Monetäre Werttheorie. Geld und Krise bei Marx

in (03.06.2001)

Jede Diskussion des Stellenwerts, den die Marxsche Ökonomiekritik für eine Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus haben kann....

.... stößt zunächst einmal auf eine Reihe verfestigter Vorstellungen über "Marxismus" und die "ökonomische Theorie von Marx", die nicht nur die breitere Öffentlichkeit, sondern auch einen guten Teil der sozialwissenschaftlichen Debatten
beherrschen. Dabei verdanken sich diese Vorstellungen weniger einer Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk als vielmehr
der Wirkungsgeschichte der Marxschen Ideen in der Arbeiterbewegung.

Bereits mit den popularisierenden Spätschriften von Engels setzte in der Sozialdemokratie des späten 19. Jahrhunderts ein
Prozeß ein, in dessen Verlauf sich das unabgeschlossene Unternehmen der Marxschen Kritik in eine umfassende Weltanschauung
verwandelte, die ein Konglomerat aus bürgerlichem Fortschrittsdenken, simplifizierter Hegelscher Philosophie und
Versatzstücken Marxscher Begriffe darstellte. Diese Weltanschauung lieferte für die Propaganda der Arbeiterparteien
einfache Formeln und für die bildungshungrige aber von der (bildungs)bürgerlichen Welt weitgehend ausgeschlossene
Arbeiterbewegung geistige Orientierung. Ihre Fortsetzung und weitere Verflachung erfuhr diese Weltanschauung dann im
"Marxismus-Leninismus", der in der Sowjetunion seit den 30er Jahren zur bloßen Legitimationsideologie von Partei und Staat
verkam.1

Dieser weltanschauliche Marxismus der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung wurde seit den 20er Jahren
von verschiedenen Seiten in Frage gestellt. Mit den Arbeiten von Korsch (1923) und Lukács (1923) sowie der vom Frankfurter
Institut für Sozialforschung ausgehenden Kritischen Theorie nahm ein "westlicher Marxismus" (Anderson 1978) Gestalt an, der
eine der Ursachen für die Krise der Arbeiterbewegung in den Dogmatisierungen des traditionellen Marxismus erblickte.
Allerdings konzentrierte sich die Kritik in erster Linie auf dessen philosophische und geschichtstheoretische Grundlagen:
eine auf universale "Bewegungsgesetze" reduzierte Dialektik sowie den weit verbreiteten Geschichtsdeterminismus. Weitgehend
unkritisch wurde dagegen die ökonomietheoretische Seite des traditionellen Marxismus behandelt: Zwar wurde in den 20er und
30er Jahren heftig über tatsächliche oder vermeintliche Resultate der Marxschen Ökonomie debattiert (wie die
"Verelendungs-" oder die "Zusammenbruchstheorie"), der theoretische Raum aber, in welchem der traditionelle Marxismus die
"ökonomische Lehre von Marx" auffaßte, wurde auch vom "westlichen Marxismus" lange Zeit nicht hinterfragt. Und es ist
gerade dieser theoretische Raum, der auch heute noch die gängigen Vorstellungen von einer "marxistischen Ökonomie"
weitgehend prägt.

Konstitutiv für diesen theoretischen Raum ist die Verwandlung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in eine
politische Ökonomie, die das von der klassischen politischen Ökonomie abgesteckte Feld der Theoriebildung nicht
grundsätzlich verläßt. Marx gilt seit Engels und Kautsky als der große Ökonom der Arbeiterbewegung, der die
Arbeitswertlehre der Klassik übernahm, auf ihrer Grundlage die Ausbeutung der Arbeitskraft aufgezeigt und entgegen den
Harmonieversprechungen der bürgerlichen Ökonomie das periodische Auftreten von immer stärkeren Wirtschaftskrisen
nachgewiesen hat. Marx erscheint hier als der konsequenteste Vertreter der Klassik, ein grundsätzlicher kategorialer
Unterschied zu deren Analysen ist nicht mehr auszumachen.

Ein weiteres Moment ist mit dem traditionellen Verständnis von marxistischer Ökonomie in der Regel verbunden: Die Marxsche
Kapitalismuskritik wird als Kritik an "ungerechten" Verhältnissen aufgefaßt. Die Arbeitswertlehre erscheint als
Legitimation des Anspruchs der Arbeiter und Arbeiterinnen auf das gesamte Produkt, so dass die "Ausbeutung", von der Marx
spricht, zu einer Verletzung von elementaren Gerechtigkeitsforderungen wird. In dieser Perspektive besteht das größte
Defizit des Kapitalismus in einer falschen Verteilung, die dann entweder sozialstaatlich reformistisch oder revolutionär zu
verändern ist.

Und schließlich findet sich häufig ein Begriff von "bürgerlicher Ideologie", der diese als mehr oder weniger bewußte
Verschleierung der wirklichen Verhältnisse auffaßt. Die zentrale Aufgabe einer marxistischen Ideologiekritik besteht dann
in der Entlarvung: sie zeigt auf, wem diese oder jene Auffassung nützt. Zuweilen wird Ideologiekritik auch darauf
reduziert, eine Auffassung aus der sozialen Position ihres Autors abzuleiten. Resultiert "bürgerliche Ideologie" aus einem
bestimmten Standpunkt oder Interesse, so wird dies umgekehrt auch für den Marxismus in Anspruch genommen: er verdanke sein
"richtiges" Bewußtsein dem "Standpunkt der Arbeiterklasse" oder dem Interesse an einer Überwindung des Kapitalismus.

Anhaltspunkte für die skizzierten Auffassungen findet man zwar auch im Marxschen Kapital, allerdings läßt sich fragen, ob
ausgehend von den drei genannten Elementen der traditionellen Auffassung nicht wesentliche Gehalte der Kritik der
politischen Ökonomie verfehlt werden. Grundsätzlich in Frage gestellt wurde dieses traditionelle Verständnis einer
"ökonomischen Theorie von Marx" erst seit den 60er Jahren, als nicht zuletzt im Gefolge der studentischen Protestbewegungen
und beeinflußt von den philosophischen und methodologischen Ansätzen des "westlichen Marxismus" das Kapital in einer neuen
Perspektive gelesen wurde: Es wurde nicht nur nach den Resultaten der Marxschen Darstellung gefragt, jetzt wurde verstärkt
die methodische Struktur der Argumentation in den Blick genommen wurde. Dabei zeigte sich recht schnell, dass zwischen der
traditionellen Auffassung, die im Kapital vor allem die Darstellung einer Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus sah,2 und
dem Marxschen Anspruch einer kategorialen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise "in ihrem idealen Durchschnitt"
(MEW 25: 839) eine erhebliche Differenz existierte. Dieses Ergebnis wurde in ganz unterschiedlichen theoretischen Kontexten
formuliert: in Frankreich speiste sich die von Althusser (1965) und seinen Schülern geübte Kritik am "Historizismus" vor
allem aus dem Einfluß des Strukturalismus, während die verschiedenen Versuche einer Rekonstruktion der "Logik" des
Marxschen Kapital in der westdeutschen Diskussion (Backhaus 1969, Reichelt 1970, PEM 1973, Bader et al. 1974) stark von der
Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie beeinflußt waren.

Mit der Untersuchung des kategorialen Aufbaus der Marxschen Argumentation geriet auch bald der Marxsche Anspruch in den
Blick nicht einfach eine andere politische Ökonomie zu liefern (was in der traditionellen Auffassung ohne weiteres
unterstellt wird), sondern eine Kritik der politischen Ökonomie: Gegenstand dieses emphatischen Begriffs von Kritik sind
nicht nur einzelne Aussagen oder einzelne theoretische Ansätze, sondern die kategorialen Grundlagen, denen sich die
Ökonomie als Wissenschaft verdankt. Nicht bloß die Irrtümer einzelner Ökonomen, ihre spezifischen Aussagen über Wert und
Kapital sollen kritisiert werden, sondern die Art und Weise, in der Wert und Kapital überhaupt als Gegenstände ökonomischer
Wissenschaft formiert werden.3 Marx selbst hebt diesen Punkt immer wieder heraus, wenn er sich grundsätzlich auf die
Theoriebildung der Klassik bezieht:

"Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen
versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt" (MEW 23:
95, Herv. von mir).

Es sind also nicht allein die Resultate der Klassik, die Marx kritisiert, sondern ihre Fragestellungen bzw. das Fehlen
bestimmter Fragen, was anzeigt, dass ihr bestimmte Formen als derart natürlich gelten, dass sie überhaupt nicht mehr
hinterfragt werden müssen.

Eine solche Gegenstandsformierung kann aber nur dann unabhängig von den jeweiligen Fähigkeiten und Einsichten der einzelnen
Ökonomen sein, wenn sie sich selbst einem bestimmten objektiven Zusammenhang verdankt, der sie überhaupt plausibel macht,
ihr Evidenz verleiht. Es ist dieser Zusammenhang, den Marx als "Fetischismus" bezeichnet: die "verkehrten" Kategorien
erhalten ihre Plausibilität aus der Anschauung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, in welchem die Menschen ihre
gesellschaftlichen Beziehungen über Dinge vermitteln, so dass ihnen ihre eignen Beziehungen als Beziehungen von Sachen
erscheinen. Wenn Marx vom Fetischismus der Warenwelt spricht, so hat dies nichts mit der verbreiteten Rede von der
Undurchschaubarkeit der modernen Welt oder mit der Sehnsucht nach einfachen Verhältnissen zu tun. Vielmehr geht es um die
von der spezifischen Form des gesellschaftlichen Verkehrs selbst hervorgerufenen "objektiven Gedankenformen" (MEW 23: 90),
die sich als scheinbar natürliche Kategorien zur Analyse dieses Verkehrs anbieten, so dass dann umgekehrt diese spezifisch
gesellschaftlichen Verhältnisse als unabänderliche "Naturform" von Gesellschaft erscheinen. Kritik der politischen Ökonomie
impliziert damit stets auch Erkenntniskritik: Kritik an Bewußtseinsformen innerhalb deren Erkenntnis gewonnen wird.4

Die Analyse des Fetischismus beschränkt sich allerdings nicht auf den berühmten Abschnitt über den Fetischcharakter der
Ware aus dem ersten Band des Kapital, der häufig der ausschließliche Bezugspunkt entsprechender Debatten ist, sie zieht
sich durch alle drei Bände des Kapital hindurch. Fetischisiert sind sämtliche bürgerlichen Produktionsverhältnisse, so dass
Marx am Ende des dritten Bandes des Kapital von einer "verzauberten, verkehrten, auf den Kopf gestellten Welt" (MEW 25:
838) sprechen kann, in der sich die "Agenten" der bürgerlichen Produktionsweise (Arbeiter ebenso wie Kapitalisten)
bewegen.

Damit wird auch die oben angesprochene Auffassung von Ideologie hinfällig, die Ideologie lediglich als von einem bestimmten
Interesse ausgehendes falsches Bewußtsein auffaßt. Der bekannte Satz aus der Deutschen Ideologie, dass die Gedanken der
Herrschenden die herrschenden Gedanken seien (MEW 3: 46), blendet den entscheidenden Punkt gerade aus: die grundlegenden
"Verkehrungen" in der Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft werden überhaupt nicht bewußt produziert, ihnen unterliegen
zunächst einmal alle ihre Mitglieder. Marx stellt dies bei seiner Analyse der Lohnform besonders deutlich heraus: der Lohn
als "Preis der Arbeit" (statt als Preis der Arbeitskraft) sei ein "imaginärer Ausdruck", aber einer der aus den
Produktionsverhältnissen selbst entspringt (MEW 23: 559); auf der Lohnform aber, "beruhn alle Rechtsvorstellungen des
Arbeiters wie des Kapitalisten" (MEW 23: 562, Herv. von mir).5

Im Rahmen dieses Kritikkonzeptes ist dann auch eine Kritik am Kapitalismus aufgrund seiner "Ungerechtigkeit" nicht mehr
möglich. Vor allem die im Kapital zumeist nur noch indirekt oder in Fußnoten geführte Auseinandersetzung mit Proudhon macht
deutlich, dass Marx Gerechtigkeitsvorstellungen keineswegs aus dem von der bürgerlichen Gesellschaft produzierten
Verkehrungszusammenhang ausnimmt: Was als Prinzipien "ewiger Gerechtigkeit" erscheint, erhält seine Plausibilität nur unter
spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. z.B. MEW 23: 99, Fn 38; 613, Fn 24 und vor allem MEW 25: 351f), einer
rationalen Begründung sind Gerechtigkeitsnormen daher gar nicht zugänglich. Daher verzichtet Marx auch darauf, den
Kapitalismus als "ungerecht" zu kritisieren: Die Pointe der Marxschen Analyse des Austauschs zwischen Kapital und Arbeit
besteht ja gerade darin aufzuzeigen, dass die Aneignung von Mehrwert keineswegs die Verletzung der Gesetze des
Äquivalententausches zur Voraussetzung hat - was die moralische Kapitalismuskritik z. B. der Linksricardianer immer schon
unterstellt. Die verschiedenen Ansätze bei Marx doch noch eine irgendwie geartete moralische Kapitalismuskritik aufzufinden
(etwa bei Wildt 1986, 1997), begnügen sich in der Regel mit dem Versuch, einzelne Argumentationsstränge als moralisch
nachzuweisen, ohne sich jedoch mit der bei Marx angelegten grundsätzlichen Kritik an der Möglichkeit der Begründung
moralischer Urteile überhaupt auseinanderzusetzen (vgl. zur Kritik an solchen Versuchen u.a. Haug 1986, Heinrich 1999:
372ff).

Dass Marx den Kapitalismus ablehnt ist unbestritten, nur begründet er diese Ablehnung nicht mit Hinweis auf irgendwelche
moralischen Grundsätze, denen doch alle zustimmen müßten. Vielmehr will er mit seiner Analyse des Kapitalismus aufzeigen,
dass sich die als Verwertungsprozeß organisierte Produktion zwangsläufig (also unabhängig vom Wollen des einzelnen
Kapitalisten) auf Kosten der Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen, entwickelt, unabhängig davon ob die Löhne
hoch oder niedrig sind (vgl. etwa MEW 23: 449; 529f; 674f). Daraus schöpft Marx die Hoffnung, dass diese den Kapitalismus
eines Tages abschaffen werden: nicht weil sie im Kapitalismus irgendeine normative Grundlage verletzt sehen, sondern weil
sie ein Interesse an einem guten Leben haben, das sich unter der Herrschaft des Kapitals nicht realisieren läßt.

2. Wert und Geld

In der Lesart des traditionellen Marxismus wird die Marxsche Werttheorie im Grunde als bloße Arbeitsmengentheorie
aufgefaßt: das Entscheidende ist hier, dass die Werte der Waren durch die bei ihrer Produktion verausgabten Arbeitsmengen
bestimmt seien. Ein grundsätzlicher kategorialer Unterschied zur Arbeitswerttheorie der klassischen politischen Ökonomie
kann dabei nicht ausgemacht werden, die Marxsche Arbeitswertlehre erscheint lediglich als eine Präzisierung der
klassischen: so etwa wenn Marx festhält, dass nur die bei einem bestimmten Stand der Technik "gesellschaftlich notwendige
Arbeitszeit" wertbildend sei und insofern er zwischen "konkreter" (gebrauchswertschaffender) und "abstrakter"
(wertbildender) Arbeit unterscheidet. Mit der Bestimmung der Wertgröße durch Arbeitszeit ist sowohl für einen Großteil der
marxistischen Tradition wie auch für die herrschende Volkswirtschaftslehre der theoretische Kern der "Marxschen
Arbeitswertlehre" umschrieben.

Geld spielt in dieser Auffassung de facto keine tragende Rolle. Die Marxsche Geldtheorie wird im wesentlichen auf die
Untersuchung der verschiedenen Geldfunktionen reduziert. Die werttheoretische Bedeutung des Geldes, wie sie Marx im
Abschnitt über die Wertform und im Kapitel über den Austauschprozeß untersucht, wird weitgehend ignoriert: vielen Autoren
gilt die Wertformanalyse lediglich als geraffte Nacherzählung der historischen Herausbildung des Geldes. Geld selbst wird
in dieser Sichtweise der Marxschen Werttheorie im Grunde auch nicht anders behandelt als in Klassik und Neoklassik, nämlich
als ein Mittel zur Vereinfachung des Tausches. Für die Werttheorie selbst scheint Geld aber nicht weiter von Bedeutung zu
sein.6

Faßt man die Marxsche Werttheorie in der skizzierten Weise als nicht-monetäre Arbeitsmengentheorie des Werts auf, dann ist
die von den meisten nicht-marxistischen Ökonomen vertretene Ansicht, Marx sei der letzte große Vertreter der klassischen
politischen Ökonomie, keineswegs unplausibel. Viele marxistische Autoren setzen dem entgegen, dass Marx im Unterschied zur
Klassik den bloß historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise erkannt habe; ist dies aber
der zentrale Unterschied zwischen Marx und der Klassik, dann besteht ihre Differenz lediglich in der Interpretation der
Ergebnisse der Theorie, aber gerade nicht in den kategorialen Grundlagen der Theoriebildung.

Marx gilt der herrschenden Volkswirtschaftslehre aber nicht nur deshalb als überholt, weil er der längst überwundenen
Klassik zugerechnet wird; der zentrale Einwand gegen die Marxsche Arbeitswerttheorie lautet, sie sei am
"Transformationsproblem" gescheitert: die von Marx im dritten Band des Kapital dargestellte Umrechnung von reinen
Arbeitswerten in "Produktionspreise" (d.h. Preise, die eine für alle Kapitale gleich große "Durchschnittsprofitrate"
ermöglichen), sei mit fundamentalen Fehlern behaftet und in der Tat scheint jede Arbeitsmengentheorie des Werts hier vor
erheblichen Problemen zu stehen.7

Die skizzierte Auffassung der Werttheorie als Arbeitsmengentheorie reduziert die Aufgabe der Werttheorie darauf, den
Bestimmungsgrund der relativen Preise anzugeben. Insofern stellt sie genau die selbe Frage wie Klassik und Neoklassik.
Würde sich die Marxsche Werttheorie tatsächlich auf eine solche Arbeitsmengentheorie reduzieren, wäre sie in der Tat im
selben theoretischen Raum angesiedelt wie Klassik und Neoklassik; der Anspruch der Marxschen Kritik, nicht nur die
Resultate der bürgerlichen Ökonomie zu kritisieren, sondern die kategorialen Grundlagen, auf denen diese Resultate gewonnen
wurden, wäre dann nicht einzulösen.

Nun finden sich bei Marx selbst zwar eine ganze Reihe von Argumentationsansätzen, die im Sinne einer Arbeitsmengentheorie
des Werts verstanden werden können (insbesondere seine Behandlung des Transformationsproblems im dritten Band des
Kapital),8 allerdings besteht der zentrale Impetus der Marxschen Werttheorie gerade in der Kritik der prämonetären
Arbeitsmengentheorie der Klassik.9 Dieser Impetus wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Marx die
werttheoretischen Defizite der Klassik bestimmt. So billigt er Ricardo zwar zu, dass er konsequenter als alle seine
Vorgänger Wert durch Arbeit bestimmt habe, doch zugleich wirft er ihm vor,

"den Charakter dieser Arbeit untersucht Ricardo nicht. Er begreift daher nicht den Zusammenhang dieser Arbeit mit dem Geld
oder, daß sie sich als Geld darstellen muß" (MEW 26.2: 161, Herv. im Original).

Den Zusammenhang "dieser Arbeit" (nämlich der abstrakten, wertbildenden Arbeit) mit dem Geld nicht verstanden zu haben,
bzw. überhaupt nicht nach diesem Zusammenhang zu fragen, kann man auch dem traditionellen Marxismus vorwerfen.

Worin besteht nun das von Marx angesprochene Problem? Die einzelnen Warenproduzenten verausgaben ihre Arbeit privat und in
einer bestimmten konkreten Art und Weise. Erst im Nachhinein, in der Gleichsetzung im Tausch verwandelt sich Privatarbeit
in gesellschaftliche Arbeit, wird konkrete Arbeit zu abstrakter, wertbildender Arbeit. Die Frage, wie diese Gleichsetzung
überhaupt möglich ist, spielt aber weder in der bürgerlichen Ökonomie, noch im traditionellen Marxismus eine zentrale
Rolle, allenfalls werden ihre quantitativen Aspekte diskutiert. Für den traditionellen Marxismus scheint die Reduktion der
individuell verausgabten Arbeitszeit auf "gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit" bereits für diese gleiche Geltung
auszureichen, obwohl damit erst eine Standardisierung innerhalb einer einzelnen konkreten Produktionssphäre angesprochen
ist, aber noch längst nicht die gleiche Geltung verschiedener konkreter Arbeiten im Tausch.

Die einzelnen Arbeiten beziehen sich im Tausch nicht unmittelbar aufeinander, aufeinander bezogen werden die Waren. Gleiche
Geltung erlangen die Waren als von ihrer Gebrauchsgestalt unterschiedene "Werte". Hier stellt sich wieder die selbe Frage,
wie können die unterschiedlichen Gebrauchswerte, die sich im Tausch gegenüberstehen, als gleichartige Werte gelten? Die
Antwort, die Marx im Rahmen seiner Wertformanalyse entwickelt, lautet: die besonderen Waren in ihrer unterschiedlichen
Gebrauchswertgestalten, können sich nur als Werte aufeinander beziehen, wenn es etwas Drittes gibt, das als unmittelbarer
Ausdruck von Wert gilt, und sich die besonderen Waren auf dieses Dritte als ihren Wertausdruck beziehen können. Nur
vermittels dieses Bezugs auf ein Drittes, das unmittelbar als Wert gilt, können sich die besonderen Waren auch auf einander
als Werte beziehen. Durch den bloßen Tausch zweier Produkte wird noch kein gesellschaftlich gültiges Wertverhältnis
konstituiert. Dieses existiert erst dann, wenn sich die beiden Produkte auf einen gesellschaftlich gültigen Ausdruck von
Wert beziehen können - auf ein "allgemeines Äquivalent". Derjenige Gegenstand, der die Rolle des "allgemeinen Äquivalents"
spielt - ist Geld.

Der Unterschied zur Wert- und Geldtheorie von Klassik und Neoklassik (wie auch der "Arbeitsmengentheorie" des
traditionellen Marxismus) ist also ein doppelter. Zum einen läßt sich Wert gerade nicht als substanzialistische Eigenschaft
an der einzelnen Ware festmachen,10 Wert existiert nur in der Beziehung von Ware auf Ware und diese Beziehung ist in ihrer
Allgemeinheit nur möglich durch die Beziehung von Ware auf Geld. Zum anderen ist aber auch Geld weit mehr als eine bloße
Recheneinheit. Der Formunterschied von Ware und Geld ist fundamental: Waren sind Gebrauchswerte, die auch Wert besitzen.
Das Ding, das als Geld fungiert, gilt hingegen als unmittelbare Verkörperung von Wert, es ist in seiner Besonderheit Wert.
In der Erstauflage des Kapital hatte Marx dafür einen anschaulichen Vergleich gewählt:

"Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, die gruppirt die verschiednen
Geschlechter, Arten, Unterarten, Familien u.s.w. des Thierreichs bilden, auch noch das Thier existirte, die individuelle
Incarnation des ganzen Thierreichs." (MEGA II.5: 37, Herv. im Original)

Müssen sich die Waren, insofern sie als Wertgegenstände gelten sollen, auf Geld beziehen, dann heißt dies für die Waren
produzierende Arbeit: sie kann nur dann wertbildende "abstrakte" Arbeit sein, wenn sie sich, wie Marx gegen Ricardo
hervorhebt, "in Geld darstellt". Geld ist für Marx daher die "unmittelbare Existenzform" der abstrakten Arbeit (MEW 13:
42), anders als in Geld läßt sich abstrakte Arbeit gar nicht ausdrücken. Dies ist auch der Grund, warum die unmittelbare
Arbeitszeitrechnung der verschiedenen "Stundenzettler", gegen die Marx sich wendet, unmöglich ist.11

Geld ist für Marx also weit mehr als nur das Rechen- und Zirkulationsmittel, als das es von Klassik und Neoklassik
aufgefaßt wird. Es ist das notwendige Medium der Vergesellschaftung atomisierter Warenproduzenten: nur mittels der
sachlichen Gestalt des Geldes können sie sich auf einander beziehen. Diesen von Marx herausgestellten Zwang der
ökonomischen Verhältnisse sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, wird von Klassik und Neoklassik in der Tradition der
bürgerlichen Vertragstheorien zum Resultat intentionalen und rationalen Handelns umgedeutet: die Warenbesitzer tauschen
ihre Waren in bestimmten Relationen, weil diese Waren für sie bestimmte Arbeits- bzw. Nutzenmengen verkörpern, sie
verwenden Geld, weil es den Tausch erleichtert ("die Transaktionskosten senkt") etc. Da Geld somit keine eigenständige
Bedeutung hat, sondern lediglich als eine technische Erleichterung des Tausches gilt, betrachten Klassik und Neoklassik
monetäre Größen daher auch nur als "Schleier", der über der "Realsphäre" von Arbeitsmengen und Kapitalgütern liegt, und von
dem auf einer grundsätzlichen theoretischen Ebene abstrahiert werden kann.

Die eigenständige Bedeutung des Geldes (seine "Nicht-Neutralität" im Jargon der modernen Ökonomie) zeigt sich für Marx
nicht nur darin, dass nur durch den Bezug auf Geld ein kohärenter gesellschaftlicher Zusammenhang zwischen den vielen
verschiedenen Privatarbeiten hergestellt werden kann, die Vermittlung dieses Zusammenhangs durch Geld schließt auch die
Möglichkeit ein, diesen Zusammenhang zu zerstören. Im Unterschied zum unmittelbaren Produktentausch, der sich in einem Akt
erschöpft, zerfällt die "Metamorphose der Ware" in die beiden getrennten Akte W-G und G-W, die sich gegeneinander
verselbständigen können: Verkauf ohne nachfolgenden Kauf, um das Geld als selbständige Wertgestalt festzuhalten, womit der
Zusammenhang der gesellschaftlichen Reproduktion zerrissen wird. Mit Geld ist daher die "Möglichkeit der Krise" (MEW 23:
128) gegeben, in der (notwendigen) Existenz des Geldes sieht Marx die Widerlegung des "Sayschen Theorems" begründet, auf
das die Klassik (wie auch die Neoklassik) ihre Behauptung stützt, eine Marktwirtschaft sei im Prinzip (sofern keine
Störungen von außen kommen) krisenfrei: die postulierte Krisenfreiheit verdankt sich der Fiktion einer nicht-monetären
Ökonomie (vgl. auch MEW 26.2: 501ff).

Nach Marx war es erst wieder Keynes, der bei seinem Versuch eine "monetäre Theorie der Produktion" zu entwickeln, Geld eine
ähnlich zentrale Rolle zuwies und ebenfalls das Saysche Gesetz als eines der zentralen Bestandteile der von Klassik und
Neoklassik attackierte. Dabei argumentierte er allerdings ohne werttheoretische Grundlage, sozusagen aus der Perspektive
der "fertigen Phänomene", die sich für Marx erst als Resultat am Ende seiner Darstellung ergeben. Nicht zuletzt deshalb war
es dem Mainstream der Keynes-Interpreten recht schnell möglich Keynes' grundsätzliche Kritik an der Neoklassik zu
entschärfen und im Rahmen der "neoklassischen Synthese" sogar in das neoklassische Paradigma zu inkorporieren (vgl. dazu
den Beitrag von Hansjörg Herr in diesem Heft).

Die Marxsche Geldauffassung weist allerdings auch einen bedeutenden Defekt auf, da Marx davon ausgeht, dass Geld
grundsätzlich an eine Geldware gebunden sein muss. Zwar sieht auch Marx, dass die Geldware in der Zirkulation durch
Wertzeichen ersetzt werden kann, doch faßt er diese Wertzeichen als bloße Vertreter der Geldware auf. Spätestens seit dem
Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods in den frühen 70er Jahren kann man jedoch nicht mehr davon sprechen,
dass das kapitalistische Geldsystem in irgendeiner Weise von einer Geldware abhängt. Wird nun eingewandt, dass Marx das
Geldsystem seiner Zeit (das auf einer Geldware beruhte) analysiert habe und sich dieses System im Verlauf der weiteren
Entwicklung eben von der Geldware löste, dann reduziert man die Marxsche Analyse doch wieder auf die Untersuchung einer
bestimmte Phase des Kapitalismus, entgegen seinem eigenen Anspruch die kapitalistische Produktionsweise "in ihrem idealen
Durchschnitt" darzustellen.12

Allerdings ist das Marxsche Beharren auf der Existenz einer Geldware keineswegs zwingend: aus der Wertformanalyse folgt
streng genommen nur dass die Warenwelt einen selbständigen Wertausdruck benötigt, dass - wie das oben zitierte
Tier-Beispiel deutlich macht - die Gattung zugleich als Individuum existieren muß. Genausowenig wie aber "das Tier" als ein
besonderes Individuum tatsächlich neben den konkreten Tieren existieren kann, kann auch Wert als solcher unmittelbar
existieren, beide können nur durch ein besonderes Individuum bezeichnet werden. Ob dieses Individuum jedoch selbst ein
Mitglied der Gattung sein muß, die es bezeichnet, oder ob etwas anderes als ein solches Zeichen dient, ist eine ganz andere
Frage, die sich auf der Ebene der einfachen Zirkulation überhaupt nicht entscheiden läßt. Bei der Analyse des Kreditsystems
im dritten Band des Kapital drängen sich dann allerdings Argumente auf, die dafür sprechen, dass einem entwickelten
kapitalistischen System nur ein Zeichengeld adäquat sein kann.13 Marx geht diesen Argumenten aber nicht nach, da er von der
Notwendigkeit der Anbindung des Geldsystems an eine Geldware überzeugt ist. Entgegen Marx' eigener Überzeugung läßt sich
der Zusammenhang von Ware und Geld auf der von ihm gelieferten Grundlage aber auch ohne Geldware entwickeln.14

Die Bedeutung des Geldes beschränkt sich im Kapital nicht auf den im Rahmen der Wertformanalyse entwickelten Zusammenhang
von Wert und Geld sowie die anschließende Darstellung der Geldfunktionen, sie durchzieht die Argumentation in allen drei
Bänden. Kapital als sich verwertender Wert wird von Marx über die Formel G-W-G' eingeführt. Zentral für die Kapitalbewegung
sind nicht wie in Klassik und Neoklassik physische Kapitalgüter, sondern zunächst einmal Geldvorschüsse. Da Marx dann
jedoch zunächst den "Produktionsprozeß des Kapitals" untersucht und die vermittelnden Zirkulationsakte lediglich
unterstellt, konnte der Eindruck entstehen, dass er eine nicht-monetäre Akkumulationstheorie entwickelt, wo es doch wieder
nur auf die "Realsphäre" der Güter ankäme.15 Allerdings beschränkt sich die Analyse der Akkumulation nicht auf den ersten
Band: im zweiten und dritten Band spielt entsprechend den jeweiligen Darstellungsebenen die monetäre Seite dann auch wieder
eine entscheidende Rolle.

So hält Marx bei der Untersuchung des Gesamtreproduktionsprozesses im zweiten Band des Kapital fest, dass der Mehrwert nur
realisiert werden kann, wenn die Kapitalisten sich die dafür nötige Geldmenge wechselseitig vorschießen. Es muß also ein
"Schatz" bei einem Teil der Kapitalisten vorhanden sein, um den Mehrwert des anderen Teils zu realisieren. Ist dies erfolgt
und der Schatz nun in der Hand anderer Kapitalisten, so sind diese in der Lage den Mehrwert der ersten Kapitalisten zu
realisieren, der Schatz ist damit auch wieder in der ursprünglichen Hand. Dass Marx an dieser Stelle mit der
anachronistischen Vorstellung eines "Schatzes" statt mit Kreditverhältnissen argumentiert, liegt an der Systematik seiner
Darstellung: der Kredit wird erst später (nach der Kategorie des Durchschnittsprofits) entwickelt. Berücksichtigt man dies,
dann wird deutlich, dass Marx im Grunde genommen gezeigt hat, dass Kreditverhältnisse zur kapitalistischen Produktion nicht
als äußerliche Momente hinzukommen, sondern dass der kapitalistische Reproduktionsprozeß ohne Kredit überhaupt nicht
möglich ist, woraus dann unmittelbar folgt, dass der Umfang des Kredits auch den Umfang der Reproduktion, d.h. die
Akkumulation beeinflußt.16

Genausowenig wie auf der Ebene der einfachen Zirkulation Geld eine bloße Zutat zur Welt der Waren war, ist es der Kredit
auf der Ebene der kapitalistischen Zirkulation - der monetäre Charakter der Werttheorie macht sich auch hier geltend. Die
zentrale Stellung des Kreditsystems wird im dritten Band des Kapital deutlich.17 Marx behandelt das Kreditsystem hier
geradezu als Steuerungszentrum kapitalistischer Produktion (nicht im Sinne einer bewußten Steuerung, sondern einer
Hierarchie der Vermittlungsebenen), wenn er betont, der Ausgleich der Profitraten, in dem sich der gesellschaftliche
Charakter des Kapitals darstellt, "wird erst vermittelt und vollauf verwirklicht durch volle Entwicklung des Kredit- und
Banksystems" (MEW 25: 620; vgl. auch 451).

Insofern steht die von Keynes herausgestellte "Hierarchie der Märkte" (der Zins des Kapitalmarkts restringiert die
Investitionen, der Umfang der Investitionen bestimmt Güter- und Arbeitsmarkt) auch nicht im Widerspruch zur Marxschen
Theorie.18 Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied in den Argumentationsebenen: Keynes untersucht immer schon
Wirkungszusammenhänge auf der Ebene des "Gesamtprozeßes der kapitalistischen Produktion" (so der Untertitel des dritten
Kapital-Bandes), während Marx zunächst die Kategorien (Profit, Durchschnittsprofit, Zins etc.), die auf dieser Ebene
relevant sind, werttheoretisch begründet.19

Die Marxsche Analyse des Kreditsystems macht aber noch etwas ganz anderes deutlich: mit dem Kredit ist eine neue Stufe in
der Verselbständigung des Werts erreicht. In der einfachen Zirkulation stand Geld als selbständiger Ausdruck von Wert der
Welt der Waren gegenüber. In der allgemeinen Formel des Kapitals G - W - G' bezog sich der Wert bereits nur noch auf sich
selbst: aus Wert sollte mehr Wert werden. Möglich war dies aber nur durch einen die Verwertung vermittelnden Produktions-
und Zirkulationsprozeß, so dass die vollständige Formel lautet:

G - Ak, Pm ....... P ....... W' - G'

(mit Ak für Arbeitskraft, Pm für Produktionsmittel und P für Produktionsprozeß). Im Kredit erscheint dieser Prozeß nur noch
als G - G' hier scheint sich Geld (als selbständiger Ausdruck von Wert) unmittelbar auf sich selbst zu beziehen, ohne jede
weitere Produktion und Zirkulation.20 Allerdings entwickelt das Kreditsystem seinen eigenen Produktions- und
Zirkulationsprozeß. Bereits als zinstragendes Kapital wurde Geld zu einer "Ware sui generis": es erhält einen spezifischen
Gebrauchswert, nämlich als Kapital fungieren und so in einem bestimmten Zeitraum einen Profit erzielen zu können; und im
Hinblick auf diese Eigenschaft erhält es einen spezifischen Preis, den Zins, sowie eine spezifische Zirkulationsbewegung,
einen auf einen bestimmten Zeitpunkt terminierten Rückfluß. In einem entwickelten Kredit- und Bankensystem werden diese
Kreditverpflichtungen (also bloße Ansprüche auf künftige Zins- und Tilgungszahlungen) nun ihrerseits zu verkäuflichen
Waren, deren Preis mit dem Verhältnis von Marktzins und vereinbartem Zins erheblichen Schwankungen unterliegt. Ähnliches
gilt für Aktien, die zunächst einmal nur einen Anspruch auf einen bestimmten Anteil am Gewinn des jeweiligen Unternehmens
darstellen. Auch dieser Anspruch kann verkauft werden, wobei sein Preis von der Gewinnerwartung und dem Zinsniveau bestimmt
ist. Hier setzt nun ein "Produktionsprozeß" ein (der in der historischen Entwicklung immer neue "Finanzinnovationen"
hervorbringt), in dem nicht nur solche Ansprüche (auf künftige Zinsen oder Profite) verkauft werden, sondern auch Ansprüche
auf Ansprüche (Optionen etc.) entwickelt werden, die ihrerseits in ganz unterschiedlichen Weisen verkauft und verliehen
werden können (so dass sich das Kreditsystem auch noch ganz eigene Zirkulationsprozesse schafft). Diese spezifischen
"Waren", die nichts anderes als Ansprüche auf künftige Zahlungen darstellen, bilden die Grundlage des vom industriellen
Kapital zu unterscheidenden "fiktiven Kapitals", mit dem Marx diese Verhältnisse begrifflich zu erfassen sucht.21
"Spekulation", d.h. das Spiel mit Erwartungen, ist hier kein Abweg, keine Degeneration, sondern der normale, ja der
überhaupt einzig mögliche Umgang mit fiktivem Kapital. Ebenso normal sind auch die Hausse und der nachfolgende Crash.

3. Gleichgewicht und Krise

Die meisten modernen ökonomischen Theorien egal ob sie neoklassischer oder keynesianischer Provenienz sind, gehen von
Gleichgewichtsmodellen aus: im Gleichgewicht (so die übliche Definition) werden die Pläne aller Akteure erfüllt, niemand
hat daher eine Veranlassung sein Verhalten zu ändern. Ohne Störung "von außen" sollte das gleichgewichtige System stabil
sein. Zwar sieht auch die moderne Ökonomie, dass kapitalistische Systeme alles andere als gleichgewichtig sind.
Gleichgewichtsmodelle sollen jedoch als Referenzgröße für das Verständnis der wirklichen Entwicklung dienen. In der Regel
kommt die Theoriebildung dann aber gar nicht bis zur Untersuchung von dynamischen Prozessen, sondern bleibt allenfalls bei
komparativer Statik stehen: es werden lediglich zwei verschiedene Gleichgewichtszustände miteinander verglichen, über den
Weg von einem Gleichgewichtszustand zum anderen kann gleichwohl nichts ausgesagt werden, da dieser über ungleichgewichtige
Konstellationen verläuft, die sich der Theoriebildung entziehen.22 Auch die gängigen "Wachstumstheorien" sind nicht
wirklich dynamisch, unterstellen sie doch ein "gleichgewichtiges" Wachstum, bei dem die zukünftige Entwicklung bereits
feststeht, sofern sie nicht "von außen" gestört wird.

Theoretisch relevante Versuche Kategorien zur Untersuchung von dynamischen Prozessen zu entwickeln, wurden von Schumpeter
und Keynes unternommen. Allerdings blieb Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung für die ökonomische
Theoriebildung weitgehend irrelevant (auch wenn die Rede vom innovativen "Schumpeterschen Unternehmer" inzwischen weit
verbreitet ist), und das Keynessche Konzept einer vom bloßen Risiko (dem man mit der Wahrscheinlichkeitstheorie beikommen
kann) unterschiedenen "Unsicherheit" (die sich einer derartigen Berechnung entzieht) wurde in den dominierenden
Keynes-Interpretationen unterschlagen, es spielte erst wieder in einigen "postkeynesianischen" Ansätzen eine Rolle (vgl.
Herr in diesem Heft).

Bei Marx ist die Dynamik bereits in den Kapitalbegriff eingelassen: Kapital als sich verwertender Wert kennt kein
immanentes Maß, Kapitalverwertung ist ein ebenso maßloser und wie endloser Prozeß (MEW 23: 166f), der sowohl auf eine
beständige Erhöhung des Grades der Verwertung (Steigerung der Mehrwert- bzw. Profitrate) als auch auf die Größe des zu
verwertenden Kapitals abzielt. Auf dieser Grundlage bestimmt Marx dann verschiedene, der kapitalistischen Produktionsweise
immanente Entwicklungstendenzen, die allerdings nicht ruhig und gleichmäßig, sondern krisenhaft verlaufen.

Inwieweit ihm dies in konsistenter Weise gelingt, wird noch zu diskutieren sein, hier kommt es zunächst einmal auf den
inhärent dynamischen Charakter der Theorie an, für die Gleichgewichtsbetrachtungen, wenn überhaupt, eine nur untergeordnete
Rolle spielen.23 An diesem Charakter ändert auch die unter Berücksichtigung des zinstragenden Kapitals eingeführte Trennung
des Profits in Zins und Unternehmergewinn nichts. In modernen ökonomischen Theorien wird diese Trennung gewissermaßen zur
Entdynamisierung benutzt. Es wird nicht nur davon ausgegangen, dass Unternehmer als Kapitalprofit mindestens den Zins
erzielen müssen, es wird weiter unterstellt, dass der Profit "im Gleichgewicht" auch nicht höher ist als der Zins. Wird
nämlich ein über dem Zins liegender Unternehmergewinn realisiert (der über den normalen "Unternehmerlohn" sowie eine
Risikoprämie hinausgeht), so wird dieser Gewinn als Ungleichgewichtsphänomen aufgefaßt: so lange der Unternehmergewinn
existiert, haben die Unternehmer eine Veranlassung, ihre Produktion über weitere Kredite auszudehnen bis über sinkende
Preise oder gestiegene Kosten der Gewinn schließlich verschwunden ist. "Im Gleichgewicht" sind dann Profit und Zins gleich.
Damit erhält die Kapitalverwertung doch wieder ein Maß, nämlich den Zins (der je nach Theorie Ausdruck der Zeitpräferenz
oder der Liquiditätspräferenz der Vermögensbesitzer ist), so dass die kapitalistische Produktion zu einem Gleichgewicht
finden kann.

Die grundlegende vom Kapital ausgehende Dynamik, faßt Marx als "Produktion relativen Mehrwerts": durch Steigerung der
Produktivkraft wird der Wert der einzelnen Produkte und als Konsequenz der Wert der Arbeitskraft gesenkt. Damit steigt -
auch bei gleichbleibender Länge des Arbeitstages - die Mehrwertrate und die Mehrwertmasse pro Arbeitskraft. Die wichtigste
Methode zur Produktion des relativen Mehrwerts ist der Einsatz von Maschinerie. Mit ihrer Hilfe kann dieselbe
Produktenmenge mit einer geringeren Anzahl von Arbeitskräften produziert werden. Der Einsatz von immer mehr und immer
teurerer Maschinerie hat für das Kapital eine doppelte Konsequenz: einerseits steigt die Mehrwertrate m/v, andererseits ist
zur Produktion derselben Produktenmenge jetzt mehr konstantes und weniger variables Kapital nötig, d.h. die
Wertzusammensetzung des Kapitals (das Verhältnis c/v) steigt ebenfalls.

Mit diesen bereits im ersten Band des Kapital abgeleiteten Zusammenhängen versucht Marx im dritten Band sein umstrittenes
"Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate" zu begründen. Häufig wird dieses "Gesetz" als unverzichtbare Grundlage der
Marxschen Krisentheorie aufgefaßt, was die Vehemenz erklärt, mit der über dessen Gültigkeit gestritten wurde. Im folgenden
will ich einerseits zeigen, dass die Kritik an diesem Gesetz berechtigt ist, andererseits soll aber auch deutlich werden,
dass die Marxsche Krisentheorie in ihrem Kerngehalt von diesem Gesetz nicht abhängt.

Mit dem "Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate" zielte Marx weder auf eine Verallgemeinerung empirischer Befunde,
noch auf eine bloße Plausibilitätsüberlegung, vielmehr beanspruchte er dieses Gesetz "aus dem Wesen der kapitalistischen
Produktionsweise als eine selbstverständliche Notwendigkeit bewiesen" zu haben (MEW 25: 223; vgl. auch 231).24 Damit sind
für seine Begründung aber auch entsprechend hohe Maßstäbe gesetzt.25

Marx entwickelt seine Argumentation in zwei Schritten. Zunächst stellt er das "Gesetz als solches" dar (13. Kapitel, 3.
Band), danach diskutiert er "entgegenwirkende Ursachen" (14. Kapitel, 3. Band), die den Profitratenfall abschwächen und
zuweilen auch zu einem Anstieg der Profitrate führen, die aber nicht verhindern können, dass sich das Gesetz langfristig
durchsetzt. Die folgende Kritik richtet sich vor allem auf den ersten Teil, es soll gezeigt werden, dass sich bereits "das
Gesetz als solches" nicht halten läßt.

Marx betrachtet zunächst den Fall einer steigenden Wertzusammensetzung des Kapitals bei gleichbleibender Mehrwertrate.
Diese Konstellation führt in der Tat mit Notwendigkeit zu einem Fall der Profitrate (MEW 25: 221f).26 Allerdings behauptet
Marx gleich anschließend, dass dieser Fall der Profitrate auch bei steigender Mehrwertrate eintreten würde (MEW 25: 223).27
Eine Begründung folgt jedoch nicht, was höchst problematisch ist: die Steigerung der Wertzusammensetzung wirkt auf eine
Senkung der Profitrate hin, die Steigerung der Mehrwertrate auf eine Erhöhung. Die Bewegung der Profitrate hängt demnach
davon ab, welcher Effekt stärker ist. Wird behauptet, dass die Profitrate fällt, dann genügt es nicht zu zeigen, dass die
Wertzusammensetzung steigt (oder dass die einzelne Arbeitskraft als Folge der Produktivkrafterhöhung immer mehr
Arbeitsmittel in Bewegung setzt), es muß gezeigt werden, dass die Wertzusammensetzung c/v auf Dauer schneller steigt, als
die Mehrwertrate m/v.28

Eine Produktivkraftsteigerung, die eine bestimmte Steigerung der Mehrwertrate zur Folge hat, kann in einem Fall durch viel,
in einem anderen Fall durch wenig zusätzliches konstantes Kapital erreicht worden sein. Eine allgemeine Aussage ist nicht
möglich. Wie dann aber eine allgemeine ("aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise" und nicht aus besonderen
Umständen entspringende) Begründung dafür aussehen soll, dass die Wertzusammensetzung nicht nur steigt, sondern auf Dauer
notwendigerweise schneller wächst als die Mehrwertrate, ist nicht zu sehen.

Bei Marx findet sich allerdings ein anderes Argument, das er anscheinend für ausreichend hält, um den Profitratenfall zu
begründen. Der Kern dieses Argument wird auch schon im ersten Band entwickelt (MEW 23: 322f), im dritten Band findet es
sich am deutlichsten im 15. Kapitel (MEW 25: 257f).29 Die Mehrwertmasse, die von einer bestimmten Zahl von Arbeitskräften
hervorgebracht wird, ist gleich dem Produkt aus dieser Zahl und dem von der einzelnen Arbeitskraft gelieferten Mehrwert.
Nimmt die Zahl der Arbeitskräfte ab, dann kann dies zunächst durch eine Erhöhung der Mehrwertrate (also der Steigerung der
von der einzelnen Arbeitskraft gelieferten Mehrwertmasse) kompensiert werden. Allerdings findet diese Kompensation
irgendwann eine Grenze: Leisten 24 Arbeiter jeweils 2 Stunden Mehrarbeit pro Tag, so ergibt dies 48 Stunden Mehrarbeit.
Werden statt der 24 Arbeiter nur noch 2 beschäftigt, dann können diese beiden niemals 48 Stunden Mehrarbeit liefern, ganz
egal wie stark die Mehrwertrate steigt. Marx folgert daraus, dass die Steigerung der Mehrwertrate "den Fall der Profitrate
wohl hemmen, aber nicht aufheben" könne (MEW 25: 258).

Damit das angegebene Beispiel aber einen Profitratenfall belegt, muß das Kapital, das die 2 Arbeiter beschäftigt, genauso
groß sein, wie das Kapital, das früher die 24 Arbeiter beschäftigte, denn erst dann folgt aus der Abnahme der Mehrwertmasse
eine Abnahme der Profitrate. Hätte auch das Kapital abgenommen, müßte geklärt werden, was stärker abgenommen hat, das
Kapital oder die Mehrwertmasse. Die Annahme, dass das Kapital gleich geblieben sei, hält Marx offensichtlich für
unproblematisch, was aber nicht zutrifft. Das vorgeschossene Gesamtkapital setzt sich aus konstantem Kapital c und
variablem Kapital v zusammen, v ergibt sich als Produkt aus der Zahl der Arbeitskräfte mit dem Wert der Arbeitskraft.
Schrumpft die Zahl der Arbeiter von 24 auf 2, so verringert sich bei gleichbleibendem Wert der Arbeitskraft das variable
Kapital bereits auf ein Zwölftel des alten Werts. Vom Wert der Arbeitskraft müssen wir außerdem annehmen, dass er stark
abgenommen hat, soll doch inzwischen die Produktivkraft der Arbeit gestiegen sein (und zwar erheblich, da ja auch die Zahl
der benötigten Arbeitskräfte erheblich gesunken ist). Das neue variable Kapital wird also in jedem Fall weniger als ein
Zwölftel des alten variablen Kapitals ausmachen. Damit das Gesamtkapital gleich bleibt, muß das konstante Kapital nicht nur
überhaupt gewachsen sein, es muß so stark gewachsen sein, dass es das eingesparte variable Kapital (also mehr als 11/12 des
ursprünglichen v) ersetzen kann - und hier liegt das Problem. Es reicht nicht aus, nur das Wachstum des konstanten Kapitals
zu begründen,30 es müßte gezeigt werden, dass der Wert des konstanten Kapitals in einer bestimmten Proportion angewachsen
ist.

Auf ähnlich problematischen Unterstellungen beruhen auch andere scheinbar schlagende Beispiele, die in der Diskussion über
das Marxsche "Gesetz" herumgeistern. Die Situation ist immer wieder ähnlich: von zwei Größen kann man zwar die
Bewegungsrichtung plausibel machen, um den Profitratenfall nachzuweisen, müßte man aber eine Aussage über das quantitative
Verhältnis dieser Bewegungen machen können (ob die Wertzusammensetzung schneller steigt als die Mehrwertrate, ob das
konstante Kapital stärker zunimmt als das variable Kapital abnimmt etc.) und dies ist auf der von Marx angestrebten
allgemeinen Ebene der Argumentation nicht möglich.31 Das heißt natürlich nicht, dass die Profitrate nicht auch fallen
könnte, nur läßt sich ein langfristig gültiges Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate nicht begründen.

Aus der Perspektive einer Arbeitsmengentheorie des Werts, die glaubt, Wert rein von der Produktion her bestimmen zu können,
mag dieses Gesetz ein herber Verlust sein. Die für eine monetäre Werttheorie interessanten Ansätze zur Krisentheorie finden
sich aber gerade in den Überlegungen von Marx, die nicht von diesem "Gesetz" abhängig sind. Eine einheitliche Krisentheorie
hat Marx nicht entwickelt. Seine krisentheoretischen Überlegungen sind nicht nur ein Torso geblieben, es finden sich ganz
verschiedene Ansätze zur Begründung von Krisentendenzen.32 Die allgemeinste und zugleich den Anforderungen einer monetären
Werttheorie (die immer schon Produktion und Zirkulation umfaßt) am ehesten entsprechende Begründung einer der
kapitalistischen Produktionsweise immanenten Krisentendenz skizziert Marx sehr gedrängt zu Beginn des 15. Kapitels im 3.
Band des Kapital. Dort hält er fest, dass die Bedingungen der "Exploitation" und der "Realisation" des Mehrwerts nicht nur
zeitlich und räumlich auseinander fallen, vor allem unterliegen sie unterschiedlichen Determinanten:

"Die einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die andren durch die Proportionalität der
verschiednen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Die letztre ist aber bestimmt weder durch
die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern durch die Konsumtionskraft auf Basis
antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb
mehr oder minder engen Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb,
den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. Dies ist Gesetz für
die kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit
beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die
Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen. (...) Es ist auf dieser widerspruchsvollen Basis, durchaus kein
Widerspruch, daß Übermaß von Kapital verbunden ist mit wachsendem Übermaß von Bevölkerung" (MEW 25: 254f)

Ausbeutung und Produktion des Mehrwerts kennt nicht nur keine innere Grenze, die Konkurrenz zwingt den einzelnen
Kapitalisten die beständige Steigerung der Produktivkraft auf, die häufig nur durch eine Ausdehnung der Produktion zu
erreichen ist. Dieser Tendenz zur beständigen Ausdehnung der Produktion und der Produktionsmöglichkeiten stellt Marx die
kapitalistisch begrenzte "Konsumtionskraft der Gesellschaft" gegenüber, die nur eine begrenzte Realisation des Mehrwerts
erlaubt. Allerdings formuliert er hier keine schlichte Unterkonsumtionstheorie33, er zerlegt vielmehr diese begrenzte
Konsumtionskraft in ihre zwei Hauptbestandteile: nämlich in die durch den Lohn begrenzte Konsumtion der "Masse der
Gesellschaft" und die "durch den Akkumulationstrieb" begrenzte Konsumtion des Kapitals. Klassische Unterkonsumtionstheorien
stellen in ihrer Krisenbegründung auf zu geringe Löhne und eine daraus resultierende "Nachfragelücke" ab. Daß die Löhne
geringer sind als der Wert der produzierten Produkte, ist aber Voraussetzung der Existenz von Mehrwert und Profit; die von
den Unterkonsumtionstheorien festgestellte "Nachfragelücke" existiert immer. Ob sie geschlossen wird, hängt von der - durch
den "Akkumulationstrieb" begrenzten - Investitionsnachfrage der Kapitalisten ab.34 Worin diese Grenzen des
Akkumulationstriebes bestehen, führt Marx hier nicht weiter aus, allerdings lassen sich die Argumente unschwer
zusammentragen. Vor allem zwei Sachverhalte sind relevant.

Zum einen ist es der über die Konkurrenz vermittelte Zwang zur Produktivkraftentwicklung, die sich aber ungleichmäßig und
stoßweise durchsetzt: sie kann insbesondere zur beschleunigten Erneuerung und Ausdehnung des fixen Kapitals führen, so dass
die erwähnte Nachfragelücke eventuell nicht nur geschlossen wird, sondern eine Überschußnachfrage entsteht, die weitere
Investitionsschübe in Gang gesetzt. Wurde dagegen das fixe Kapital gerade erneuert, so sinkt die Nachfrage nach Fixkapital
ab, so dass in verschiedenen Bereichen Überkapazitäten vorhanden sind, welche die Kapitalverwertung belasten (kurz
angedeutet werden diese Zusammenhänge in MEW 24: 185f).

Der zweite Punkt bezieht sich auf das Verhältnis von erwartetem Profit und Zins. Bei der Analyse des Kredits wird deutlich,
dass der einzelne Kapitalist immer die Wahl hat, ob er seine vergangenen Profite (wie auch die zurückfließenden
Wertbestandteile des fixen Kapitals) als industrielles Kapital oder aber als fiktives Kapital akkumuliert. Bei niedrigen
Zinsen und der Erwartung hoher künftiger Profite wird die Akkumulation in industrielles Kapital außerdem noch durch die
Inanspruchnahme von Krediten gesteigert werden, so dass die erwähnte "Nachfragelücke" nicht nur geschlossen wird, sondern
eine Überschußnachfrage entstehen kann. Umgekehrt führen hohe Zinsen und niedrige Profiterwartungen zu verstärkter
Akkumulation in fiktives Kapital, die dann auch noch weitere Spekulation anheizt, während im Bereich der industriellen
Produktion die "Nachfragelücke" real wird und sich aufgrund weiterhin schlechter Profiterwartungen noch verstärken kann.
Was auf der Ebene der einfachen Zirkulation als allgemeine Möglichkeit der Krise erschien, die Unterbrechung von W-G-W um
das Geld festzuhalten, nimmt bei Betrachtung des kapitalistischen Gesamtprozeßes, der nicht allein durch Geld, sondern
durch das Kreditsystem vermittelt ist, konkrete Gestalt an: Kapitalistisch produzierte Ware (Warenkapital) wird verkauft,
nicht um mit dem erhaltenen Geldkapital erneut die Elemente des produktiven Kapitals, Produktionsmittel und Arbeitskräfte,
zu kaufen, sondern um es in eine der Formen des fiktiven Kapitals zu investieren. Auf der Seite des industriellen Kapitals
verbleiben damit unverkaufte Waren und Überkapazitäten, auf der Seite des fiktiven Kapitals kann sich eine spekulative
Hausse entwickeln mit nachfolgendem Crash.

Das spezifisch kapitalistische Verhältnis von Produktion und Zirkulation, von Profit und Zins, industriellem Kapital und
fiktivem Kapital bringt widersprüchliche Tendenzen hervor, für die keine einfachen und automatischen Ausgleichsprozesse
existieren. Keynes stellte in diesem Zusammenhang die Bedeutung von unkalkulierbarer, nicht in ein berechenbares Risiko
auflösbarer Unsicherheit heraus: Der Zins sei nicht einfach Resultat des Wechselspiels von Sparen und Investieren, das
automatisch zu einem Gleichgewicht führe, wie Klassik und Neoklassik unterstellen, sondern Ausdruck der
Liquiditätspräferenz von Akteuren, die unter Unsicherheit handeln: mit der Verfügung über Geld wappnen sie sich gegen
Unsicherheit (Vorsichtskasse) oder sie halten Geld aus spekulativen Gründen, versuchen also Vorteile aus der Unsicherheit
zu erlangen (Spekulationskasse).

Das von Keynes geltend gemachte Argument der Unsicherheit ist zwar völlig richtig, doch bleibt es im Dunkeln, woher diese
Unsicherheit stammt. Seine auf die Zukunft gemünzte Bemerkung "we simply do not know" ist für alle historischen Zeiten
richtig, doch unter kapitalistischen Verhältnissen hat sie eine ganz andere Relevanz als in jeder anderen Produktionsweise.
Es ist nicht mehr wie in früheren Zeiten vor allem das Wetter oder die Laune der Natur, welche die künftige Reproduktion
unsicher macht, es ist gerade die von Marx herausgestellte spezifische Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise
selbst, welche die Unsicherheit hervorbringt: die Logik der Kapitalverwertung, die Produktion relativen Mehrwerts führt zur
beständigen Steigerung der Produktivkräfte, zu immer neuen Umwälzungen der technischen und sozialen Bedingungen von
Produktion und Reproduktion, zur Verschiebung von Nachfrageströmen, zum Verschwinden alter und zur Entstehung neuer
Branchen, zur Entwertung vorhandener Kapitalien und zur Entstehung neuer Kapitalien, deren tatsächliche Verwertung aber
noch lange nicht klar ist. Bevor diese Entwicklungen an irgendeinem "Gleichgewichtspunkt" zur Ruhe gekommen sind, finden
bereits wieder neue Umwälzungen statt, welche die gesamte Szenerie verändern.

Da für die in diesem dynamischen Prozeß aufgebauten Widersprüche und Ungleichgewichte keine automatischen
Anpassungsprozesse existieren, können sie nur momentan in einer Krise aufgelöst werden. Die gewaltsame Herstellung der
Einheit von Momenten, die zwar zusammen gehören, aber gegen einander verselbständigte Entwicklungen durchlaufen (wie oben
für das Verhältnis von Produktion und Konsumtion skizziert) hält Marx durchgehend als die allgemeinste Bestimmung der Krise
fest.35 Dieser Prozeß ist nur unter großen materiellen und sozialen Kosten möglich: Kapitalien, sowohl im industriellen
Bereich wie an den Finanzmärkten angelegte, werden vernichtet, Arbeitskräfte werden arbeitslos oder müssen
Einkommensverluste hinnehmen.

Die zerstörerische Seite der Krise machte die Vorstellung plausibel, die Marxsche Krisentheorie laufe auf eine
"Zusammenbruchstheorie" hinaus, eine Vorstellung, die in der marxistischen Arbeiterbewegung zwar nicht unumstritten, aber
quer durch alle Fraktionen recht populär war: so politisch unterschiedlich orientierte Persönlichkeiten wie Heinrich Cunow,
Rosa Luxemburg oder Henryk Grossmann gingen ganz selbstverständlich von einer "Marxschen Zusammenbruchstheorie" aus. Im
Marxschen Kapital ist aber keine Zusammenbruchstheorie auszumachen. Zwar ist in einer bekannte Stelle im 3. Band von den
"Schranken" der kapitalistischen Produktion die Rede (MEW 25: 260), doch sind damit keine zeitlichen Schranken gemeint,
kein Schlußpunkt kapitalistischer Entwicklung, sondern die grundsätzliche Bornierung, die diese Entwicklung begleitet: "Das
Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem
beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals" (ebd.).36

Entgegen der Vorstellung einer Zusammenbruchskrise ist festzuhalten, dass Krisen Lösungen, wenn auch gewaltsame, von
Widersprüchen sind: Die von den Krisen angerichteten Zerstörungen sind für die weitere Entwicklung des kapitalistischen
Systems gerade produktiv. Allerdings reduziert sich Krise bei Marx nicht auf die Beseitigung von Ungleichgewichten. Die
Marxsche Konzeption einer krisenhaften kapitalistischen Dynamik (die, was Marx noch nicht explizit unterschieden hat,
sowohl "kleine" zyklische als auch "große" strukturell-überzyklische Krisen umfaßt) läßt sich eher als implizite Kritik der
in der Volkswirtschaftslehre verbreiteten Dichotomie von Gleichgewicht und Ungleichgewicht interpretieren. Resultat der
Krise ist nicht ein neue stabiles Gleichgewicht, sondern eine Konstellation ökonomischer Kohärenz, deren Merkmale gerade
nicht im vorhinein zu bestimmen sind. Diese kohärente Konstellation liefert die Rahmenbedingungen für eine neue
Akkumulationsbewegung, in deren Verlauf wiederum zusammengehörige Momente auseinanderstreben, sich verselbständigen und
damit die kohärente Konstellation untergraben, bis schließlich eine weitere Krise unausweichlich ist.

Die von Marx angestrebte Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise "in ihrem idealen Durchschnitt" (MEW 25: 839)
umfaßt zwar die dieser Produktionsweise immanenten Krisentendenzen, aber kein allgemeines Krisenmodell, in das nur noch
einige Parameter einzutragen wären. Krisenprozesse spielen sich in einer historischen Zeit unter nicht wiederholbaren
Umständen ab, sie tragen daher stets eine historische Signatur. Dies ist nur ein anderer Ausdruck, von dem weiter oben
herausgestellten Sachverhalt, dass die kapitalistische Dynamik eine nicht kalkulierbare Unsicherheit, eine unvorhersehbare
ökonomische Zukunft produziert.

Allerdings verläuft die Entwicklung des Kapitalismus auch nicht in einem zufälligen Hin und Her. Vergleicht man die
kapitalistischen Globalisierungsprozesse zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, so wird deutlich, dass Vieles von dem, was Marx zum "idealen Durchschnitt" der kapitalistischen
Produktionsweise rechnete, erst viel später praktische Wahrheit erlangte: so ist die Produktion relativen Mehrwerts davon
abhängig, dass die von den Arbeitskräften konsumierten Lebens- und Subsistenzmittel kapitalistisch produziert werden, was
für die entwickelten kapitalistischen Länder auf einer umfassenden Ebene erst mit dem Fordismus des 20. Jahrhundert
durchgesetzt wurde. Dass das Kreditsystem einerseits steuernd für die kapitalistische Produktion wirkt, andererseits aber
blockierend, indem es durch immer neue Instrumente den Widerspruch zwischen industriellem und fiktivem Kapital steigert,
wurde auf großer Stufenleiter mit der Internationalisierung des Finanzsystems in den 70er und 80er Jahren deutlich. Und
schließlich war es für die Marxsche Analyse der "allgemeinen Natur des Kapitals" nur von untergeordneter Bedeutung, dass
der Kapitalismus in einzelnen Nationalstaaten existierte, der Weltmarkt galt ihm als "die Basis und die Lebensatmosphäre
der kapitalistischen Produktionsweise" (MEW 25: 120) - auch dies ist mit den Globalisierungsprozessen der 90er Jahre in
einer ganz neuen Weise praktisch wahr geworden. Wenn auch der traditionelle, weltanschauliche Marxismus der
Arbeiterbewegung, wie er zu Beginn dieses Artikels skizziert wurde, weitgehend erledigt ist, so gilt dies nicht für Marx'
Projekt einer Kritik der politischen Ökonomie: Dem Niveau dieser Ökonomiekritik scheint der Kapitalismus des 21.
Jahrhunderts jedenfalls eher angemessen zu sein als der des 19. Jahrhunderts.

Literatur und Fussnoten