Militanter Islamismus in Algerien und Ägypten

Das Kriegsgeschehen in Nordafrika

Die Politisierung des Islam in Form von islamistischen Organisationen ist in Ägypten durch eine relativ lange Tradition geprägt.

Die im Jahr 1928 von Hassan al-Banna gegründete Muslimbruderschaft (arab. al-ikhwan al-muslimun) gilt zu Recht als erste islamistische Bewegung. Ihr Programm von 1936 umfaßte summarisch folgende Punkte: Beendigung des Parteienwesens, Einführung der islamischen sharia1, kulturelle Zensur sowie Wahrung islamischer Moralvorstellungen, Verbot von Zins und Profit und sozial orientierte Verteilung des Reichtums. Nach Jahren militanter Aktionen gegen die britische Vorherrschaft in Ägypten und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Repräsentanten des Nasser-Regimes korrigierte die Bruderschaft den von ihr verfolgten Kurs der gewaltsamen Konfrontation und beschloß einen Marsch durch die Institutionen, der sich zu einem wahren Hindernislauf entwickeln sollte.

Allerdings vollzogen nicht alle Mitglieder der zu einer Massenorganisation angewachsenen Muslimbruderschaft die ideologische Kurskorrektur. Resultat dieser Entwicklung war die Abspaltung militanter islamistischer Organisationen von der Muslimbruderschaft, die heute den bewaffneten Kampf gegen das bestehende System fortsetzen. Derzeit werden in Ägypten einige Dutzend militante islamistische Organisationen vermutet, die jedoch unabhängig voneinander agieren. Die bekanntesten dieser Organisationen sind al-jihad (heiliger Kampf), al-jama'a al-islamiyya (islamische Gemeinschaft), hizb at-tahrir al-islami (Partei der islamischen Befreiung) sowie jama'a at-takfir wa-l-hijra (Gemeinschaft der Bezichtigung des Unglaubens und der Auswanderung).

Der bewaffnete Konflikt in Ägypten

Seit 1992 haben sich die Auseinandersetzungen zwischen den militanten islamistischen Organisationen und den ägyptischen Sicherheitskräften intensiviert. Durch Attentate auf Repräsentanten der Regierung und Vertreter der Sicherheitskräfte, Angehörige der koptisch-christlichen Minderheit und Touristen sowie Bombenanschläge auf öffentliche Einrichtungen erstreben die militanten islamistischen Organisationen eine Destabilisierung der ägyptischen Regierung, um auf diesem Weg deren innen- und außenpolitische Legitimität zu untergraben.

Der durch den islamistischen Terrorismus herausgeforderte Staat reagiert stets mit unerbittlicher Härte (landesweite Razzien, Verstoße gegen die Menschenrechte, Schußwechsel mit meist zahlreichen Verletzten und Toten, Massenverhaftungen und Militärtribunale) und trägt durch diese Strategie zu einer Eskalation der Auseinandersetzungen bei. Dabei gelang es jedoch weder den Sicherheitskräften, die den säkularen Staat herausfordernden militanten islamistischen Organisationen zu eliminieren, noch erreichten die etwa 10.000 Mitglieder dieser Organisation ihr Ziel, die ägyptische Regierung tatsächlich zu destabilisieren. Somit ist weder ein Ende des Konflikts noch ein Sturz des ägyptischen Regimes in Sicht.

Parallel zur militärischen Auseinandersetzung mit den militanten islamistischen Organisationen des Landes führt die ägyptische Regierung einen weit weniger spektakulären für die zukünftige Entwicklung des bewaffneten Konflikts jedoch entscheidenden Kampf gegen die Muslimbruderschaft. Mit einer Mitgliederzahl von etwa 100.000 zählt diese zu den bedeutendsten politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes. Etwa eine Million Ägypter sollen mit der Bruderschaft sympathisieren.

Die ideologische Kurskorrektur der Bruderschaft könnte im Vergleich zu ihren Anfangsjahren drastischer nicht sein. Im Gegensatz zu ihrer Gründungszeit tritt sie heute für ein freies Parteiensystem ein, in dessen Rahmen sie als islamistische Partei zu partizipieren bereit ist. Sowohl das politische System als auch die ägyptische Gesellschaft wird von der Muslimbruderschaft als islamkonform charakterisiert. Zudem bekennt sie sich zu einer sozialen Marktwirtschaft und zeigt alle Züge einer politischen Partei. Seit geraumer Zeit jedoch wird der gesellschaftliche und politische Einfluß der seit 1954 offiziell verbotenen Bruderschaft, die unter Sadat relative politische Freiheit und Partizipation genoß, trotz der Integrationsbereitschaft und des Bekenntnisses zu demokratischen Strukturen systematisch zurückgedrängt. Im Jahr 1993 änderte die ägyptische Regierung die Wahlgesetze für Berufsvereinigungen, die der Bruderschaft als Plattform für eine politische Partizipation dienten und schränkte dadurch die Möglichkeiten politischer Partizipation drastisch ein. Zudem erhebt das ägyptische Regime vermehrt den Vorwurf des Zusammenschlusses zu einer terroristischen Vereinigung gegen prominente Muslimbrüder und läßt diese von Militärgerichten verurteilen.

Die Konsequenzen dieser staatlichen Konfliktstrategie könnten sich als fatal erweisen. Denn die massive staatliche Repression im Verein mit einer forcierten Politik des Entzugs der Möglichkeiten der politischen Partizipation und Integration in bestehende Strukturen drohen wie in der Ära Nassers bereits geschehen zu einer Radikalisierung bisher friedlich agierender Muslimbrüder beizutragen. Eine weitere Eskalation des Konflikts ist somit aufgrund einer steten Einschränkung friedlicher politischer Alternativen zum bewaffneten Konfliktaustrag nicht auszuschließen.

Der Krieg in Algerien

Die Geschichte des seit 1992 herrschenden Krieges in Algerien ist wie die des bewaffneten Konflikts in Ägypten eine Geschichte der Verweigerung politischer Freiheit und Partizipation. Von besonderer Bedeutung für den Krieg in Algerien ist jedoch, daß die staatssozialistische Entwicklungsdiktatur Algeriens in eine klientelistische Kleptokratie der Front de Liberation Nationale (FLN) mündete, die sich seit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 Staat und Wirtschaft angeeignet hat.

Die unmittelbare Vorgeschichte des innerstaatlichen Krieges beginnt mit dem Wahlsieg der im Februar 1989 konstituierten Front Islamique du Salut (FIS) bei den ersten freien Kommunalwahlen im Sommer des Jahres 1990 sowie bei der ersten Runde der Parlamentswahlen im Dezember des Jahres 1991. Wie schon zahlreiche Male zuvor in Krisensituationen betrat das algerische Militär die politische Bühne und setzte den für März 1992 vorgesehenen zweiten Wahlgang aus. Zudem zwangen die Militärs den amtierenden Staatspräsidenten Chadli Benjedid zum Rücktritt und verboten kurze Zeit später die FIS. Der durch das Militär zum Präsidenten ernannte Muhammad Boudiaf, der 30 Jahre im marokkanischen Exil lebte, fiel im Sommer 1992 einem Attentat seiner eigenen Sicherheitskräfte zum Opfer, für das zunächst jedoch die FIS verantwortlich gemacht wurde. Das abrupte Ende des durch die Wahlen eingeleiteten Demokratisierungsprozesses mündete in einem innerstaatlichen Krieg, der seit 1992 zwischen 50.000 und 80.000 Todesopfer gefordert hat und der im Gegensatz zu Ägypten zu einem partiellen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung geführt hat.

Auf seiten der militanten Islamisten, die sich um ihren Wahlsieg betrogen fühlen und auf staatliche Repression mit Terror antworten, sind es zwei Organisationen, die insbesondere in die Kämpfe mit den staatlichen Sicherheitskräften verwickelt sind: zum einen die Mitglieder der Organisation Mouvement Islamique Armé (MIA), die als bewaffneter Arm der verbotenen FIS angesehen wird und die sich seit dem Frühjahr 1994 Armée Islamique du Salut (AIS) nennt. Die zweite intensiv an der militärischen Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat beteiligte Organisation ist die Groupe Islamique Armé (GIA), die im Sommer des Jahres 1992 infolge der Ermordung und Verhaftung zahlreicher islamistischer Untergrundführer entstand.

Über die Anzahl der Mitglieder dieser Organisationen existieren stark divergierende Angaben. Einige Schätzungen gehen von etwa 2.500 Mitgliedern aus, andere reichen bis zu 20.000. Ihnen stehen 40.000 Militärs gegenüber, die aus der insgesamt 130.000 Mann starken Armee speziell zu Terrorismusbekämpfung bereitgestellt wurden.

Weder die zwischen der FIS, der FLN und der Front des Forces Socialistes (FFS) im Januar des Jahres 1995 im Rahmen der "Plattform von Rom" verabschiedete "Nationale Charta", die der Wiederherstellung eines souveränen, demokratischen und sozialen Algeriens im Sinne der Prinzipien des Islam dienen sollte, noch die Präsidentschaftswahlen vom November des selben Jahres, aus denen der seit Januar 1994 amtierende Staatschef General Liamine Zeroual als deutlicher Sieger hervorging, führten zu einem Rückgang der Intensität der militärischen Auseinandersetzungen. Dies gilt auch für das Referendum über eine neue Verfassung, in der u.a. die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten erheblich erweitert und politische Parteien, die sich als religiös definieren, verboten wurden sowie für die Parlamentswahlen vom Juni 1997, die die Staatschef Zeroual nahestehende Rassemblement National Démocratique (RND) gewann. Sie erhielt 156 von 380 Parlamentssitzen. Zweitstärkste Kraft wurde das Mouvement de la Société pour la Paix (MSP), die Nachfolgeorganisation der algerischen Hamas.

Die Tatsache, daß die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen gleich blieb, obwohl sich die Regierung um eine höhere Legitimation bemühte, liegt zum einen darin begründet, daß insbesondere die GIA jegliche Form des Dialogs mit der algerischen Regierung ablehnt. Zum anderen - und dies ist von entscheidender Bedeutung - wurde die islamistische Opposition von der Regierung vollkommen aus dem politischen Prozeß ausgeschlossen und somit ein Großteil der oppositionellen Kräfte des Landes der Möglichkeiten politischer Partizipation beraubt.

Parallelen und Unterschiede zwischen Algerien und Ägypten

Prägnanteste Parallelen in beiden bewaffneten Konflikten sind sicherlich die diesen zugrundeliegenden Hauptkonfliktlinien und Ursachen sowie die Konstellation der Konfliktparteien. Beide Konflikte sind Folgen einer als illegitim empfundenen staatlichen Herrschaft und einer in beiden Staaten existierenden tiefen sozialen Krise, die aus der Transformation traditionaler Gesellschaften resultiert.

In beiden Fällen wird ein korruptes und mehr oder minder autoritäres Regime durch reformorientierte Organisationen - in Ägypten ist dies insbesondere die Muslimbruderschaft, in Algerien die FIS - oder militante islamistische Gruppierungen herausgefordert. Die Artikulation des Protests und die Legitimation des bewaffneten Widerstandes geschieht jeweils unter Rückgriff auf den Islam, der zugleich vages Programm für die angestrebte Gesellschaftsform ist: al-islam hua al-hall (der Islam ist die Lösung). Sowohl in Ägypten als auch in Algerien soll das von den militanten islamistischen Organisationen als unislamisch perzipierte politische System durch ein an den Idealen der medinensischen umma zu Lebzeiten Muhammads ausgerichtetes System ersetzt werden, das auf dem Koran und der sunna des Propheten Muhammad basieren soll. Den säkularen Gesellschafts- und Staatsmodellen der Moderne wird ein an traditionalen Elementen orientiertes islamistisches Modell entgegengesetzt, von dem man sich eine Form einer autochthonen Moderne verspricht und das an die Hochzeit der islamischen Kultur anknüpfen soll.

Weitere Parallelen weist die Mitgliederstruktur der militanten islamistischen Organisationen Ägyptens und Algeriens auf. In beiden Staaten rekrutieren sich diese Organisationen vorwiegend aus jungen Erwachsenen, die nur über wenig formale Bildung verfügen und aus ruralen Gebieten oder den Armutsvierteln urbaner Zentren stammen. Des weiteren werden an den Universitäten Studenten rekrutiert, deren Zukunft trotz ihrer formalen Ausbildung meist ungesichert ist. Angesichts des Scheiterns säkularer Strategien perzipieren diese den Rückgriff auf traditionelle Bezugssysteme (hier der Islam) als einzig wahre Alternative und erfahren zudem in den islamistischen Organisationen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Gemeinschaft.

Die Unterschiede in der Größe der Konfliktparteien und der Zahl der Opfer der bewaffneten Auseinandersetzungen lassen sich u.a. durch das unterschiedliche Maß an politischen und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten erklären. Während in Algerien der islamistischen Opposition eine politische Partizipation an den bestehenden Strukturen vollkommen verwehrt wird, bleiben der islamistischen Opposition in Ägypten dazu - wenn auch geringer werdende - Möglichkeiten.

Die Unterschiede resultieren aber auch aus den verschiedenen historischen Verläufen der Modernisierung Ägyptens und Algeriens. Im Vergleich zu Algerien ist die ägyptische Gesellschaft deutlich stärker mit Momenten moderner kapitalistischer Gesellschaft durchdrungen, wie auch die Staatlichkeit Ägyptens auf eine deutlich ältere Tradition zurückblicken kann. Beide Faktoren sind für die unterschiedlichen Entwicklungen der bewaffneten Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung.

Sowohl für Ägypten als auch für Algerien ist der Kassandraruf eines drohenden aggressiven islamistischen Regimes ungerechtfertigt. Denn in beiden Staaten sympathisiert das Gros der Bevölkerung in keiner Art und Weise mit den militanten Islamisten, sondern sehnt vor allem ein Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen herbei.

Literatur

Borchardt, Ulrike 1994: Bürgerkrieg in Algerien, Arbeitspapier Nr. 75 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg (out of print).

Endres, Jürgen 1997: Die islamistische Opposition in Ägypten zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit: Muslimbruderschaft und militante Islamisten, Arbeitspapier der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg (in print).

Keppel, Gilles 1985: The Prophet and Pharao. Muslim Extremism in Egypt, London.

Manousakis, Gregor M. 1994: Algerien, der erste Dominostein? In: Europäische Sicherheit, Jg. 43, Nr. 7, S. 335-337.

Meier, Andreas 1994: Der politische Auftrag des Islam: Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der Islamischen Welt, Wuppertal.

Mitchell, Richard P. 1969: The Society of the Muslim Brothers, London.

Riesenbrodt, Martin 1993: Islamischer Fundamentalismus aus soziologischer Sicht. In: APuZ, B 33, S. 11-16.

Jürgen Endres ist Mitglied der AKUF