bisher Weltraumkomponenten
einschließt, dürften die technischen Schwierigkeiten noch wachsen. In den
USA sind bislang bereits deutlich mehr als 100 Milliarden Dollar für
Raketenabwehr ausgegeben worden, seit den SDI-Plänen des Jahres 1983
rund 70 Milliarden. Bis heute wurde kein funktionsfähiges System
stationiert. Zur Zeit werden jährlich etwa 4 Milliarden Dollar in Forschung,
Entwicklung und Erprobung investiert. Nach Angaben des Congressional
Budget Office werden für die NMD-Pläne der Clinton-Administration 60
Milliarden Dollar - ohne Weltraum-Konzepte - bis 2011 benötigt. Trotz der
ausgegebenen großen Summen sind die technischen Ergebnisse kläglich.
Von den 16 ab 1982 im Weltraum durchgeführten Abfangversuchen waren
nur zwei erfolgreich - und das, obwohl sie unter extrem günstigen
Versuchsbedingungen stattfanden, die mit der Realität eines möglichen
tatsächlichen Raketenangriffs kaum etwas zu tun haben.

Insbesondere das fehlende Vertrauen in die Wirksamkeit der
NMD-Technologie veranlasste den Präsidenten, seinen
Stationierungsbeschluss zu verschieben. Kein militärischer Planer in den
USA würde sich in einem Ernstfall auf einen derartig unzuverlässigen
Abwehrschirm verlassen können. Unabhängig davon, wie erfolgreich die
unter der neuen Regierung in Washington durchgeführten Versuche sein
werden, wird jedes NMD-System mit gravierenden Herausforderungen von
anderen Staaten konfrontiert sein. Eine im April 2000 von amerikanischen
Wissenschaftlern veröffentlichte Studie zeigt u.a. drei verhältnismäßig
einfache Gegenmaßnahmen auf, mit denen sich ein Abwehrsystem
"überlisten" und "täuschen" lässt. Dies ist deshalb möglich, weil das
Grundproblem, echte feindliche Sprengköpfe von bloßen Attrappen zu
unterscheiden, nach wie vor völlig ungelöst ist:

Die betreffenden Länder können Bio- und Chemiewaffen, die in vielen
kleinen Behältern ("submunition") im Kopf der Rakete transportiert
werden, einsetzen. Gegen diese vielen kleinen Ziele sind sowohl der
landesweite Abwehrschirm als auch die regional aufzustellenden
Raketenabwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD) machtlos. Ob
andere Konzeptionen (etwa zum Abfangen in der Startphase durch
seegestützte Waffen) dieses Problem lösen, lässt sich heute noch nicht
sagen.

Im Innern von metallbeschichteten Ballons lassen sich Kernsprengköpfe
unterbringen, die das Abwehrsystem nicht zu erkennen vermag. Diese
Gefechtsköpfe können gemeinsam mit einer größeren Anzahl leerer Ballons
freigesetzt werden, die die amerikanischen Abfangwaffen auf sich lenken.

Wird der Gefechtskopf innerhalb einer großen Wolke von kleinen
Metallfäden freigesetzt, lässt sich eine genaue Ortung durch das Radar
verhindern.

Bei diesen Gegenmaßnahmen handelt es sich, anders als bei den
Abfangtechnologien, nicht um Reißbrett-Phantasien. Länder, die in der
Lage sind, Trägersysteme und Gefechtsköpfe zu bauen, können auch
derartige technische Gegenmittel verwirklichen. Hinzu kommt - und dies
wird in der Diskussion oft übersehen -, dass Regierungen oder terroristische
Vereinigungen, die die Vereinigten Staaten erpressen wollen, eine große
Bandbreite von Möglichkeiten zur Verfügung hätten, gegen die
Raketenabwehrsysteme nichts auszurichten vermögen. Hierzu gehören:

Die Stationierung von Kurzstreckenraketen oder Marschflugkörpern auf
Frachtschiffen oder U-Booten in der Nähe des amerikanischen
Territoriums, die mit A-, B- oder C-Sprengköpfen ausgerüstet sind,

deponierte Sprengladungen mit Massenvernichtungsmitteln auf Schiffen,
die in amerikanischen Häfen zur Explosion gebracht werden können und

das Einschmuggeln dieser Waffen auf US-Gebiet.

Mit ihren grundsätzlichen Zweifeln an den NMD-Fähigkeiten und der
Effizienz von Gegenmaßnahmen stehen unsere
Naturwissenschaftler-Kollegen in den Vereinigten Staaten nicht allein.
Auch die öffentlich zugänglichen Bedrohungsanalysen aller amerikanischen
Geheimdienste ("National Intelligence Estimates") weisen neuerdings auf
die Bedeutung und die Machbarkeit derartiger Gegenmaßnahmen hin.
Darüber hinaus betonen die Geheimdienstberichte die beträchtlichen
Möglichkeiten, über die (sub-)staatliche Akteure mit Erpressungsabsichten
verfügen.

Trotz der relativ leichten Möglichkeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen,
gehört es zu den Paradoxien der Militärpolitik, dass in einer Reihe von
Ländern die langfristig kalkulierenden Militärplaner und Politiker von
Szenarios des "schlimmsten Falles" ausgehen - sie bauen also in ihre
Überlegungen ein, dass die Nuklearkapazitäten ihrer Länder, wenn nicht
heute oder morgen, so doch übermorgen durch ein NMD-System bedroht
sein könnten. Diese Praxis hat aber ein fortschreitendes
Offensiv-Defensiv-Wettrüsten zur Folge.

Denn China mit seinem begrenzten strategischen Nukleararsenal von ca. 20
Interkontinentalraketen wird wahrscheinlich die
US-Raketenabwehrsysteme zum Anlass nehmen, um sein Atomarsenal
auszubauen. Denn, so das Kalkül in Beijing, selbst ein begrenztes
Abwehrsystem der USA wird die eigenen Nuklearwaffen entwerten. Dies
würde aller Wahrscheinlichkeit nach einen weiteren nuklearen
Rüstungswettlauf in Südostasien provozieren. Eine Kettenreaktion von
China über Indien und Pakistan, die bis zu Taiwan und Japan reichen
könnte, ist zu befürchten.

China dürfte in der amerikanischen Raketenabwehrpolitik die zentrale Rolle
spielen, auch wenn es in den offiziellen Begründungen kaum vorkommt. Die
Vereinigten Staaten, die das "Reich der Mitte" mit beiden Abwehrvarianten
offenbar militärisch eindämmen wollen, versprechen sich von NMD und
TMD zusätzliche Handlungsmöglichkeiten, etwa im Konflikt zwischen der
Volksrepublik und Taiwan. Wir sind der Auffassung, dass ein solcher
erhöhter Aktionsspielraum zweifelhaft ist, denn der Zugewinn an
Handlungsspielraum könnte durch die Gefährdung der regionalen Stabilität
wieder zunichte gemacht werden.

5. Wesentlich:
Der Erhalt des ABM-Vertrages

Wird das NMD-Vorhaben verwirklicht, muss der ABM-Vertrag
aufgekündigt oder beträchtlich verändert werden. Er ist seit fast drei
Jahrzehnten in Kraft und begrenzt die gegenwärtig erlaubte Raketenabwehr
drastisch. Die Vertragspartner Vereinigte Staaten und Russland haben sich
verpflichtet, "keine ABM-Systeme zur Verteidigung des Territoriums des
eigenen Landes zu stationieren und keine Basis für solch eine
Verteidigung vorzusehen". Der bilaterale Vertrag hat eine präventive
Funktion, da er beide Vertragsparteien laut Artikel V (1) verpflichtet "keine
ABM-Systeme oder Bestandteile zu entwickeln, zu erproben oder
aufzubauen, die see-, luft- oder weltraumgestützt sind oder als
bewegliches System landgestützt sind".

Der ABM-Vertrag ist auch unter den veränderten internationalen
Rahmenbedingungen ein wesentlicher Baustein im komplizierten Geflecht
internationaler Abmachungen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtweiterverbreitung nuklearer Waffen. Er ist daher weiterhin von
substantieller und politisch-symbolischer Bedeutung.

Obwohl der Ost-West-Konflikt beendet ist, besteht das nukleare
Abschreckungssystem weiter, und zwar nicht nur im US-russischen
Verhältnis, sondern auch im Hinblick auf China. Die Vertragskritiker, die
das Abkommen für ein Überbleibsel aus der Zeit des ideologischen
Antagonismus halten, übersehen diese Ungleichzeitigkeit. Insbesondere auf
der Ebene der operativen Zielplanung haben sich Moskau und Washington
(so unzeitgemäß dies ist) einander nach wie vor im Visier.

Selbst unter den stark veränderten internationalen Bedingungen lässt sich
das gegenwärtige Abschreckungssystem noch verschlechtern. Eine
"Kostprobe" hierfür enthalten die unlängst bekannt gewordenen
US-Verhandlungsvorschläge gegenüber Moskau (sog. Talking Points des
amerikanischen Verhandlungsleiters John Holum). Befolgte Moskau die
dort enthaltenen Empfehlungen, würde nicht nur der Prozess der
Rüstungsverminderung ins Stocken geraten. Denn die Amerikaner legten
ihren Verhandlungspartnern ferner nahe, ihre Atomwaffen im Zustand
hoher Alarmbereitschaft zu halten. Für eine Krisensituation könnte sich
diese Empfehlung als fatal erweisen.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Im Gegensatz zu den Gegnern des
ABM-Vertrages schließen wir nicht aus, dass Moskau als Reaktion auf ein
amerikanisches NMD-System finanzierbare Aufrüstungsmaßnahmen trifft.
Das Argument, Russland sei hierzu wegen seiner bekannten
wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht in der Lage, greift nicht. Denn die
Wiedereinführung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs) ist nicht nur
finanziell erschwinglich. Vielmehr ist sie stabilitätspolitisch äußerst
problematisch. Sie bedeutet ferner das Ende des START II-Vertrages.
Damit wird das in ihm enthaltene MIRV-Verbot für landgestützte Raketen -
ein Meilenstein in der Geschichte der Rüstungskontrolle - ausgehebelt.

Fällt der ABM-Vertrag, erhöht sich das Risiko, dass auch andere
Abkommen entwertet werden, die die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen einhegen wollen. Angesprochen ist hier
insbesondere der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag. Die zunehmende
Militarisierung der Nonproliferationspolitik der USA signalisiert eine sich
verstärkende Abkehr von internationalen Normen. Von besonderer
Bedeutung (wenn auch in der Diskussion weitgehend ignoriert) ist in diesem
Zusammenhang der Ausbau des Nationalen Abwehrsystems mit dem Ziel,
Abfangwaffen im Weltraum zu stationieren. Weltraumgestützte
Komponenten können Zielscheiben von Anti-Satelliten-Waffen (ASAT)
werden, die wiederum militärische Gegenmaßnahmen herausfordern. Dies
bedeutet ein Wettrüsten auch im Weltraum.

Die Konsequenzen einer Kündigung oder weitgehenden Aufweichung des
ABM-Vertrags können als Einstieg in einen kontinuierlichen Aufbau von
Raketenabwehrsystemen angesehen werden. Eine stetige quantitative und
qualitative Weiterentwicklung ist absehbar. Nach der in den USA bislang
geplanten letzten Aufbaustufe für das Jahr 2011 wären im Weltraum
stationierte Waffensysteme der nächste Schritt.

Zudem könnten weitere Staaten versucht sein - gewissermaßen noch
rechtzeitig - in eigene Nuklearpotentiale zu investieren, denn die beste
Rückversicherung gegen den Aufbau eines zunächst begrenzten - oder gar
nicht - wirksamen Raketenabwehrsystems der USA ist in der Denkweise
nuklearer Abschreckung der Aufbau bzw. Ausbau eigener
Nukleararsenale. Neue regionale Rüstungswettläufe können entstehen. Das
Nichtverbreitungsregime insgesamt würde in Gefahr geraten.

Auch wenn Russland nicht gemäß der inneren Logik der nuklearen Rüstung
reagieren würde oder könnte, wäre die schrittweise nukleare Abrüstung
bedroht. Russland wird insbesondere aufgrund ökonomischer Gründe zwar
gezwungen sein, seine Nukleararsenale weiter zu reduzieren, die untere
Grenze der Nukleararsenale wird aber wesentlich bestimmt durch die
Bedrohungspotentiale der nuklearen Konkurrenten. Jeder Kernwaffenstaat
muss seine Zweitschlagsfähigkeit erhalten, um eine stabile Abschreckung
zu gewährleisten. Bei Einführung von umfassender Raketenabwehr wird
somit die schrittweise und tiefgreifende nukleare Abrüstung bedroht. Das
Ziel der nuklearwaffenfreien Welt rückt in weite Ferne. Ein Prozess der
vollständigen nuklearen Abrüstung ohne Gefährdung globaler strategischer
Stabilität ist weit schwerer, bei der Existenz umfangreicherer
Raketenabwehr vielleicht gar nicht, organisierbar.

Deshalb plädieren wir entschieden dafür, den ABM-Vertrag in seiner
jetzigen Substanz zu erhalten.

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