Chile als Modell

in (03.11.2001)

Nach dem 11. September 1973, Pinochets Putsch mit Kissingers Hilfe, wurde Chile zum Dorado für neoliberale Machtübernahme, Deregulierung, Privatisierung z.B. der staatlichen Rentenversicherung.

Im Datum vielleicht zufällig, doch nicht ohne innere Logik korrespondiert der 11. September 2001 mit dem 11. September 1973. Damals begann in Chile der Putsch der Militärs, der unter Anleitung der CIA im Auftrag der nationalen und internationalen Kapitaleigner die Renditefähigkeit für angelegte Kapitalien in diesem Land wiederherstellen sollte. Der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende fand zusammen mit vielen seiner Getreuen im zerschossenen Präsidentenpalast sofort den Tod, Zehntausende wurden in den folgenden Monaten und Jahren ermordet oder mit Folter und Kerker für den Rest ihres Lebens gezeichnet.

Die Chicago-Boys strömten ins Land, Chile unter der Militärdiktatur wurde zum Dorado und Exerzierfeld für neoliberale Machtübernahme in einem Land, das mit seiner 150jährigen unabhängigen und überwiegend demokratischen Tradition und seinen vielen sozialstaatlichen Errungenschaften bis dahin als das höchstentwickelte in Lateinamerika galt. Wirtschaft und Gesellschaft wurden im Schnellverfahren von störenden staatlichen Regulierungen befreit, Gewerkschaften zerschlagen, Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge den ungezügelten Marktkräften ausgeliefert. Weltbank und IWF geizten nicht mit Krediten, Programmen und Ratschlägen, so daß bald triumphierend zu vermelden war: Seht, ihr Länder der Welt, ob im Süden oder auch im Norden, Chile beweist, was der freie Markt vermag, wenn der Staat sich auf seine "Kernaufgaben" Sicherheit und Recht und Ordnung - gemeint ist die Ordnung des freien Marktes - zurückzieht. Von den Opfern, den sozialen Wüsten in den Vorstädten, den zerstörten Kommunitäten und Familien wollte keiner reden.

Seit gut zehn Jahren wurde sogar eine Art repräsentativer Demokratie wieder zugelassen. Das Kapital hat ja nichts gegen Demokratie, solange Wahlen nichts daran ändern, daß die Reichen reicher und die Armen zur Arbeit angehalten werden. Putschgeneral Pinochet, inzwischen alt und gebrechlich, hat seine Schuldigkeit getan und darf dem Gespött der Welt preisgegeben - jedoch nicht als Verbrecher bestraft - werden. Was aber ist mit den Opfern, wer zählt die Ermordeten, wer läßt den Gedemütigten und Geschundenen Gerechtigkeit widerfahren? Wie sieht das Über-Leben derer aus, die mit halbwegs gesicherten Arbeitsplätzen, zumeist aber mit billigen Gelegenheitsjobs sich selber und ihre Kinder durchbringen müssen? Wie ergeht es den Alten und Gebrechlichen in der schönen neuen Welt des Neoliberalismus?
1981 waren die ausländischen Berater soweit, auch die Altersvorsorge zu vermarkten. Die Militärs gaben ihren Gesetzessegen, und das bis dahin in Chile gültige solidarische Umlageverfahren wurde komplett auf Privatversicherung mit Kapitalfonds umgestellt. 1924 begonnen, in mehreren Reformschritten, zuletzt unter Allende, verbessert, bestand in Chile ein Rentensystem, das Männern über 65 und Frauen über 60 ein ausreichendes Einkommen gewährte, bezahlt hauptsächlich von den Arbeitgebern (mit 20 Prozent der Lohnsumme) und vom Staat (aus allgemeinen Steuern); den Arbeitenden wurden lediglich 2,6 Prozent abgezogen - wahrlich arbeiterfreundliche Verhältnisse verglichen mit Deutschland, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Sozialversicherung je zur Hälfte finanzierten. Seit 1981 sieht die Sache in Chile völlig anders aus. Die Kapitalseite wurde von ihren Verpflichtungen freigestellt - faktisch eine Senkung der Lohnkosten um 20 Prozent auf einen Schlag. Die Lohnempfänger sind seitdem allein für ihre Rente zuständig. Ihnen werden zwangsweise 13 Prozent vom Lohn abgezogen und den zugelassenen Versicherungsgesellschaften zugeführt, die die Beiträge in Kapitalfonds anlegen sollen. Ähnliches wurde jetzt mit der "Riester-Rente" in Deutschland eingeleitet: Die Arbeitnehmer müssen vier Prozent vom Bruttolohn für ihre Privat-Rentenfonds aufbringen, wozu die Arbeitgeber nichts beitragen; zwecks Akzeptanz leistet allerdings der Staat einen Zuschuß. Den Fachleuten ist klar, daß sich die Neoliberalisierer mit den vier Prozent nicht zufrieden geben werden, sondern alles, was die Arbeitnehmer für die Rente aufwenden, in die Kapitalfonds leiten wollen; ebenso steht fest, daß auch hierzulande die Arbeitgeberseite auf Dauer von Abgaben völlig freigestellt werden will.

In der chilenischen Presse wurde die Sache so dargestellt, daß das alte System erstens für Staat und Wirtschaft zu teuer und gar nicht mehr finanzierbar sei, zweitens mit zu großen Verwaltungskosten arbeite, drittens dem einzelnen Rentner zu wenig bringe und viertens ungerechterweise die höher Verdienenden zugunsten der niedriger Entlohnten diskriminiere. Solche Argumente kennen wir aus der Kampagne für die schöne neue Riester-Rente. Aus der 20jährigen Erfahrung der Chilenen kann man lernen, was von den Versprechungen zu halten ist.

Erstens: Für den chilenischen Staatshaushalt wurde die "Reform" sehr teuer. Die vorhandenen Rentner mußten ja irgendwie versorgt werden, und dieses Problem ließ sich nicht allein dadurch lösen, daß man die Renten permanent senkte; da die Arbeitgeber nichts mehr zahlten und die jüngeren Arbeitnehmer nur noch die Kapitalfonds bedienten, mußte der Staat die Verbrauchssteuern erhöhen. Bei der Riester-Rente zeichnen sich bereits ähnliche Folgen ab. Nur die Unternehmerseite wird entlastet. Der Staat wird aus Steuergeldern bis zu 20 Milliarden Mark dazugeben. Diese Summe wird aber wohl immer weniger ausreichen, auch wenn man die Bezüge der Rentner kürzt und kürzt.

Zweitens: Die Verwaltungskosten liegen heute in Chile um ein Vielfaches höher als früher. Der Staat legte fest, daß die Verwalter der Kapitalfonds für ihre Arbeit (u.a. Werbung, jahrzehntelange Betreuung der eingezahlten Gelder auf dem Finanzmarkt, individuelle Auszahlungsberechnung) und für Versicherungen 23 Prozent vorweg abziehen dürfen; für das Ansammeln der Kapitalrente stehen also kaum mehr als drei Viertel des Beitragsaufkommens zur Verfügung. In Deutschland kostete die Verwaltung im bisherigen staatlichen Rentensystem nicht einmal zwei Prozent, denn im Umlageverfahren werden ja die monatlich eingehenden Beitragsgelder sofort als Renten ausgezahlt, berechnet nach gesetzlich für alle gleichen Kriterien.

Drittens die angeblich viel höhere Effizienz: Bis heute kann in Chile noch niemand sagen, wie effizient die Fonds mit den Geldern der Mitglieder gearbeitet haben. Die ersten Renten sollen gerade jetzt nach 20 Jahren berechnet werden, ausgezahlt wurde noch nichts. Es herrscht ein heilloses Durcheinander. Einige hunderttausend Klagen sollen eingereicht worden sein, weil in ersten Bescheiden oft viele Jahre bei den Einzahlungen fehlen. Manche Unternehmen haben die einbehaltenen Rentenbeiträge nicht abgeführt. Oder die Versicherungsgesellschaften behaupten das einfach und fordern Zahlungsnachweise von Firmen, die auf dem flexibilisierten Markt Chiles längst nicht mehr existieren. Zwar hieß es jahrelang, die Gelder seien vorrangig in der nationalen Wirtschaft mit guten Renditen angelegt. Doch die gegenwärtige Krise an den Börsen läßt Schlimmes befürchten. Hinzu kommt, daß bei Erreichen der Altersgrenze ein individueller Auszahlungsplan erarbeitet werden soll entsprechend den je nach Gesundheitsstand noch zu erwartenden Lebensjahren. Wer dummerweise länger lebt, erhält in den überfälligen Jahren nur eine Minimalrente. Im noch nicht gänzlich dem Neoliberalismus verfallenen Deutschland will man solche Unzulänglichkeiten vermeiden. Die Bundesregierung richtet eine Sonderbehörde mit tausend Mitarbeitern in Brandenburg ein, die dafür sorgen soll, daß alle Gelder korrekt abgerechnet und mit den staatlichen Zuschüssen verrechnet werden. Die tollen Renditeverheißungen, die der "Rentenreform" vorausgingen, sind nach dem Börsencrash nicht mehr zu hören. Die Fonds müssen nur noch bestätigen, daß sie die eingezahlten Gelder in nominaler Summe garantieren, ohne Ausgleich für die Preissteigerung, ohne Zinszuwachs. Und selbst über diese Garantie wird noch verhandelt, weil die Kapitalgesellschaften klagen, sie könnten dann nicht in Risikofonds investieren und nur mickrige Gewinne einfahren...

Viertens die propagierte neue Gerechtigkeit: Fachleute erwarten, daß sich in Chile die Kapitalrente für das obere Viertel lohnt, wenn man mindestens 40 Jahre gearbeitet hat und durchgehend hohes Gehalt bezogen hat - vorausgesetzt, es kommt nicht zu einer Krise mit Währungsverfall. Für das untere Viertel wird es keine Rente mehr geben, weil bei wechselnden Teilzeitjobs, bei Arbeitslosigkeit oder Scheinselbständigkeit nichts eingezahlt worden ist. Die verbleibende Hälfte dazwischen wird im Alter überwiegend schlechter dastehen als im alten System, u.a. wegen der hohen Verwaltungskosten und Mißwirtschaft bei den Fonds. Die Forderungen nach Rückkehr zum alten System werden lauter.

Jede Prognose für die Entwicklung der Privatfonds in Deutschland wäre so seriös wie ein Horoskop. Wenn Riester oder die Versicherungskonzerne die sichere Privatrente verheißen und ihre Höhe in 30 Jahren vorhersagen, sind sie Scharlatane. Doch einiges können uns die 20 Jahre Erfahrung in Chile schon lehren: Auch bei uns gibt es ein unteres Viertel, wenn nicht einen größeren Teil der Bevölkerung, der keinen Anspruch auf Privatrente erwerben kann, weil nichts zum Einzahlen vorhanden ist. Auch hier mögen die gut Verdienenden, wenn alles nach Plan läuft, am Ende etwas besser dastehen, zumal ihnen ja Vater Staat über Steuerermäßigungen das Drei- bis Fünffache dessen schenkt, was ein Normalverdiener an Zuschüssen bekommen kann. Die Masse in der Mitte wird nichts gewinnen, wohl aber einiges verlieren: die Sicherheit, im Alter von der Solidargemeinschaft auch dann ausreichend und in Würde unterstützt zu werden, wenn Inflation oder Pleitewellen das Land überzogen haben; die Unterstützung für Frau und Kinder bei frühem Tod; den relativen Frieden in der Gesellschaft, solange auch der Nachbar seine Rente bekam ... Wie in Chile steht hierzulande die "neue Rente" für die von oben organisierte Zerstörung von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit.

Der 11. September 2001 in Washington und New York ist wie jener vor 28 Jahren in Santiago de Chile ein schlimmes Fanal. Ein Weltwirtschaftssystem, das den Kampf aller gegen alle zum Motor seiner Entwicklung, seiner "schöpferischen Zerstörungen" macht, muß allenthalben Schrecken verbreiten. Mit Terror werden soziale und kulturelle Errungenschaften beseitigt, und mit Terror, notfalls durch Selbstdestruktion, agieren jene, die zu den Eroberern, den Gewinnern gehören wollten und sich mit dem Verlieren nicht abfinden können. Terror gebiert Terror, und nichts als noch größerer Terror scheint den Herrschenden einzufallen. Ob eine andere Welt möglich wird, ob eine Globalisierung von unten gelingt, entscheidet sich jeden Tag auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens neu. Eine gute Sozialpolitik wäre auch eine gute Friedenspolitik.