Jörg Haider, Tony Blair und der Wirtschaftsliberalismus

Vor ungefähr siebzig Jahren wurde der Aufschwung des Faschismus folgendermaßen beschrieben: ,,Vor dem Hintergrund des heutigen Wirtschaftslebens - international in den Verbindungen, unpersönlich in den Methoden - scheint das Rassenprinzip einem mittelalterlichen Ideenfriedhof entstiegen. Die Nazis machen im voraus Zugeständnisse: Im Reich des Geistes wird Rasseneinheit durch den Paß bescheinigt, im Reich der Wirtschaft aber muß sie sich durch Geschäftstüchtigkeit ausweisen. Unter heutigen Bedingungen heißt das: durch Konkurrenzfähigkeit. So kehrt der Rassismus durch die Hintertür zum ökonomischen Liberalismus - ohne politische Freiheiten - zurück."1

Heute ist der ökonomische Liberalismus wieder im Kommen, begleitet von den gleichen Anomalien hinsichtlich Rasse und Einwanderungspolitik. In Österreich ist die FPÖ mit ihrem Programm der freien Marktwirtschaft bei strengen Einwanderungskontrollen an der Regierung beteiligt. Im SPD-regierten Deutschland werden die Asyl- und Einwanderungsgesetze verschärft, doch gleichzeitig werden für 20.000 Softwarespezialisten aus Indien rote Green Cards zur Verfügung gestellt. In Großbritannien ist die Labour-Regierung, die sich einer freien Marktwirtschaft verschrieben hat, in eine offen rassistische Pressekampagne über Immigranten, Asylsuchende und Bettler verwickelt. Die Unterminierung des sozialen Konsenses, die die angelsächsische Welt seit Mitte der siebziger Jahre erlebt, hat mittlerweile auch die zentraleuropäischen Nationen erfaßt, die sich bisher an die politischen Arrangements der Nachkriegsregelungen klammerten.

I.

Es ist diese Krise, die den offensichtlichen Aufschwung des rechtspopulistischen Nationalismus eines Haider, Le Pen oder auch der DVU (oder von Frau Thatcher in den siebziger Jahren) hervorbrachte, und nicht einfach ein nostalgischer Versuch der Rückkehr zu einer Diktatur Hitlerscher Prägung. Daher muß der Widerstand gegen Haider tiefer und weiter gehen als ein oft falsch plazierter abstrakter Antifaschismus. Was wir erleben, ist nicht die Wiederauferstehung des Faschismus der dreißiger Jahre, sondern eine neue Krisenvariante des ökonomischen Systems, das dem Faschismus in den dreißiger Jahren zum Aufstieg verhalf. Haider als Faschisten anzugreifen heißt, die Symptome mit der Krankheit zu verwechseln.

Der Aufstieg Haiders und anderer rechtspopulistischer Kräfte ist weniger eine Staatskrise oder eine Krise der Demokratie als eine Krise der Sozialdemokratie als eines politischen Projekts. Das Paradoxe ist, daß die Sozialdemokratie auf den ersten Blick in einem gesünderen Zustand zu sein scheint als jemals zuvor in den letzten zwei Jahrzehnten. Sie regiert in den meisten EU-Staaten und dominiert scheinbar die politische Szene auf dem gesamten Kontinent. Die Christdemokraten und konservativen Parteien sind in fast jedem Land ins Hintertreffen geraten, und die Gefahr einer radikalen grünen Bewegung ist durch Integration und Vermittlung beseitigt worden.

Dennoch - dort, wo die Sozialdemokratie scheitert, geschieht dies wegen populistischer rechter und linker Parteien, die immer mehr in der Lage sind, die ,,Intelligenz" und Teile der Arbeiterklasse (als die ehemals tragenden Säulen der Sozialdemokratie) für sich einzunehmen.

Zwei Ereignisse haben in den vergangenen Monaten die Konsenspolitk Europas bis ins Mark erschüttert: Das erste ist die Kombination der CDU-Finanzaffäre mit der (wenn auch geringeren) Verwicklung der SPD in eigene Korruptionsskandale - eine deutsche Variante des Proporz-Prinzips. Dieser Doppelskandal untergräbt den politischen Konsens der Nachkriegszeit und wird weitreichende politische Konsequenzen haben. Das zweite ist die Einbeziehung von Haiders FPÖ in die österreichische Regierungskoalition, wodurch im Schnellverfahren das jahrzehntealte Proporzsystem abgeschafft wurde und zugleich die Einwanderungsgesetze verschärft und einer EU-Erweiterung um Staaten, die an Österreich grenzen, Hindernisse in den Weg gelegt wurden.

Die Debatte bei den deutschen Christdemokraten dreht sich immer mehr darum, ob die Partei nach der Ära Kohl vom neuen Zentrum im Norden und Osten Deutschlands gelenkt wird oder weiterhin von der alten Rechten aus dem Süden und Westen. Daß Franz Josef Strauß die Situation klar erkannt haben würde und mit einer neuen Sonthofener Rede22 reagiert hätte, wäre sicherlich übertrieben. Angesichts der Stoiberschen Versuche, die Richtung der CDU/CSU zu bestimmen, wird jedoch inzwischen von einer ,,Haiderisierung" der deutschen Politik gesprochen.

II.

Auf die Vereidigung von Haiders FPÖ zur Regierungsbeteiligung am 4. Februar 2000 ist überall in der Welt mit großer Bestürzung reagiert worden, und es wird gefragt, ob dies einen Rückfall in den Austrofaschismus der dreißiger Jahren bedeutet. Viele EU-Länder entschieden, daß eine solche Entwicklung nicht zugelassen werden dürfe - obwohl die Reaktion der britischen Regierung merkwürdig verhalten ausfiel. Ich komme später auf die Frage zurück, ob die Maßnahmen der EU Haider in die Hände gespielt haben, da dadurch seine Behauptung, die EU mische sich zu sehr in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten ein, bestätigt wurde. Zunächst möchte ich unter die Oberfläche der jüngsten Empörung sehen und diese in ihrem langfristigen historischen Kontext analysieren. Vor allem möchte ich einen kritischen Blick auf Haiders Ausführungen vom 6. Februar werfen, denen zufolge die Auffassungen seiner Partei viel mit dem Programm von Tony Blair und New Labour gemein haben. Zwar hat diese Erklärung viel Ärger verursacht, doch sollte man sie durchaus ernst nehmen.

Mein Argument ist, daß Haiders Sieg lediglich die Fortsetzung eines politischen und ökonomischen Projektes ist, das die soziale Tagesordnung seit Mitte der siebziger Jahre beherrscht hat. Dieses Projekt hat viele Namen: Thatcherismus, Reaganismus, Neoliberalismus, Monetarismus. Was immer es repräsentieren mag, es bedeutet nicht einen fundamentalen Bruch mit ,,dem System", sondern mit den Traditionen der Sozial- und Christdemokratie und ihrer Politik sozialer Inklusion und des Neo-Keynesianismus. (Der ,,New Democrat" Clinton hat diese Tendenz weitergeführt und verschärft.3) Österreich ist das Land, das die Koalition aus Sozial- und Christdemokratie, die in Europa seit 1945 dominierte, am besten verkörperte. Sie beruhte auf einer Mischung aus einer traditionell moderaten, sozialdemokratischen und sich auf Gewerkschaften stützenden Arbeiterbewegung einerseits und linkskatholischen Lehren, die Konsens und Anpassung an den Kapitalismus als zentral Größe suchen, andererseits. Gleichzeitig stand sie in einer langen Tradition Bimarckscher, Lasallescher und christlicher Vorstellungen vom Wohlfahrtsstaat, die sich in den Zwängen zum sozial-politischen Konsens unter den Bedingungen des Kalten Krieges noch verstärkt hatten.

Haiders Sieg in Österreich bedeutet eine fundamentale Herausforderung für diesen zentralen Konsens, ähnlich der Siege von Thatcher und Reagan in den frühen achtziger Jahren. Deutschland und Österreich wurden immer als Nachzügler hinsichtlich dieses Trends angesehen, und das gleiche ließe sich sicherlich über den Rest des kontinentalen Europas sagen. Sowohl Reagan als auch Thatcher sahen sich dem Dilemma gegenüber, wie man die Rolle des Staates und der Gemeinschaft reduzieren und wirtschaftliche Prioritäten festigen könne, ohne gleichzeitig die Autorität des Staates und das Fortbestehen der Gemeinschaft zu zerstören. Dieser Richtungswechsel, durch den das Primat der Wirtschaft über die Politik wiederhergestellt wurde, war letztlich der wichtigste Wendepunkt der Nachkriegsgeschichte, vielleicht von noch größerer Bedeutung als das Jahr 1989. Es war dies ein schwieriger und, wie man sagen könnte, nur teilweise erfolgreicher Balanceakt, denn in den frühen 90er Jahren schien es so, als würden die konservativen Revolutionäre von ihrer eigenen Schöpfung aufgefressen.

Und doch geht ihr Projekt in seiner Version Clinton/Blair unter dem Deckmantel der Wiederentdeckung der sozialen Werte weiter, wenn auch diesmal mit einem Akzent auf kommunitaristischen (statt linksliberalen) Ideen vom Wohlfahrtsstaat und von einer keynesianischen Wirtschaftspolitik. Tom Nairn schreibt dazu: ,,Die Tories hatten als Gegensatz zu ihrem radikalen ökonomischen Umsturz einen mumifizierten statischen Zustand unterstellt. Die Labouristen haben nun auf ihre mumifizierte Wirtschaftspolitik die ostentative Herausstellung eines verbalen politischen Radikalismus aufgepfropft."4 Doch diese Wortfülle und diese Zurschaustellung wurden lediglich ersonnen, um die Realität der ökonomischen Vorherrschaft zu verbergen. Das Grundprizip dieses quasi-kommunitaristischen Radikalismus ist exkludierend, wettbewerbsorientiert und kombiniert eine amerikanisierte Schwerpunktsetzung mit der strikten Reduzierung der Zahl der zu Inkludierenden. Noch bitterer wird diese kommunitaristische Wagenburgmentalität durch die soziale Destabilisierung, die der ökonomische Neoliberalismus per definitionem mit sich bringt. Und ein Wettbewerb um Arbeitsplätze auf einem politisch nicht regulierten Markt ist seiner Natur nach fremdenfeindlich.

III.

Historisch gesehen mußten sowohl Deutschland als auch Österreich politische Kontinuität und Stabilität der Gemeinschaft über wirtschaftliche Prioritäten setzen. Weithin galt die Überzeugung, daß Faschismus und Krieg aus Chaos und sozialem Nihilismus geboren worden waren, die wiederum ihren Grund in Wirtschaftsdepression und Massenarbeitslosigkeit der dreißiger Jahre hatten.

Während des Kalten Krieges fungierten Deutschland und Österreich außerdem als Pufferzonen zwischen den Machtblöcken, weshalb man das Risiko einer strukturellen wirtschaftlichen Instabilität nicht eingehen konnte. Seit 1990 haben solche Bedenken immer mehr an Bedeutung verloren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Niederlage der Arbeiterbewegung infolge einer systematischen Schwächung der Gewerkschaften bedeuten, daß den Herrschaftsinteressen des globalen Kapitals, die immer weniger durch Sozialgesetzgebung und kollektive demokratische Kontrolle gebremst werden, das Feld überlassen worden ist. Die Komintern ist durch die Kapintern ersetzt worden - bekannt unter dem Namen World Trade Organisation.

Mit all dem muß sich die Sozialdemokratie nun befassen. Sie regiert in fast allen europäischen Staaten und hat doch erkennen müssen, daß es keinen Weg mehr gibt, die traditionellen sozialdemokratischen Leitlinien gegen die Wünsche anonymer wirtschaftlicher Kräfte zu realisieren. Das ist der Grund, weshalb Tony Blair das gesamte sozialdemokratische Programm umstellen mußte: weg von den Traditionen sozialer Wohlfahrtsstaatlichkeit, hin zur neoliberalen Tagesordnung. So sieht er sich gezwungen, dem Rest Europas zu predigen, daß der einzig gangbare Weg im Wettbewerb mit den USA darin bestehe, den sozialen Konsens fallenzulassen.

Grundsätzlich teilt Haider nicht nur das Charisma mit Tony Blair, sondern auch dessen von Hayek und Friedman geprägte ökonomische Ansichten. Österreich ist jedoch noch ein Land, in dem Staat, Gewerkschaften und Großkonzerne in einem Proporzsystem kooperieren. Und dies ist der Inbegriff jenes Systems, das als eines der ,,konservativen Kräfte" Tony Blair herausfordern und schwächen will. Haider ist entschlossen, es ihm gleichzutun. Was bei Gordon Brown eine Wirtschaft ist, die ,,auf einer Mischung aus Unternehmertum und Fairneß beruht"5, nennt die FPÖ eine ,,faire Marktwirtschaft".

Dieser Umstand wurde übersehen, weil man sich auf Haiders verantwortungslose Bemerkungen zur Waffen-SS, Nazi-Arbeitsmarktpolitik und Einwanderung konzentrierte. Die Anspielungen auf die Nazizeit lassen sich mit seinem rechten Populismus und der Notwendigkeit erklären, die Stimmen einer älteren Generation zu gewinnen, die nicht mehr wegen ihrer Vergangenheit angegriffen werden will. Was jedoch seine Einwanderungspolitik betrifft, so ist sie kaum von jener zu unterscheiden, die in Großbritannien seit den siebziger Jahren verfolgt wird, oder jener, die die großen Volksparteien in fast allen anderen Ländern Europas fordern. Die Art, wie derzeit in England Asylsuchende behandelt werden, können sich weder Österreich unter Haider noch Deutschland unter Schröder leisten.

Haider unterscheidet sich von anderen Wortführern durch seine Fähigkeit, divergente und sich bislang gegenseitig ausschließende Teile der Wählerschaft zu vereinen. Er spricht davon, die alten, inzwischen verratenen Ideale der Sozialdemokratie wiederzubeleben, um die Arbeiter zu gewinnen, während er gleichzeitig einen ökonomischen Liberalismus fordert, der ihre Arbeitsplätze unsicherer machen wird. Er verschafft sich Rückendeckung gegen diesen Widerspruch, indem er Einwanderer für dieses Problem verantwortlich macht - ein alter, aber wirksamer Trick. Die Mittelklasse wird beworben, indem er ihr Versprechungen zur Steuersenkung macht; eine Taktik, die in Großbritannien ebenfalls bekannt ist. Schließlich kann Haider sowohl die Jüngeren mit seiner charismatischen Dynamik als auch die Älteren mit seiner Verteidigung der Vergangenheit Österreichs ansprechen. Er deutet allen alles mögliche an, und gerade darin zeigt sich die Fortsetzung des europäischen Thatcherismus mit anderen Mitteln.

In Deutschland wird vielfach eine wachsende Herausforderung von links in Gestalt der PDS gesehen. Wie die FPÖ kann die PDS Wählerstimmen gewinnen, indem auf die sozioökonomischen Konsequenzen der ,,Vereinigung" hingewiesen wird, bei der PDS die Deutschlands, im Falle der FPÖ die Europas. Die FPÖ und ähnliche Parteien werden in wachsendem Maße Unterstützung von traditionell sozialistischen Wählern in Europa bekommen, wenn die Linke dies zuläßt. Die Existenz der PDS im Osten Deutschlands hat - mit regionalen Ausnahmen - einen Erfolg der DVU bislang weitgehend verhindert.

Sind die FPÖ und die PDS also eine Art janusköpfiges Monster, die germanische Inkarnation einer ,,rot-braunen" Koalition und damit der finale Beweis für die Richtigkeit der Totalitarismustheorie? Sicher nicht, wenn es auch stimmt, daß der Erfolg beider Parteien auf die wachsende Unzufriedenheit über die offensichtliche Korrumpierbarkeit der alten Mitte und ihre Unfähigkeit zur angemessenen Behandlung der sozialen Frage zurückzuführen ist.

So grundlegend verschieden FPÖ und PDS hinsichtlich ihrer Parteiprogramme und ihrer Position im politischen Sprektrum sind - es sollte doch berücksichtigt werden, daß für ihre Wähler programmatische und ideologische Gesichtspunkte oft zweitrangig sind. Beide Parteien haben gemeinsam, daß sie die Sorgen und Motive ihrer Wähler thematisieren, die zu definieren sehr viel schwieriger ist, als programmatische Erklärungen abzugeben.

Bei den ersten Europawahlen in Österreich bekam die FPÖ 27,8% der Stimmen und rückte in eine Position gleicher Stärke auf wie die beiden traditionell wichtigsten Parteien, die ÖVP und die SPÖ. Letztes Jahr bekam die Partei einen fast genauso hohen Stimmanteil bei der Bundestagswahl. Wichtig ist dabei, daß die Neuwähler der FPÖ offenbar nicht von der politisch nahestehenden konservativen ÖVP kommen, sondern von der SPÖ herübergewechselt sind, die am meisten Stimmen verlor.

Es sieht so aus, als habe Haider die meisten Stimmen in den traditionellen städtischen Hochburgen der Sozialdemokratie bekommen, insbesondere in Wien, indem er die Gefahren ,,von außen" thematisierte. Die Warnung vor den Konvergenzkriterien der Europäischen Währungsunion in Kombination mit der Entfachung einer gestaltlosen Angst vor ,,Fremden" hat wohl viel zu dem Ergebnis beigetragen. Ähnlich scheint die Wahrnehmung der Macht Westdeutschlands und deren Dominanz bei der Interpretation sozialer Werte dazu zu führen, daß viele Ostdeutsche weiterhin PDS wählen.

Der politische Effekt ist, daß die SPÖ durch die schiere Präsenz der FPÖ in einer großen Koalition mit der ÖVP gehalten wurde. Dadurch war sie aber eine Gefangene der wirtschaftlichen Entscheidungen, zu denen die Koalition im Rahmen der Maastricht-Abkommen verpflichtet war. Ähnlich in Deutschland, wo die SPD bei ihren Versuchen, die PDS zu marginalisieren, als de facto mit der CDU verbunden wahrgenommen wird und so als Partei, die gegen ostdeutsche Interessen verstößt. Dies bedeutet, daß - wie bei der letzten Labour-Regierung in Großbritannien oder bei der SPD Anfang der 80er Jahre unter Helmut Schmidt - die Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich immer mehr als Partei gilt, die gegen die Interessen ihrer eigenen Wähler arbeitet. Inzwischen ist bekannt, daß bei den Europawahlen ca. 50% der Arbeiter für die FPÖ statt für die SPÖ gestimmt haben und daß es bei den österreichischen Wahlen auf Bundesebene 1999 etwa 47% waren.

Haider weiß genau, daß die Partei sich zur Arbeiterklasse hin orientieren und immer ,,sozialistischer" in der Handhabung der sozialen Frage werden muß, wenn sie das derzeitige Niveau an Unterstützung aufrechterhalten will. In diesem Sinne könnte Haider Goebbels zitieren: ,,Wenn man mit den Arbeitern spricht, muß man den Bart von Marx tragen." Die DVU spielt dasselbe Spiel in den fünf neuen Ländern in Deutschland. Nochmals Trotzki: ,,Je klarer, schreiender und unerträglicher der Widerspruch zwischen den Erfordernissen der historischen Situation und der praktischen Politik der sozialdemokratischen Massenpartei wird, desto bedeutender ist die Rolle, die der Faschismus im Lande spielen kann. In Österreich wie in allen anderen Ländern tritt der Faschismus als notwendige Ergänzung der Sozialdemokratie auf, lebt von ihr und kommt mit ihrer Hilfe zur Macht ... Der Faschismus nährt sich von der Sozialdemokratie, aber er muß ihr den Schädel einschlagen, um an die Macht zu kommen. Die österreichische Sozialdemokratie tut, was sie kann, um ihm diese chirurgische Operation zu erleichtern."6

Nach der Involvierung der Sozialdemokratie in die Abmachungen der Nachkriegszeit mit ihrer entideologisierenden und demobilisierenden Funktion folgt nun ihr plötzlicher Schwung nach rechts unter Blair und Schröder und die Re-Ideologisierung der wirtschaftlichen Tagesordnung. Die hier angeführten Zitate sollen daher weniger der Warnung vor dem Faschismus dienen als der Analyse des Verhältnisses zwischen Faschismus und Sozialdemokratie sowie ihres Verhältnisses zueinander hinsichtlich der Modelle von Eigentum und Kontrolle der Wirtschaft.

In Österreich hat auch eine andere Partei, die gegen den österreichischen EU-Beitritt war, nämlich die Grünen, gut bei den Europawahlen abgeschnitten. Haiders Hauptvorteil den Grünen gegenüber ist jedoch das populistische, fremdenfeindliche Vokabular, mit dem er zum ,,einfachen Mann" sprechen kann. Die Grünen und die SPÖ erhielten die meiste Unterstützung von weiblichen Wählern, von der ,,Intelligenz" und dem Mittelstand, während die FPÖ massiven Stimmgewinn unter jungen Männern der Arbeiterklasse verzeichnen kann. Daß Haider in der Lage war, seine Wäher exakt in der Gruppe zu mobilisieren, die von seiner Politik am härtesten getroffen wird, sollte uns nicht überraschen.

Dieses Wahlergebnis wird oft mit der Situation in den dreißiger Jahren verglichen, mit einer neuen Welle des Faschismus, die, verkörpert durch Haider, Le Pen, Bossi und andere, durch Europa rollt. Es muß aber zwischen der politischen und sozialen Motivation dieser neuen rechten Anführer und den faschistischen/nationalsozialistischen Zielen der dreißiger Jahre unterschieden werden, zumal es Haider nur nützt, wenn er als Neofaschist angegriffen wird, da seine Partei erwiesenermaßen nicht für eine Rückkehr zum Nationalsozialismus ist. Damit würde der reale Faschismus verharmlost, aber die Bedeutung der Neuen Rechten unterschätzt. So wie hitzige und mißglückte Attacken auf die PDS nur dazu führen, die Unterstützung für die Partei zu zementieren, stärken Angriffe auf die FPÖ das Gefühl von Verletztheit und Frustration ihrer Wähler.

Die dramatischen Anti-FPÖ-Kampagnen der EU, Boykotte und Ausschlußdrohungen, haben die gleiche Funktion. Allein der Umstand, daß die EU signalisiert, ein Land dürfe nicht die Regierung wählen, die es will, ist fatal. Sofern sich diese Politik gegen faschistische Parteien zu wenden scheint, wird sie als angemessen empfunden; doch die FPÖ ist keine faschistische Partei, und da die EU sich solcherart gegen rechte Koalitionen aussprechen kann, stellt sich die Frage nach der Reaktion auf linke Koalitionen, beispielsweise mit der PDS.

Zu bedenken ist, daß die von Haider und der FPÖ besetzten Themen deshalb so viel Erfolg hatten, weil sie von den linken Parteien so lange ignoriert wurden. Nach der letzten Europawahl vertrat die tageszeitung (taz) die These, daß die FPÖ eher eine ,,protestorientierte Partei statt einer Regierungspartei" sei. (Die Tatsache, daß diese Beschreibung auch häufig auf die PDS angewendet wird, zeigt, wie stark alltagsrelevante Themen mobilisieren können. Die PDS hat in diesem Sinne die sehr realen Ängste vor den Konsequenzen der neoliberalen Euro-Marktwirtschaft ausgenutzt.) Die FPÖ spielt ein Spiel aus Zynismus und Naivität. Der nostalgische Schein, den die Appelle an die traditionellen österreichischen Werte bewirkt haben, ist tatsächlich das Lodern eines Freudenfeuers, in das, im Gefolge des Deals mit dem Neoliberalismus, eben diese Werte geworfen wurden.

Doch so wie die Frage nach der deutschen Nation bis in die achtziger Jahre ein Tabuthema für die Linke war, was dazu führte, daß die Ereignisse von 1989 vollkommen überraschend kamen, werden heute die Positionen der Haiders, Le Pens, Bossis, Schönhubers, Portillos und Redwoods von der westlichen Linken ignoriert. Die PDS wird als autoritär-stalinistisch angegriffen, es wird aber verkannt, daß sie erfolgreich berechtigte soziale Problemlagen aufgreift und gerade dadurch bisher den Aufschwung wirklich autoritärer Tendenzen, wie sie Haider repräsentiert, verhindert hat.

Der einzige Grund, weshalb Haider mit seiner Nostalgie Ärger bekommt, ist der, daß die deutsche und die österreichische Geschichte des 20. Jahrhunderts weit schlimmer belastet ist als die britische. Wären Thatcher und Tebbit Deutsche oder Österreicher, würden sie wohl ebenfalls versöhnliche Töne gegenüber der NS-Vergangenheit angeschlagen haben. Tatsächlich vertreten viele konservative Parteien in ganz Europa derartige Positionen; sie sind Teil der rechten Phrasendrescherei und deuten nicht unbedingt auf neofaschistische Haltungen hin.

Dennoch, die Kräfte, die sich infolge der Haiderschen Beteiligung an der Regierung gestärkt und entfesselt fühlen, können gefährlicher sein als Haider selbst. Die Gefahr geht jedoch nicht von kleinen Männern in Reitstiefeln und mit komischen Schnurrbärten aus, sondern von der internationalen Liberalisierung der Wirtschaft, die nicht nur auf die Kontrolle der Wirtschaftsmärkte zielt, sondern auch auf die über die Politik.

1 Leo Trotzki: Porträt des Nationalsozialismus. In: Die neue Weltbühne, II/ 28 (13.07.1933), S. 856-862

2 Im November 1974 hielt Franz Josef Strauß in Sonthofen, Bayern, eine Rede, in der er eine Guerrilla-Taktik gegenüber der SPD-geführten Bundesregierung umriß. Es war dies eher die Aufforderung, die politische Tagesordnung nach rechts zu rücken, als eine Konsens-Politik zu akzeptieren, wie sie dann unter der Führung Kohls praktiziert wurde. Siehe: Peter Borowsky: Deutschland 1969-1982, Hannover: Edition Zeitgeschehen 1987, S. 131.

3 Siehe dazu: Pollin, Robert: Anatomy of Clintonomics. In: New Left Review, No. 3/2000, pp. 17-46

4 Tom Nairn: Ukania under Blair. In: New Left Review (II, 1), Jan./Feb. 2000, p. 73

5 The House of Commons, 15.3.2000

6 Leo Trotzki: Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus. Vgl.: http://www.mlwerke.de/lt/lt_aaa.htm

IV.

Die FPÖ ist der als Verteidiger der österreichischen Nation verkleidete politische Sturmtrupp der neoliberalen politischen Tagesordnung. All die großen Patrioten und Nationalisten in Europa sind lediglich Trojanische Pferde des Big Business, doch dieses Big Business kennt Patriotismus weniger denn je. Das soziale Programm der FPÖ besteht aus der Zerschlagung eines Staates, in dem - ungeachtet aller Mängel - zumindest versucht wurde, den Wohlstand umzuverteilen und die Ungerechtigkeiten in den sozialen Bedingungen auszugleichen.

Kann die westliche Linke also etwas von der PDS lernen? Als die Erfolge Haiders bei den Europawahlen 1998 verkündet wurden, wurde auch bekannt, daß in Frankreich eine zweite Streikwelle gegen das Sparprogramm geplant wurde, das die französische Regierung zur Erfüllung der Maastricht-Abkommen eingeführt hatte. Die vorhergegangene Streikwelle hatte zwar bei der Regierung beträchtliche Zugeständnisse erreicht, doch das Programm mußte fortgesetzt werden, wenn die EWU-Einigung im geplanten Zeitrahmen erfolgen sollte.

In Frankreich war Le Pen der größte Nutznießer der Anti-Europa-Stimmung, und genau wie bei Haider kommt die Unterstützung vor allem aus der Arbeiterklasse, die in vielen Regionen direkt zur Nationalen Front (FN) übergeschwenkt ist. Dieser Trend zeigte sich deutlich bei den Nachwahlen in Gardanne, nördlich von Marseille, die am gleichen Tag stattfanden wie Haiders Triumph bei den Europawahlen. Die FN, die mit den Themen Einwanderung, Korruption und Arbeitslosigkeit angetreten war, erreichte 26,8%. Viele der Stimmen kamen aus einer gespaltenen Arbeiterklasse, die sich nicht sicher war, wem sie die Schuld an der aktuellen Krise geben sollte.

In Großbritannien hat die Abwesenheit einer linken Opposition sowohl innerhalb als auch außerhalb der Labour Party dazu geführt, daß die Kampagne gegen Maastricht fast ausschließlich der Rechten überlassen wurde. Diese kann sich daher oft einer Rhetorik bedienen, die normalerweise von der Linken kommen würde. Auch in Deutschland gibt es ein beträchtliches Potential für rechte Parteien, auch wenn die Bedeutung der Republikaner und anderer organisierter rechter Bewegungen seit dem Höhepunkt 1994 abgenommen zu haben scheint. Dies ist - wie gesagt - eine Folge dessen, daß die PDS bestimmte Themen erfolgreich besetzen konnte.

Ähnliche Positionen in der SPD zielen auf eine Verzögerung der Währungsunion, womit man sich eine Wirkung auf die traditionelle Wählerschaft aus der Arbeiterklasse ausrechnet. Oskar Lafontaines Haltung und sein späteres Ausscheiden aus Schröders Regierung sind hierfür ein Beispiel. Lafontaine sah in dem Schröder-Blair-Projekt ein neoliberales, angelsächsisches Trojanisches Pferd, eine Position, die damals auch von Teilen der Labour-Führung vertreten wurde. Zum Beispiel betonte Robin Cook oft die Notwendigkeit, die sozialen und die finanziellen Aspekte der Europäischen Union aufeinander abzustimmen; inzwischen hat er seine Einstellung jedoch geändert.

Weshalb scheint dies immer wieder zu funktionieren? Wenn Marx recht hatte und die Arbeiter kein Vaterland kennen, warum fallen sie dann so oft auf die nationalistische Rhetorik herein? Begriffe wie nationale Identität, Patriotismus, Familie, sozialer Zusammenhalt, Werte, Moral, Gemeinschaft, Tradition, Gesetz und Ordnung, Disziplin wurden von der westlichen Linken nach dem Krieg konzeptionell in den Rahmen von Wertvorstellungen gestellt, die als typisch autoritär und ,,rechts" galten. Dagegen wurde ein politischer Liberalismus gehalten, der so tat, als habe die Revolution schon stattgefunden, als gebe es bereits eine klassenlose Gesellschaft und als seien lediglich politische Reformen nötig, um die Arbeiterbewegung entsprechend zu formen.

Die Haltung dieser liberalen Linken basiert jedoch auf abstrakten politischen Bildern, die in der Arbeiterklasse auf wenig Verständnis stoßen. Die liberale Linke ist gegen das Konzept der Nation und des Patriotismus, und Kollektivwerte sind ihr verdächtig. Kritisch bezieht sie sich auf Werte wie Tradition und Gemeinschaft, und ihr Verständnis von Kultur ist elitär, während Massenkultur und Sport eher abgelehnt werden. Sie lehnt die Religion ab, obwohl Religion, wenn auch nicht die Kirche, immer noch einen starken Einfluß auf große Teile der Arbeiterklasse hat, besonders im katholischen Teil Europas. Und letztlich glaubt sie, den Zusammenbruch von Gesetz und Ordnung durch Ermahnungen und didaktische Herangehensweisen erfolgreich bekämpfen zu können.

In ihrem Wesen ist diese Linke eine liberale politische Klasse, die gegen die meisten Elemente ihres eigenen bürgerlichen Staates ist, während die Arbeiterklasse, die tatsächlich wenig Interesse an diesen Elementen hat, dazu tendiert, den Staat in Krisenzeiten zu unterstützen, ganz gleich, welche bitteren Wahrheiten er propagiert. Das größte Problem der linksliberalen Analyse war immer, daß die grundlegenden Strukturen der Gesellschaft im wesentlichen unverändert geblieben sind, und die Arbeiter diejenigen Schichten oder die Klasse bilden, die den Wohlstand schaffen, auf dem alles aufbaut, aber dennoch die Hauptlast jeder ökonomischen Schieflage tragen.

Der Rückbau des Sozialstaates und seine Verwandlung in ein Subventionssystem für die unteren Mittelschichten, die neoliberalen Konvergenzkriterien von Maastricht, die Absenkung der Reallöhne und die Verabschiedung von der hart erkämpften Arbeitsplatzsicherheit und anderen sozialen Garantien - all diese Aspekte, die in Großbritannien, Frankreich und Spanien in den letzten 15 Jahren durchgesetzt wurden und jetzt Deutschland hart treffen, sind die Voraussetzung für eine Politik, die mit einer Rückbesinnung auf die Sicherheiten der ,,guten alten Zeiten" in Ost wie West Anklang zu finden sucht.

Die Linke muß endlich bereit sein, sowohl die objektiven ökonomischen Tendenzen in der Gesellschaft als auch die subjektiven Ängste und Sorgen der breiten Massen zu akzeptieren, so wie die Rechte dies in den siebziger Jahren tat. Die Linke muß erkennen, daß die Analysen, auf die die Thatchersche Rechte ihr Handeln gründete - die Einsicht, daß der Nachkriegsboom zu Ende war und Massenarbeitslosigkeit sowie Inflation eine Sparpolitik erforderten -, richtig waren, auch wenn die Konsequenzen des Handelns der Tories katastrophal und reaktionär bleiben.

Und Tony Blair? Dessen Politik gilt vielen in der kontinentaleuropäischen Sozialdemokratie als Modell der Zukunft. Immerhin sieht es so aus, als habe er den Plan der Tories für die Ziele der Labour Party nutzbar gemacht. In mancher Hinsicht ist dies wohl richtig, in anderer aber nicht, und dies bezieht sich auf die Klassenanalyse.

Blair - und Haider - haben die reale Situation auf den Kopf gestellt. Denn so, wie New Labour die soziale Frage angeht, kann sie zwar kurzfristig auf Zustimmung hoffen, langfristig werden sich aber grundlegenden Fragen zu Eigentum und Kontrolle ergeben. Auch die FPÖ begibt sich in dieses Dilemma, was sie mit großer Wahrscheinlichkeit mit ihrem Niedergang wird bezahlen müssen.

Blair und Haider haben erkannt, daß die allgemeine Stimmung in Westeuropa von Verwirrung und Angst gekennzeichnet ist und so eine Rückbesinnung auf die alten Sicherheiten traditioneller Werte fördert. Also haben sie sich von einem liberalen politischen und sozialen Programm entfernt. Dabei bewegen sie sich aber auf eine neo-klassische Marktwirtschaftlichkeit zu, die die Arbeiterklasse lediglich als Produktionsfaktor behandelt und die daher die Ursache und nicht die Lösung für die sozialen Probleme Europas ist. New Labour kombiniert einen als radikalen Zentrismus verkleideten politischen Konservatismus mit einem harten Wirtschaftsliberalismus und ist so im Wesen thatcheristisch, was in der Perspektive allerdings bedeutet, daß New Labour auch die Begrenztheiten des Thatcherismus geerbt hat.

Die zentrale Frage, die beantwortet werden muß - auch wenn viele sie als archaisch und irrelevant betrachten mögen -, lautet, wie sich die europäische Arbeiterklasse zukünftig politisch ausrichten wird. Was aber ist die Arbeiterklasse? Existiert sie wirklich, und hat sie eine eigene Kultur, eine eigene Identität innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft? Oder ist sie möglicherweise bereits hoffnungslos atomisiert und/oder als reaktionär abzuschreiben?

Anders ausgedrückt, ist die Frage nach der Möglichkeit des Sozialismus wirklich schon obsolet geworden, wie uns die Propagandisten des ,,Endes der Geschichte" glauben machen wollen? Die Linke sollte trotz aller Versuchungen an dem Konzept festhalten, daß eine kapitalistische Gesellschaft auf Klassengegensätzen beruht und daß auch in Großbritannien die soziale Frage dereinst wieder eine wichtige Rolle spielen wird. Die Arbeiterklasse gibt es, auch wenn sie sich ihrer eigenen Existenz nicht bewußt ist. Sie hat Interessen und die potentielle Macht, diese Interessen einzufordern. Sie erkennt diese Interessen jedoch nicht unbedingt selbst, denn sonst würde sie den Haiders und Le Pens nicht so viel Unterstützung zukommen lassen.

Dies bedeutet natürlich, daß die Konzepte von Klasse und falschem Bewußtsein wieder nützlich sind, auch wenn sie in den postmodernen und postideologischen Zeiten als zutiefst unmodern angesehen werden. Doch wenn wir sie ignorieren (oder die Phänomene, die sie beschreiben), dann wird es am Ende nur Post-Demokratie geben: Wirtschaftsliberalismus ohne politische Freiheiten.

Peter Thompson, Politikwissenschaftler, University of Sheffield