Prolegomena zu einer Kritik der Neuen Ökonomie

Als "das Herz, der Marktplatz und die Synthese" alles Neuen zeigt sich dem beginnenden 21. Jhd. das Internet

Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen,
sondern durch
Analysierung
des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins

Karl Marx (1843)

1. Das Internet als Medium des transnationalen High-Tech-Kapitalismus

Als "das Herz, der Marktplatz und die Synthese" alles Neuen (Ramonet 2000) zeigt sich dem beginnenden 21. Jahrhundert das Internet. In ihm vollendet sich die von Marx prognostizierte "Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts" (MEW 23, 790). In seinen Herrschafts- und Reichtumszentren imaginiert der zur Weltherrschaft gelangte Kapitalismus sich als "Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft", die "in ihrer Internet-Ausgabe dem Höhepunkt und ihrer Vollendung zustrebt" (Wildemann 2000). Mit elementareren Früchten der Erde und der Arbeit lässt dieses Zentrum sich von einer Peripherie bedienen. Zugleich verdoppelt verdoppeln seine Wirtschaftsprozesse sich in Alte und Neue Ökonomie.

Die als Globalisierung beredete Transnationalisierung der dominanten Kapitale hat im Netz ihre informatische Infrastruktur gefunden. Diese steckt voller widersprüchlicher Potenzen: Sie ist kosmopolitisch, aber unter US-amerikanischer Hegemonie. Sie umspannt den Erdball, aber als "fragmentierte Globalisierung" (Marcos 2000). Vom >GewebeFundsachegeneral intellectmenschlichen WirklichkeitImmateriellenHyperphysischenen passant miterledigt. So ist die dritte wissenschaftlich-technische Revolution zu einer Hoch-Zeit intellektueller Schaumschlägerei, ja eines neuen Wunderglaubens geworden, der sich an den "geradezu märchenhaft klingenden Erfolgsgeschichten der neuen e-Companies" (Klotz 2000a) berauscht. In ihm desinformiert sich die vermeintliche Informationsgesellschaft, und die sich als >Wissensgesellschaft

In dieser Gewitterlandschaft von Spekulationseuphorie und Krach am Neuen Markt, von fiktivem Kapital und neuer Proletarität, einer schrillen Zweideutigkeit von Schöner Neuer Welt und world-wide shit that hits the fan, ist es höchste Zeit, die fröhliche Wissenschaft der Kritik wieder in Gang zu setzen und sich an Antonio Gramscis Spottwort des Lorianismus3 für spekulativen intellektuellen Blödsinn zu erinnern. Das dumpfe Ausruhen auf längst verwelkten Lorbeeren eines Marxismus aus der Epoche des Fordismus ist indes nicht viel besser als jene >lorianischenentfordisierenKasinokapitalismusPostfordismusSuperfordismus5 >hochtechnologisch6 getan haben. Auch wo sie den Kapitalismus transzendierende soziale Beziehungen und Praxisformen hervorbringen, werden diese in einem ständigen Ringen immer wieder niedergehalten. Mehr noch, sie können, wie es einem der jugendlichen Wundermillionäre der Neuen Ökonomie herausgerutscht ist, den "kulturellen Wurm" bilden, mit dem der Kapitalismus die über ihn hinausstrebenden Energien ködert (siehe weiter unten).

2. Formen und Funktionen der Netzkommunikation

"Die Online-Technik ist nicht viel mehr als eine Übertragungstechnik." (Wildemann 2000) Dieser dürren Bestimmung ist hinzuzufügen, dass sie sich auf digitalisierte Gebilde beschränkt. Jene Technik markiert einen epochalen Einschnitt, weil sie das erste wirkliche Massenkommunikationsmittel hervorgebracht hat. "Der Möglichkeit nach ist in einem Computernetzwerk jede periphere Position gleich zentral, oder die Zentralität selbst ist -- als Position -- ersetzt durch das Netz." (Haug 1999, 32) "It is two-way mass communication, it uses the soon-to-be-universal digital binary code, it is global, and it is quite unclear how, exactly, it is or can be regulated." (McChesney 1999, 121) Dank seiner können Massen von Menschen sei es linear (von Ego zu einem bestimmten Andern), sei es dispers (zwischen unbestimmten Andern) ungeachtet der räumlichen Entfernung miteinander kommunizieren und tun dies auch tatsächlich auf immer erweiterter Stufenleiter. Die eigentümliche Struktur dieser Technik verschiebt den Sinn von Begriffen wie "Masse" und "Dispersion", indem jeder Empfänger auch Sender ist und dies tendenziell erdumspannend, allenfalls durch Sprachbarrieren behindert.

Seine Nutzungsformen und Akteure geben dem Internet viele Gesichter. Kommerzialisierung ringt mit Selbstorganisation, aber auch unterschiedliche Formen der Kommerzialisierung ringen miteinander um die Hegemonie übers Internet. Dieses drängt sich seinen massenhaft hinzuströmenden Neophyten auf als virtuelle Einkaufspassage mit ausgedehnter Rotlichtzone, ideales Nachfolgemedium aller bisherigen Träger und Zustellungsformen der Werbung, Verteiler der Unterhaltungsdrogen. Man soll online kaufen & konsumieren, vor allem zahlen oder sich einer Werbung aussetzen, für die andere zahlen. Daneben ist das Internet noch immer Medium von Selbstorganisation, Bildungs- und Bewegungssphäre einer virtuellen Zivilgesellschaft, freilich einer amputierten, bei der es kaum mehr darum geht, staatliche Politik mitzugestalten (vgl. dazu Haug 1999, 44-66).

Das Kommunikationsdispositiv des Internet ruft neue Warenarten und -akteure ins Dasein und verändert Prozesse und Beziehungen in allen Sphären gesellschaftlichen Daseins. Totalisiert werden die Auswirkungen in Schlagwörtern wie "Informationsökonomie", "Wissensgesellschaft" und anderen Bindestrich-Gesellschaftsnamen.7

Als übers Internet nicht nur verkaufbare, sondern auch zirkulierbare Waren fungieren sog. "Informationsgüter". Shapiro und Varian definieren sie als "alle digitalisierbaren, also in Form von Bits speicherbaren Produkte" (Schmidt 2000b). >Information

Die Produzenten digitalisierter Güter werden als "Informations-" oder "Wissensarbeiter" oder, mit Robert Reich, als "Symbolarbeiter" bezeichnet. Ihre konkreten Tätigkeiten werden oft als "immaterielle Arbeit" aufgefasst (zur Kritik vgl. Argument 235/2000), ihre Produkte als "digitale" den "physischen Produkten" entgegengesetzt (Henkel).8 Die Beschäftigungsformen zumal der "Interpreneure" -- mehr oder weniger selbständiger, aufs Internet bezogen tätiger Geschäftsleute -- umfassen ein breites Spektrum von Mischformen (Reiss 2000). Grenzgestalt ist die von Postoperaisten wie Negri verklärte absurde Figur der "Selbstunternehmerisierung".9 Hinter mancher "interessanten Bezeichnung [...] würden sich dann möglicherweise die Sozialfälle von Unternehmen verbergen", frei nach der Formel "Net-Work oder Not-Work" (Reiss).

Die beschäftigungspolitischen Folgen des durchs Internet bewirkten Vernetzungs- und Reorganisationsschubs der Wirtschaft sind von Mythen umgeben wie alles an der Neuen Ökonomie und diese selbst es ist. Ulrich Klotz, der beim IG Metall-Vorstand für Forschungs- und Technologiepolitik zuständig ist, glaubt an eine Selbstvermehrung der "Informationsarbeit" (2000a). Zwar sieht er einerseits die Verknappung der Erwerbsarbeit: Das im herkömmlichen Sinn industrielle "Arbeitsvolumen schrumpft (trotz wachsendem Output) dramatisch"; andererseits glaubt er, dass sich die Arbeit im intellektuellen Bereich wie von selbst multipliziert: "Je mehr Menschen Wissen verarbeiten, je leistungsfähiger die IT-Systeme sind, desto mehr Rohstoff und Aufgaben für andere Wissensarbeiter entstehen dabei -- Arbeit erzeugt vor allem immer neue Arbeit." Unklar ist, ob er Arbeitsplätze meint oder die Entgrenzung des Arbeitstags der neuen Informationsarbeiter. Wie einmal die Einführung der Maschinenarbeit zur Verlängerung der Arbeitszeit geführt hat, so führt unter Bedingungen der Hochtechnologie "steigende Produktivität für viele Informationsarbeiter nicht zu kürzeren Arbeitszeiten, sondern -- im Gegenteil -- zu verschwimmenden Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, man ist sowohl hier wie dort mehr und mehr beschäftigt -- vor allem mit Informationen." (Ebd.) Die Rede ist von unbezahlten Überstunden.

Solches "Beschäftigungswunder" und dessen Subjekte preist Wirtschaftsminister Müller. Der "typische Neue-Markt-Arbeiter", der notfalls auch hundert Stunden die Woche arbeitet10, "ist zwischen 30 und 35 Jahren alt, gut ausgebildet und Metropolen-Mensch. [...] Jeder Zweite ist Naturwissenschaftler oder Techniker, die anderen Kaufleute oder EDV-Spezialisten" (Hoffmann 2000). Der Minister hält ihre Arbeitsplätze für sicher. "Obwohl die Börse häufig Achterbahn fährt, seien die >Beschäftigungseffekte ziemlich unabhängig von den KursschwankungenJeder ein UnternehmerTotal EntrepreneuringIch & Co.Selbst-Anstellungin jedem Beschäftigten einen Kleinstunternehmer, der seine Kompetenz und Kapazität auf einem Dienstleistungsmarkt und nicht auf dem herkömmlichen Arbeitsmarkt anbietet

10 Der transitorische Charakter der Extraprofite macht die kurze Zeit zum Markt zur langen Zeit der Arbeit: >Bei den Schöpfern digitaler Produkte sind deshalb Phasen mit Arbeitszeiten von 100 Stunden/Woche und mehr durchaus nicht ungewöhnlich.

11 Klotz sieht eine >globale Arbeitsteilungdie es heute beispielsweise einem koreanischen Autohersteller erlaubt, sich bei der Entwicklung eines neuen Sportwagens die Finanzierung aus Japan, das Design aus Italien sowie Motor und Getriebe aus Deutschland zu holenhappy few ist.

12 >Die ,,neue Wirtschaft" scheint am Ende vom Anfang zu steheneines der profitabelsten Stücke herausgebrochen und sich nur auf dieses konzentriert -- mit den bekannten Auswirkungen auf die Transaktionspreise und damit auf die Margen der traditionellen Banken

14 Die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung ist bereit, Rifkin seinen >Hang zum Schwarzmalendass kulturelle und soziale Beziehungen zu bezahlten Dienstleistungen mutierenan die Wurzeln der weiland Kritik an der ,,Konsumgesellschaft"Wie sich aus geografisch ehemals stabilen Märkten schwerelose Netzwerke herausbilden, wie sich die schleichende ,,Entmaterialisierung" des Geldes und des Besitzes vollzieht - Leasen statt kaufen, Nutzen statt besitzen - diese feinziselierte Beschreibung der ,,neuen Stufe des Kapitalismus" sucht ihresgleichen.

Die Seele des Marktes, die Konkurrenz, hat sich radikalisiert: "Wettbewerb [...] findet nicht mehr auf Märkten statt, sondern um Märkte." (Schmidt 2000a) Hat ein Konzern erst den Markt erobert, kontrolliert er auch den Preis. -- Rifkins Prognose wiederum ist so, als hätte Adam Smith vorhergesagt, künftig werde die Post an die Stelle des Marktes treten. Das Netzwerk ist vom Standpunkt der Ware-Geld-Beziehungen "ein neuer Vertriebskanal" (Jahn 2000), und "Markt" ist nicht der alte Wochenmarkt, sondern die Zirkulationsphäre. Diese existiert in Gestalt aller Medien und Modi, in denen Vermarktungsprozesse ablaufen und Angebot auf Nachfrage trifft. Auch wo Zugangsangebote auf Zugangsnachfrage treffen, ereignet sich Markt. "Das Geld hat nunmehr die Gabe der Allgegenwart" und macht die Welt zum "Megamarkt" (Marcos). Während Informatik und die integrierten Rechen- und Kommunikationsdispositive die Welt tendenziell verbinden, verfügt die herrschende Finanzmacht ihre Dislokation: Sie zerbricht sie in ein Puzzle, von dem jedes Teil wiederum ein Puzzle ist (ebd.).

Zum Puzzle anderer Art werden die Konzerne. Die Konkurrenz schlägt in die einzelnen Betriebsteile hinein. Die Konzerngrenzen werden durchlöchert durch Ware-Geld-Beziehungen wie einmal die Mauern der Ritterburgen. Der Betrieb muss nicht mehr nur als ganzer mit anderen Betrieben konkurrieren, sondern es ist, als löste die komparative Profit-Rationalität ihn in viele selbständige Betriebe auf. Die Abteilungen werden dem Wettbewerb mit außerbetrieblichen Angeboten ausgesetzt. Die Scheidelinie zwischen mehr und weniger Profit lässt die Bedeutung der Grenze zwischen Eigen- und Fremdbetrieben verblassen. Das Profitablere schlägt das weniger Profitable tot. Die killer appplications vermitteln auf andere Weise, was Marx in den Satz gegossen hat: "Je ein Kapitalist schlägt viele tot." (MEW 23, 790) Dabei hat sich der Wettbewerb zwischen den Unternehmen von den Gütermärkten auf die "Faktormärkte" ausgedehnt: Verschärft konkurriert wird "um die mobilen Produktionsfaktoren, um das mobile Kapital, das mobile technische Wissen und die hoch qualifizierten Arbeitskräfte" (Siebert). Andererseits macht das Internet neuartige Profitierungsnetze möglich. Das Wer-Wen des Totschlagens durch Konkurrenz modifiziert sich, wo kein Sieger in Sicht ist. Jetzt gilt die Maxime if you can't join them, beat them. "An die Stelle von Killerinstinkt und Hyperwettbewerb tritt die Strategie in Kooperationen, in Netzwerken, in Beteiligungen und in Allianzen." (Wildemann 2000)

Damit ändert sich der Modus des Transnationalen. Zunächst haben nationale Konzerne ihr Tätigkeitsfeld systematisch überall dorthin ausgedehnt, wo durch die Integration von EDV und Telekommunikation Faktoren- oder Absatzmärkte sprunghaft profitabler geworden waren. Vom Standpunkt der Operationen bedeutete Raum Zeit. Als die Technologie die Zeitdistanz irdischer Entfernungen maximal auf Sekunden reduziert hatte, wurde der Raum auf neue Weise operativ wichtig. Dingliche Güter und Dienstleistungen konnten nun zentral gesteuert und synchron in räumlicher Dispersion auf der Erdkruste erstellt werden. Anders als von den klassischen Imperialismustheorien beschrieben, richteten die Konzerne ihr Handeln an einer Geopolitik des Weltmarkts aus.

Wenn die erste Generation transnationaler Konzerne fälschlich "multinational" genannt worden ist, so wächst dieser Bezeichnung in der Zeit des Internet und der grenzüberschreitenden Unternehmenszusammenschlüsse eine begrenzte Sachhaltigkeit zu, wie sich etwa bei der Übernahme von Banker's Trust durch die Deutsche Bank oder bei der von Chrysler durch Daimler-Benz beobachten lässt. Entscheidend ist die qualitative Wandlung in der Aggregatform des Kapitals. Es ist, als strebte das Einzelkapital danach, unbeschadet des ökonomischen Bürgerkriegs der Kapitale zu einem beweglichen Profitzentrum innerhalb des prozessierenden Globalkapitals zu werden.

4. Die "Wertschöpfungskette" der Neuen Ökonomie

Die eigentliche Wertschöpfung verlagert sich, glaubt man der herrschenden Ideologie, ins Virtuelle des Internet. Ihr Subjekt wird als "das Wissen" beredet. "In einer Informationsökonomie wird Wert vor allem durch die Anwendung von Wissen vermehrt." (Klotz 2000a) Der Glaube an den "Werthebel Wissen" (ebd.) hat Züge der Autosuggestion. Dem münchner Betriebswirtschaftler Horst Wildemann verklärt sich Informationsverarbeitung zum "Wertschöpfungsinstrument schlechthin". Herstellungsprozesse stofflichen Reichtums sieht er zu "Selbstverständlichkeiten am Rande der wertschöpfenden Ereignisse" herabsinken, auf deren Kosten "der weiche Teil des wirtschaftlichen Geschehens einen immer höheren Teil der Wertschöpfung beanspruchen" wird (Wildemann 2000). "Wenn sich Unternehmen in der Zukunft an der höchsten Stufe der Wertschöpfung orientieren, werden die schweren Industrien der Vergangenheit gegen die Beherrscher der neuen Medien immer mehr abfallen." (Ebd.) Der produktive Stoffwechsel mit der Natur rutscht diesem Blick aus dem Brennpunkt an den Rand zur Irrelevanz. Das wiederholt in der Ideologie die Verlagerung naturnaher und arbeitsintensiver Produktionen in Billiglohnländer.

Es ist, als wären die bürgerlichen Ideologen des E-Commerce zum Postoperaismus konvertiert.1 Dass in den fortgeschrittensten Bereichen der Ökonomie, wie von Marx in den Grundrissen angekündigt, "das allgemeine Wissen zur unmittelbaren Produktivkraft geworden" ist (MEW 42, 602), wird dadurch zugleich registriert und verdunkelt, dass die Ökonomie als "Informationsökonomie" angesprochen wird. Dies ist doppelt paradox. Nicht nur wird der noch immer auf ständig erweiterter Stufenleiter sich reproduzierende produktive Stoffwechsel mit der Natur dadurch ausgeblendet. Und nicht nur wird durch die Fixierung aufs Geld der Blick blind für den stofflichen Reichtum, sondern der Sinn von Ökonomie mutiert. Die Ökonomie digitaler Güter erhält den Charakter einer polizeilich vor dem Markt geschützten Veranstaltung.

Eine Erinnerung an die Grundvoraussetzung bürgerlicher Ökonomie ist geeignet, dies zu zeigen. Seit Jahrhunderten versteht sie ihren Sinn als den eines "Wirtschaftens mit knappen Mitteln". Knappheit "ist Unterscheidungsmerkmal zwischen freien und wirtschaftlichen Gütern" (Geigant u.a. 1979, 362). Nun soll aber genau diese Knappheit bei den >InformationenÜbergang zwischen Nutzern2 Wie bei den ästhetischen Gebrauchswertmonopolen von Markenartikeln kann Knappheit hier nur künstlich, durch Gesetzgebung und Polizei aufrechterhalten werden. Dem juristischen Verstand erscheint daher das Urheberrecht als "der Schlüssel zur Informationsgesellschaft" (Ulmer-Eilfort 2000).3 In der Tat würden auf einem sich selbst überlassenen Markt bei >Informationsgütern

Kapitalistische Theorie unterscheidet sich in der Regel darin von Kapitalismustheorie, dass sie die betriebswirtschaftliche Kapitalpraxis nachbildet. Eine werttheoretische Analyse erscheint dann unnötig, weil betriebliche Kalkulation damit nichts anfangen kann. Die Betriebswirtschaftslehre schichtet wie jeder Geschäftsmann Kosten auf Kosten, um dann die Gewinnspanne daraufzuschlagen. Die Ausdrücke Wert und Mehrwert verwendet sie wie das Finanzamt, wenn es die Mehrwertsteuer erhebt. Wertabschöpfung unterscheidet sich vom Standpunkt des Wieviel nicht von Wertschöpfung. Wert gilt dann einfach gleich Preis, Mehrwert gleich Mehrpreis, d.h. gleich der Preisdifferenz zwischen Vorprodukten und dem jeweils neu zum Verkauf gelangenden Produkt. Mehrwert erscheint einfach als das Stück vom Kuchen des abstrakten Reichtums, das sich jemand in Ware-Geld- bzw. Dienstleistung-Geld-Transaktionen auf dem Markt über den Preis der Vorprodukte hinaus abschneidet. Da Geld aus der Zirkulationssphäre kommt, müssen nach vulgärökonomischem Adam Riese auch Wert und Mehrwert der Zirkulation entspringen. Auch wurde dem Abschöpfen seit je die Krone der Bereicherungswissenschaft verliehen. Auf diese Weise kann jedes Abkassieren, wenn es sich geschickt genug anstellt, als die wahre Wertvermehrung erscheinen. Jede Mieterhöhung kann so als Mehrwertschöpfung auftreten.

Wenn bei Formen "sekundärer Ausbeutung" (Marx) in Gestalt von Miet- oder Preiswucher niemand glauben würde, dass sie etwas anderes tun, als Wert abzuschöpfen, erhalten entsprechende Formen durch die betriebswirtschaftliche Sichtweise den Schein von Plausibilität. Unterm Begriff der "Transaktion" wirft die diese alle faux frais, die den Ware-Geld-Beziehungen und dem Konkurrenzkampf um die Käufergunst, sowie den Beziehungen zwischen den verschiedenen Kapitalklassen -- v.a. zwischen Finanz- und Industriekapital -- entspringen, mit Koordinations- und Kooperationskosten zusammen, die unter allen Umständen nötig wären, etwa Lagerverwaltung und Buchhaltung, von der Marx erwartet, sie werde bei gesellschaftlicher Produktion "wichtiger denn je". Vom Standpunkt der betrieblichen Verwertungspraxis erscheint dann etwa Warenästhetik als wertbildend. Der Aufwand für die Realisation des Werts erscheint als Aufwand für seine Kreation. Die Konkurrenz befestigt diesen Schein dadurch, dass sie solche faux frais4 zur Überlebensnotwendigkeit für die einzelnen Unternehmen macht. Andere Formen der Abschöpfung von Wert bedienen sich bewusst dieses Scheins, um sich ebenfalls als wahre Wertschöpfung zu verkleiden. Das führt zu der verrückten Erscheinungsform, dass Funktionen als Spitze der Mehrwertproduktion erscheinen, deren Spitzenlöhne in Wirklichkeit einen Abzug vom Mehrwert darstellen. Unter den "immateriellen Werten", von denen es heißt, sie -- und "immer weniger die realen Vermögenswerte" -- würden in der Neuen Ökonomie den Löwenanteil des Betriebswertes ausmachen, rangieren "qualifizierte und motivierte Mitarbeiter, gute Kunden- und Lieferantenbeziehungen, Markennamen, Know-how und vor allem die Fähigkeit, diese verschiedenen >Wertetreiber

Zugleich verwischt die herrschende Diktion diese Spur wieder. Wenn die Fixierung aufs Geld den Blick blind macht für die Gebrauchswertseite, den stofflichen Reichtum, so erscheint diesem Blick die Tauschwertseite, als wäre sie stofflich. Dieses Quidproquo liegt den als Theorie ausgegebenen Phantasien zugrunde, die den Geist unmittelbar und direkt Geld hecken lassen. Schon mit Adam Smith wäre dieser Glaube zu entkräften. Es ist wahr, dass stofflicher Reichtum "vor allem durch die Anwendung von Wissen vermehrt" wird (Klotz 2000a), doch soweit dies durch Produktivitätssteigerung erfolgt, sinkt der Wert des einzelnen Produkts, während die Wertsumme gleich bleibt. Schafft es ein Konzern dank rechtlicher, letztlich staatlicher Garantie geistigen Eigentums dennoch, über eine "Alleinstellung [...] das klassische Arsenal der Preisdifferenzierung im monopolistischen Wettbewerb" (Hutter 2000) aufzubieten, dann führt dies wie in einem System kommunizierender Röhren dazu, die Preise entsprechend woanders unter den Wert zu drücken. Den dieser Umverteilung zugrundeliegenden Mechanismus hat Marx im 3. Band des Kapital anhand der Bildung der Durchschnittsprofitrate dargestellt.

5. Widerspruch zwischen Informationsgütern und ihrer Wertform

Damit die Wert-Abschöpfung bei rein digital existierenden Produkten im Internet funktioniert, bedarf es einer Voraussetzung, die sie zugleich gefährdet, weil sie die Wertform dieser Produkte infragestellt. Dies lässt sich an der Übertragung digitalisierter Musik studieren. "Rio 300", ein Chip-Recorder, kam 1998 auf den Markt. "Damit schloss sich eine komplette, jederzeit und rund um den Globus verfügbare physikalische Kette von der digitalen Musikvorlage bis hin zum tönenden Ohrstöpsel"; doch "an dieser Art herrschaftsfreier Warendistribution" verdient die Industrie keinen Pfennig (Tunze 2000). Ökonomische Form und Gebrauchsgestalt der digitalisierten Ware widersprechen einander. Dass der Verkäufer einer Ware die verkaufte gleichwohl behält, scheint absurd. Was kein knappes Gut ist, kann nicht als Gegengabe für andere knappe Güter fungieren. "Aber ist die neue Ökonomie dann überhaupt noch eine?" (Kaube 2000b) Als Bewegungsform für diesen Widerspruch der digitalisierten Ware bildet sich eine Ökonomie der Zugangsbesteuerung oder des Abonnements heraus.

In der Frage des "Zugangs", nach Rifkin Nachfolgerin der Eigentumsfrage, überlagern sich zwei Fragen: der Zugang zum Netz überhaupt und Zugang zu bestimmten Archiven. Im "Kampf ums Netz" versuchen "sich ständig transformierende Konsortien aus Herstellern der Informationstechnologie, Netzprovidern und Banken" in Konkurrenz zu den privatisierten ehemals staatlichen Telefongesellschaften "bestimmte Übertragungsnetze unter ihre Kontrolle zu bringen"; als "zentraler Preis" bildet sich in diesem Kampf der Preis für den Netzzugang (Hutter). Da Neuzugänge keine zusätzlichen Kosten verursachen, tendiert er zunächst gegen "null oder eine Pauschalgebühr" (ebd.). Sobald aber ein "Gedränge" durch Überlastung entsteht, wird es lukrativ, privilegierte Zugangsmöglichkeiten zu verkaufen.

Entweder verbunden damit oder separat entwickelt sich die Preisform für den Zugang zu bestimmten Archiven. Die zuerst in den USA gemachte Entdeckung, dass mehr Geld gemacht werden kann durch niedrigeren Preis bei höherem Absatz, wird nun auf die Spitze getrieben. Kontrollierte Zugangsdispositive höchster Nutzerkapazität werden, falls sie ein begehrtes Gut bergen, zu sprudelnden Geldquellen. Jede Million Pfennige sind schließlich zehntausend Mark. So erhält die alte Form des Abonnements eine neue Funktion. Es verhilft dem an sich Wertlosen zur Preisform und schafft damit ein Instrument zum Werttransfer aus anderen Sphären, "höchste Stufe der Wertschöpfung" (Wildemann 2000) für die bürgerlichen Ökonomen.

Rifkin habe daher recht, meint Sandra Kegel: der Käufer werde sich in den Abonnenten auflösen, somit hebe sich der Markt im Netz auf. Aber das ist nicht zu Ende gedacht. Der Abonnent ist eine abgeleitete Käuferform. Der Zugang zu digitalisierten Gütern, den er kauft, ist freilich selbst keine Ware. Man vergleiche dies mit dem alten Lesezirkel. Hier wird der Wert der Lektürewaren auf eine Weise realisiert, die anstelle des Endverkäufers (Einzelhändlers) den Ringorganisator am Erlös teilhaben lässt. Von Aufhebung des Marktes kann dabei keine Rede sein. Im Gegenteil: Der den Widerspruch der Digitalware präfigurierende Widerspruch des Druckmediums, dass auf einen Käufer viele Leser kommen, findet hier eine Bewegungsform. Zeitungen, Zeitschriften, Bücher fungierten in der einen oder anderen Form von Anfang an als Gemeinschaftswaren (sharewares). Beim Lesezirkel fängt die Organisation einer Nutzungsgemeinschaft über ein Abonnement die Ausreißer wieder in die Wert- bzw. Warenform ein.

Ein Vorbild für die entsprechende Rückholung in die Warenform bei Distribution übers Internet ist das bei >Pay-TV5

Weil bei Digitalwaren die klassischen ökonomischen Prinzipien der Güterknappheit und der steigenden Grenzkosten nicht gelten -- Kopien sind unbegrenzt verfügbar und die Kosten fallen mit der Zahl der Kopien -- und statt dessen "Aspekte wie kritische Massen, Rückkoppelungsefekte, Systembindung und Standards über den Erfolg" entscheiden, macht sich die "Tendenz zu einem sogenannten natürlichen Monopol" geltend: "Der Hersteller mit dem größten Marktanteil hat die geringsten Kosten pro Kopie und wird daher den Markt temporär beherrschen" (Schmidt 2000a).

Wie schon einmal beim Lesering bietet nun das die Warengrenze transzendierende Muster der Gemeinschaftsware einen Ansatz zur Rückeroberung des Warencharakters. Dies lässt sich am Beispiel des "am schnellsten wachsenden Internetangebots aller Zeiten" (FAZ, 1.11.2000, 23), Napster, beobachten. Lässt sich die Warenform des betreffenden Gutes nicht mehr unmittelbar verteidigen, kann dies mittelbar geschehen, indem man das Zugangsrecht zur Beteiligung verkauft. Den Bertelsmannkonzern, gerade noch als Kläger gegen die >Piraterie

Die Erklärung für dieses Paradox lieferte der zwanzigjährige Napster-Mitgründer Sean Parker. Der Musikbranche legte er dar, warum sie ohne das Napster-Paradigma nicht mehr auskomme und wie sie mit seiner Hilfe "die Kosten senken und letztlich den Markt für Musikaufzeichnungen gewaltig ausweiten" und "aus den 40 Milliarden Dollar Jahresumsatz der Branche in kürzester Zeit 100 Milliarden Dollar" machen könne: Die Konzerne sind bloße "Marketingmaschinen"; sie müssen vermarktbare Künstler entdecken und tatsächlich vermarkten; nur ein Teil der von ihnen Lancierten kommt am Markt an. Ihren Gewinn machen die Konzerne mit nur 15 Prozent der Neuveröffentlichungen; es ist aber eine "kulturelle Tatsache", dass "die Menschen die Musik hören, die auch ihre Freunde hören". Der Clou ist folgender: Der Versuch der Konzerne, "eine neue Band ohne Rücksicht auf den kulturellen Kontext ihrer Musik durchzusetzen, gleicht dem Versuch, ohne Haken zu Angeln. Es bedarf eines kulturellen Wurms, damit potenzielle Fans den darin verborgenen, langfristig wirksamen emotionalen Haken entdecken." Er meint: damit sie den kulturellen Wurm schlucken, ohne den kapitalistischen Haken zu entdecken. Außer Kultur "wünschen die Nutzer auch sofortigen Genuss, leichte Bedienbarkeit und Sonderfunktionen aller Art". Die wichtigste dieser Funktionen besteht darin, dass man jederzeit sehen kann, was die Freunde gerade hören, überhaupt, was im Moment am meisten gehört wird. Mitläufer können sich immer sofort orientieren, wobei sie mitlaufen müssen. Mithörer werden immer das hören, was gerade am meisten gehört wird. So funktioniert eine Kontamination nach dem Schneeballsystem. Und einzig hier, im Virtuellen, wo die Ressource unbegrenzt ist, funktioniert dieser Effekt auf Dauer.

Das Napster-Prinzip schmiegt sich der Netzstruktur an: Die Gemeinschaftsware (shareware) wird von keiner Zentrale ausgeliefert, sondern liegt auf den Festplatten der Millionen PC der Klientel. Napster vermittelt nur zwischen ihnen. Diese Höhle des quasi kommunistischen6 Löwen, eine Position strategischer Vermittlung, konnte Bertelsmann erobern, weil längst der kapitalistische Wurm darin war. Schon zuvor nämlich hatten >Risikokapitalisten7, "zur Blaupause werden für alle zukünftigen Formen digitaler Ökonomie" (ebd.).

Doch der zu Veränderungen treibende Widerspruch der Digitalware ist damit noch nicht beruhigt. Wenn das Verlagswesen bei Verwertung des geistigen Eigentums der Autoren keine dinglichen Güter (Bücher, CDs, Videokassetten usw.) mehr herstellt und über den Einzelhandel vermarktet, dann schrumpft der Verleger zum bloßen Zwischenhändler, der zwar keine Einzelhändler mehr braucht, aber auch selbst überflüssig zu werden droht. Dass die Medienkonzerne ihre Interessen hinter denen der Künstler zu verstecken pflegen, wenn sie den >Schutz geistigen Eigentumsfür umsonstManagement der ErwartungenAnheizen der SpekulationUniversalmediumrealistischere6 Die "Todeslisten für Internetfirmen", die nach dem "haarsträubenden Einbruch" (NZZ, 20. April 2000) an den Technologiebörsen im Frühjahr 2000 zirkulierten, gaben einen Vorgeschmack. Plötzlich hieß es, dass "die Unterscheidung zwischen Old und New Economy für den Börsianer völlig irrelevant" sei (Fugger 2000).

Spekulative Investitionen von "Risikokapital" in großem Maßstab sind eine besondere Spielart von Kapitalvernichtung. Diese ist das komplementäre Gegenstück zum Extraprofit. In der Spekulation auf Extraprofit begibt anlagesuchendes Geldvermögen sich freiwillig in die Gefahr seiner Vernichtung. Wie die Lemminge stürzen sich in jeder Gründerzeit die kleinen Anleger in die mit Phantasie aufgeblasene Spekulation. Nicht jedes >individuelle

Anmerkungen

22 Antonio Negri meinte bereits 1977, dass die >Anihilationanfängt, zum realen Horizont zu werden

23 Z.B. werden Tintenstrahldrucker fast verschenkt, während die nur für die betreffende Marke bzw. das Modell passenden Kartuschen zum Monopolpreis verkauft werden.

24 Beim kombinierten Books-on-Demand-Verfahren stellt die Bilanz sich allenfalls dann günstiger dar, wenn damit überschüssige Produktion vermieden wird.

25 Vgl. den HKWM-Artikel >ExtraprofitSerielle Unternehmer

27 Zu dem von Norbert Bolz (1999) gezeichneten neuen Menschenbild merkt Jörg Ulrich (2000) an, es >hat etwas Hurenhaftes. ,,Ich bin ein Business." Alle sind tendenziell Dienstleister, und der Erfolg auf dem Multimedia-Strich hängt von der Qualität der Selbstinszenierung ab, von der verführerischen Aura, mit der der einzelne sich zu umgeben versteht.Sie wissen es nicht, aber sie tun es! Sie nehmen die gestaltete Oberfläche für die Sache selbst. Man nennt dies traditionellerweise Fetischismus. Der sich als solcher nicht wissende Fetischismus aber kennzeichnet nicht die Hure, sondern den Idioten.

pa NAME="P8_1873"/a 28 Incyte Genomics Inc. -- die Firma besitzt Patente auf 500 krankheitsrelevante menschliche Gene, die sie künftig verwerten will./p pa NAME="P9_3491"/a 29 >Unter jedem Stein glänzt ein Diamant. Unterwegs in das Jahrhundert der Naturforschungfiktives KapitalNach dem Börsenkrach von 1907 folgte dann in den zwanziger Jahren ein Börsenboom, der von einem Glauben an eine ,,new world of industry" und an eine ,,new world of distribution" getragen wurde. John Moody, der Gründer der nach ihm benannten Rating-Agentur, identifizierte 1928 ein ,,neues Zeitalter, [...] in dem sich die mechanistische Zivilisation [...] perfektionieren kann". Und nur zwei Wochen vor dem Börsenkrach von 1929 hielt dann der Ökonom Irving Fisher in New York seine berühmte Rede, in der er feststellte, dass ,,die Aktienpreise ein Niveau erreicht haben, das wie ein permanent hohes Plateau aussieht".frühen sechziger Jahren alles, was nach Elektronik rochBörsenlieblingenherrschte der sogenannte ,,tronics boom"; die damaligen (und heute natürlich längst wieder vergessenen) Highflyer hiessen unter anderem Astron, Transitron oder Supronics. Nach dem Platzen der ,,Tronics"- Blase ließen sich die Anleger scharenweise für Konglomerate begeistern, denen grosse Synergien zugemessen wurden. Und nach dem Einbruch dieses Luftschlosses stürzten sich die Anleger auf Aktien von Firmen, die ein ,,gutes Konzept" vorweisen oder eine ,,gute Geschichte" erzählen konnten. Danach kamen Anfang der siebziger Jahre die sogenannten ,,Nifty Fifty" (die feschen Fünfzig) groß in Mode. Diese Gruppe umfasste Publikumsgesellschaften, die schon eine hohe Kapitalisierung aufwiesen, doch eine Geschichte mit einem hohen und stetigen Gewinn- und Dividendenwachstum vorweisen konnten. Und in den Achtzigern und Neunzigern gingen dann die Fieberschübe wieder verstärkt vom Technologiesektor (nicht zuletzt auch vom Bereich der Biotechnologie) aus.

Solche Vernichtung von Geldvermögen ist nicht die einzige Form von Kapitalvernichtung. Ein konjunktureller Einbruch könnte nach Edward N. Luttwark durch die Reduktion der Aktienpreise auf die am Neuen Markt "üblichen Verhältniszahlen" zwischen Kurs und Gewinn ausgelöst werden: dabei würden, "vorsichtig geschätzt, mindestens fünf Billionen Dollar Liquidität aus der Weltwirtschaft verschwinden", und das allein in den USA, denen dann wie üblich die europäischen usw. Börsen folgen. "Das bedeutet weniger Buchgeld (das meiste davon existiert nur elektronisch), weniger reale Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern, Rückgang der Produktion und [...] der Beschäftigung -- alles ganz unvermeidlich, weil es eine Menge unproduktiver Investitionen gegeben hat, die man wird einstellen müssen: [...] in Tausende von Büros mit ihren Büromaschinen, in Internetsoftware, die niemand mehr haben will, und selbst in altmodische Fabriken, in denen die Ikonen unserer Zeit, die Computer und deren Zubehör, produziert werden." (Luttwark 2000) -- Unsinn, erwiderte Ben Goertzel: Zum Krach kann es nicht kommen, weil "die Internetphantasie am Aktienmarkt [...] auf einem kulturellen Optimismus [basiert], der das Netz nicht nur als technischen Fortschritt, sondern auch als neues gesellschaftliches Organisationsmodell begreift. Sofern dieser Optimismus berechtigt ist, wird das Internet immer mehr Ökonomie und Massenkultur dominieren." -- Was aber, wenn dieser Optimismus nicht vorhanden ist? Aus einer Umfrage des Allensbacher Instituts geht hervor, dass 71 Prozent der Deutschen zu diesem Zeitpunkt damit rechneten, dass die Gesellschaft kälter und egoistischer werde; mehr als die Hälfte befürchtete, dass sich in Zukunft nur noch die Starken durchsetzen könnten; nur 6 Prozent rechneten mit mehr Solidarität (FAZ, 16.8.2000).7 Goertzels Argumentation folgt der Maxime "Ödipus-Schnödipus, wann's nur dei Mutterl recht liab hast". -- Auch Luttwark glaubt, dass eine große Krise wie 1929 vermieden werden kann, dies aber nur deshalb, weil sich die Regierungen des Keynesianismus entsinnen werden. -- Als gälte es, dieser Versuchung beizeiten zu wehren, brachte die FAZ drei Tage später eine Abrechnung mit dem Keynesianismus (Richter 2000).8

Die Protagonisten der Internet-Ökonomie, die Produzenten der profitablen Geistesblitze, waren unter denen, die der Blitz des Marktes traf, als die Papiere am Neuen Markt deflationierten. Hatten sie doch niedrige Löhne in Kauf genommen und sich in Erwartung ständig steigender Kurse mit Aktienoptionen ihres Arbeitgeberbetriebs bezahlen lassen, des Glaubens, dass auch für sie "der Weg vom Mitarbeiter zum Millionär in kurzer Zeit machbar" sei (Mühlhaus 2000). Innerhalb weniger Monate, manchmal gleichsam über Nacht, ist als Folge der Kursstürze "die Wunderwaffe der New Economy [...] stumpf geworden" (ebd.).9 Als solche Wunderwaffe wirkten die Optionen in der >Faktoren-Konkurrenzalten Ökonomie10

Die Wirklichkeit war komplizierter, und das war der wunde Punkt: Die Unternehmen mussten gleichzeitig um Geldzufluss und um qualifizierte Arbeitskräfte konkurrieren, und es war der Erfolg in der Geldattraktion, der den Erfolg in der Arbeitsattraktion ermöglichte. Anleger und Angestellte mussten von ein und demselben Phantasma eingehüllt sein. Dann galt: "Mitarbeiterführung und Motivation zu Höchstleistungen funktioniert in der Online-Welt nach einer ganz einfachen Methode: Die Mitarbeiter werden über Optionsprogramme am Börsenerfolg ihres Unternehmens beteiligt"; sie verzichten dann auf Gehaltserhöhungen, obwohl unklar ist, was dabei herausspringt, "wenn erst einmal der aktuelle Börsenrausch für Dot.coms einer irgendwann anstehenden Ernüchterung gewichen ist" (Wildemann 2000). Mit der prompten Ernüchterung des Wunderglaubens sank "die Motivation der Beschäftigten, die so nicht gewettet hatten und sich auf dem Papier schon einmal reich wähnten" (ebd.). Andrew Ross fand bei der Untersuchung der Arbeitsverhältnisse in "Silicon Alley" -- einer der mehr als siebzig auf der Siliconia-Homepage verzeichneten Varianten von Silicon-Valleys, -Villages und -Vineyards bis hin zum Cyberabad --, dass die Arbeitskräfte "zur Hälfte Werkvertragsarbeiter [sind], die vor allem darauf hoffen, dass ihre Aktienanteile steigen. Das Durchschnittseinkommen liege mit 50 000 Dollar ungefähr bei der Hälfte dessen, was in den alten Medien verdient werde." (Schneider 2000) Sie bilden eine durch spekulative Hoffnungen verlockte "freiwillige Niedriglohn-Armee", für die "ausgerechnet Künstler mit ihrem flexiblen und selbstlosen Arbeitsethos das Rollenmodell [...] abgeben".

Bei der Optionsform des Lohns werden spekulative Zukunftserwartungen der Arbeitskräfte in der paradoxen Form von Nicht-Lohn kapitalisiert. Dies ist die neoliberale Karikatur des Keynesianismus auf einzelbetrieblicher Ebene: Wechsel auf künftige Gewinne -- bzw., noch luftiger, auf künftige Gewinnerwartungen, die das Börsenpublikum an den jeweiligen Betrieb heftet, so dass dessen Börsenkurse steigen -- dienen der Bestreitung gegenwärtiger Lohnkosten.

Ein Zusammenbruch der Spekulation bedeutet, selbst wenn er eine allgemeine ökonomische Krise auslösen sollte, noch lange nicht den Zusammenbruch des Kapitalismus. Vielleicht gehen aus einer schweren Krise Institutionen und Instrumente einer neuen Regulation hervor, Beginn eines neuen Akkumulationsregimes >relativ stabiler KrisenhaftigkeitSpitzenkräfteJanitorsSchulen ans Netz!Einkaufen per Mausklick!

Der Neue Markt ist das Neue Kleid des Kaisers Kapital. Ab und an verliert sich ein Kind in den Kreis seiner Anbeter und sagt unbefangen: Er hat ja gar nichts an. Oder mit der respektlosen Stimme von Franziska Augstein, die sich bei David Coates Rat geholt hat: "Die Wirtschaftstheorie ist ratlos, ihre Empfehlungen derzeit: diffus und vage -- womöglich noch diffuser und vager als das wilde Wünschen der Demonstranten in Seattle, Washington, London, Melbourne und Prag."

Literatur

(Abkürzungen: FAZ = Frankfurter Allgemeine Zeitung; NZZ = Süddeutsche Zeitung; SZ = Süddeutsche Zeitung)

Augstein, Franziska: "Wildes Wünschen", FAZ, 20.9.2000, 55

Beck, Hanno: "Auf der Suche nach der Neuen Welt. Der Mythos von der >New Economy