Aufklärung und Propaganda in Kriegszeiten

Die ,,Enttabuisierung des Militärischen", auf die Schröder stolz ist, führt zur Tabuisierung des Zivilen. Je tiefer sich die Bundesrepublik Deutschland in den Krieg hineinstürzt, desto mehr trägt

In der Propaganda, der wir öfter ausgesetzt sind, als wir ahnen, nämlich fast immer, allemal in Kriegszeiten, sind Aufklärung und Propaganda ein Begriffspaar - ähnlich wie Freiheitskämpfer und Terroristen oder warnen und drohen. Die Guten, nämlich die Unseren, warnen; die Bösen, das heißt die Feinde, drohen. Je nach dem, ob einer nach Darstellung der von uns konsumierten Medien warnt oder droht, wissen wir, was wir von ihm zu halten haben: Entweder er ist gut, oder er ist böse. Denn warnen, das wissen wir, ist ein freundliches, drohen ein feindliches Verhalten. So inszeniert die Propaganda das Welttheater und macht uns zu vermeintlich Wissenden, ohne dass wir dieser Indienstnahme unserer Köpfe bewusst werden - denn die beiden Wörter warnen und drohen sind so unscheinbar, dass sie uns beim Lesen oder Hören gewöhnlich gar nicht auffallen. Sie wirken unterschwellig.

Das Gute und das Böse

Freiheitskämpfer sind gut, Terroristen böse. Wenn sie auf unserer Seite kämpfen, sind sie Freiheitskämpfer. Im Kampf gegen das Böse sind ihnen, weil sie die unsrigen sind, alle Mittel erlaubt, denn jedes Mittel, mit dem man gegen das Böse kämpft, ist ein gutes Mittel, während die Mittel der Bösen nur böse Mittel sein können. Weil die albanisch-islamisch-separatistischen UCK-Kämpfer im Kosovo gegen die Serben kämpften - also gegen Deutschlands Feinde schon im Ersten und Zweiten Weltkrieg - und weil sie Jugoslawien zerschlagen wollten, das nach den in Deutschland vorherrschenden Interessen und Meinungen ein unerwünschtes Überbleibsel des von Deutschland verlorenen Zweiten Weltkriegs war, mussten sie uns als Freiheitskämpfer erscheinen. Ihre Überfälle, Brandstiftungen, Morde dienten der guten Sache, während alles, was die jugoslawischen Sicherheitskräfte dagegen unternahmen, aus deutscher Sicht nur Terror sein konnte. Die Propagandasprache richtet sich eben nach den jeweiligen Interessen und Machtverhältnissen. Danach sortiert und ordnet und klärt sie, was gut und was böse ist. Gut ist die bestehende Herrschaft, der die Propaganda (als Mittel der Bestandssicherung) dient.

Propaganda ist ursprünglich ein kirchlicher Begriff. Gemeint war die Verbreitung des christlichen Glaubens. Nichtgläubige sollten zu Gläubigen gemacht werden. Unter Aufklärung, einem Wort mit mancherlei Bedeutungen, verstehen wir vor allem eine geistige Bewegung, die sich gegen das Gottesgnadentum des Absolutismus richtete, die Menschenrechte einforderte, darunter das Recht der freien Meinungsäußerung, Freiheit von Zensur. Aufklärung in diesem Sinne war und ist herrschaftskritisch.

In der heutigen Propagandasprache ist Propaganda ein böses Mittel der anderen, der Bösen. Die Propaganda, die man selber betreibt, nennt man Aufklärung, Information, Kommunikation. Hauptleistung der Propaganda ist die Verteufelung der anderen Seite, gegen die dann, wenn sie als ganz und gar böse gefürchtet wird, jedes Mittel recht erscheint.

Kriegspropaganda verdunkelt. Der Feind soll uns nicht erkennen, nicht treffen können. Wir sollen, um kriegsbereit zu werden und zu bleiben, das Gesicht des Feindes nicht erkennen; denn sobald man ihm ins Gesicht sieht, seine Stimme hört, wächst die Hemmung, ihn zu töten. Tarnung und Täuschung gehören zur Kriegspropaganda. Daraus kann sich ein Problem für die Befehlshaber ergeben - wenn sie ihrer eigenen Propaganda verfallen.

Geheimdienste und staatlicher Terror

Hier setzt in Krisen- und Kriegszeiten die Aufgabe der Geheimdienste an: Sie sollen über den Gegner (seine Stärke, seine Motive, seine Absichten etc.) aufklären. ,,Hauptverwaltung Aufklärung" nannte sich z.B. der Auslandsgeheimdienst der DDR. Er brachte brillante Aufklärer hervor, so den langjährigen Spion im NATO-Hauptquartier ,,Topas", Rainer Rupp, der jetzt in der jungen Welt die informativsten Konflikt-Analysen liefert. Fatal kann es werden, wenn sich in einem Geheimdienst alle erdenklichen Aufgaben vermengen wie Aufklärung, Desinformation und sogenannte Spezialaufträge, sprich Terror.

Der große amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA war z.B. verantwortlich für den Tonking-Zwischenfall: Er erfand einen Angriff nordvietnamesischer Schiffe in der Bucht von Tonking. Die politische und militärische Führung der USA brauchten diesen Anlass für die geplante Bombardierung der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi und der Hafenstadt Haiphong. Jahre später wurde im US-Kongress zugegeben, dass die Nachricht eine Lüge gewesen war. Das Geständnis wurde zu den Akten genommen. Mit Aufklärung hatte diese Geheimdienstaktion nichts gemein, im Gegenteil. Es gibt viele andere Beispiele für schmutzige, blutige, ja massenmörderische CIA-Operationen. Zugleich ist die Geschichte der CIA auch eine Geschichte von Selbsttäuschungen, nicht nur in Vietnam, auch in Iran, Somalia und anderswo.

Ausgerechnet die USA und gar ein Gebäude wie das Pentagon, also das US-Kriegsministerium, zum Hort von Zivilisiertheit zu erklären, setzte eine große Verdrängungsleistung voraus. Denn zu einem solchen Bild der Führungsmacht der Freien Welt passte es z.B. nicht, dass 1973, ebenfalls an einem 11. September, nach einem in Washington ausgeklügelten Plan das chilenische Militär putschte und den Präsidentenpalast in Santiago de Chile zerbombte; dass die US-Luftwaffe angeblich zur Vergeltung für einen Anschlag auf eine Diskothek in Berlin die libyschen Städte Tripolis und Benghasi angriff und dabei u.a. eine Nichte des Präsidenten Ghaddafi tötete; dass sie angeblich zur Vergeltung für Anschläge auf US-Botschaften in Kenia und Tansania eine pharmazeutische Fabrik im Sudan zertrümmerte, wodurch vermutlich Tausende Menschen (darunter Kranke, die notwendige Medikamente nicht mehr erhielten) ihr Leben verloren; dass die CIA, wie sie später vor einem Untersuchungsausschuss des US-Kongresses zugab, mehrmals Mordanschläge auf den Cubanischen Präsidenten Castro verübte, die aber sämtlich fehlschlugen; dass CIA-Chef William Casey 1985 in Beirut einen mit Sprengstoff vollgestopften Wagen vor dem Haus des Hisbollah-Politikers Scheich Fadlallah explodieren ließ (80 Tote, 200 Verletzte), obwohl Präsident Gerald Ford 1976 nach Aufdeckung der Anschläge gegen Castro weitere geheimdienstliche Mordaktionen untersagt hatte; dass die USA in Panama den ihr genehmen Politiker Noriega als Präsidenten etablierten und ihn dann, als er sich nicht mehr gefügig zeigte, kidnappte (diese Militäraktion forderte 2000 Tote); dass sie von Honduras aus Todesschwadronen gegen eine ihnen nicht genehme Regierung in Nicaragua finanzierten, ausbildeten und ausrüsteten (der damalige US-Botschafter in Honduras, John Negroponte, Hauptverantwortlicher für den Massenmord der ,,Contras", ist jetzt Botschafter ausgerechnet bei den UN); dass sie, um eine relativ aufgeklärte, relativ fortschrittliche afghanische Regierung zu beseitigen, mit viel Geld und Waffen islamistische Fanatiker mobilisierten, die Kabul in Schutt und Asche legten; oder dass sie seit zehn Jahren einen mit Lügenpropaganda begonnen Krieg gegen den einst von ihnen gegen Persien aufgerüsteten Irak führen, wo die Zahl der Todesopfer von Bomben, Minen oder Hunger inzwischen weit über eine Million hinausgeht.

George W. Bush repräsentiert geradezu idealtypisch die schmutzig-imperialistische Linie der US-Politik. Sein Vater war als CIA-Chef und US-Präsident an solchen Scheußlichkeiten maßgeblich beteiligt. Die Familie Bush hat seit Jahrzehnten mit dem Öl-Business (zeitweilig in Partnerschaft mit dem Bruder Osama bin Ladens) weit mehr zu tun als mit Demokratie und Menschenrechten. George W. Bushs Bekanntheitsgrad im Präsidentschaftswahlkampf basierte auf Hunderten von Todesurteilen, die er als Gouverneur in Texas vollstrecken ließ. Seine Wahl zum Präsidenten mit weniger Stimmen, als sein Gegenkandidat erhielt, hinterließ viele Zweifel, vor allem wegen der Stimmenauszählung in Florida, wo sein Bruder Gouverneur ist. Dass sich ein solcher Politiker als Repräsentant des Guten in der Welt aufspielt und alle, die seine Politik nicht unterstützen, als Unterstützer des Bösen verleumdet, ist eine groteske Zumutung an Vernunft und Moral, entspricht aber dem Grundmuster aller Kriegspropaganda. Schlimm und gefährlich für die ganze Weltpolitik wird es, wenn die stärkste europäische Macht sich dieser Hybris durch ,,uneingeschränkte Solidarität" kritiklos unterwirft und andere, schwächere Staaten auf das gleiche Verhalten einschwört.

Geistige Uniformität

Nie wäre lebendige Demokratie mit intensivem Austausch von Informationen und Argumenten so notwendig wie in Zeiten großer Kriegsgefahr. Doch gerade in solchen Zeiten verstärkt sich der Druck zum Konformismus, zur Uniformierung des Denkens. Dieser Druck wirkt so regelmäßig wie zuverlässig, wenn einem Volk eingeredet wird, es sei Opfer eines von außen kommenden Überraschungsangriffs von noch nie dagewesener Brutalität. Damit ein Volk zum Angriffskrieg bereit wird, muss es glauben gemacht werden, es müsse sich verteidigen. Jeder Angriffskrieg wird daher als Verteidigungskrieg getarnt. Ein Beispiel, den angeblichen Tonking-Zwischenfall, habe ich schon genannt. Aber auch das Nazi-Regime hätte den Zweiten Weltkrieg nicht ohne solche Lügen beginnen können. Die deutschen Zeitungen waren damals voll von scheußlichen polnischen Verbrechen an Deutschen, und am 1. September 1939 verkündete Hitler vor dem Reichstag: ,,Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen." (Nicht einmal die Uhrzeit stimmte; der angebliche polnische Überfall auf den Sender Gleiwitz war vorgetäuscht. Geradezu erleichtert titelte der Berliner Kurier aus dem Bertelsmann-Konzern nach dem Beginn der Bombardements gegen Afghanistan in fettesten Buchstaben: ,,Amerika schlägt zurück" - als hätte ausgerechnet Afghanistan, eins der ärmsten Länder der Welt, die USA angegriffen.

Im Grunde weiß jeder, dass die Menschen eines Volkes nicht besser sind als die Menschen anderer Völker und dass kein Staat einen anderen angreifen darf. Durch die Mär, angegriffen worden zu sein, ändert sich diese Einstellung. Die angeblichen Angreifer sind die Bösen, die wir brauchen, damit wir selber die Guten und zum Töten berechtigt sind. Je größer das den Unsrigen, also uns angetane Leid, desto härter dürfen wir zuschlagen. Und desto weniger gibt es über unsere Reaktion noch zu diskutieren.

Die Bilder der hohen Türme, die in sich zusammensinken, die Bilder der verzweifelt in den Tod springenden Menschen, diese immer wiederholten Bilder, das Entsetzen darüber - und dann gleich damit konfrontiert die Bilder jubelnder Palästinenser. Das waren zwei Welten: Trauer und Häme. Zivilisiert und barbarisch. Gut und böse. Das ARD-Magazin Panorama deckte später auf, was es mit den vor Freude tanzenden Palästinensern auf sich hatte: Die Kinder und die dicke Frau hatten sich nicht über das grausige Geschehen in New York gefreut. Ihnen waren Süßigkeiten und Kuchen für fröhliches Treiben vor der Kamera versprochen worden. Dazu Clara Thümmler in Ossietzky 20/01: ,,Eine zweite Kamera hatte den Vorgang aus anderem Blickwinkel festgehalten. Da wurde dann die Inszenierung der Show ganz deutlich: Unbeteiligte Zuschauer, ein Einschreier, mehrmalige Wiederholungen, schließlich das lapidare Ende der Veranstaltung, und die dicke Frau geht gelassen davon. Von einer Entschuldigung der Sender, gerichtet am besten an das gesamte palästinensische Volk sowie an die irregeführte Weltöffentlichkeit, war bisher nichts zu hören. Auch nicht von einer Anzeige wegen Volksverhetzung."

Mit großem Aufwand wurde weltweit Trauer inszeniert und streng überwacht. Ein deutscher Unternehmer entließ augenblicklich einen ausländischen Beschäftigten, der sich an einem von ihm angeordneten Trauerritual nicht beteiligen wollte. Ähnlich erging es dem Siegener Gesamtschullehrer Bernhard Nolz, Bundessprecher der ,,PädagogInnen für den Frieden" und Geschäftsführer des Siegener ,,Zentrums für Friedenskultur". In Abstimmung mit seiner Schulleitung hatte er auf einer Kundgebung von 3000 Siegener Schülern ,,Gegen Terror, Gewalt und Krieg" eine Rede gehalten, worauf die Bild-Zeitung mit der Überschrift reagierte: ,,Skandal bei Friedens-Demo: Lehrer greift Amerikaner an". Der verteidigungspolitische Sprecher der CDU im Bundestag, Paul Breuer, warf Nolz vor, ,,dass er eine klammheimliche Freude über das in New York Geschehene empfindet. Dieser Mann muss aus dem Staatsdienst entfernt werden." Im Fernsehen wusste es Breuer noch genauer: Nolz sei ein ,,Rad am Wagen des internationalen Terrorismus". Und die Siegener CDU sprach in der Westfälischen Rundschau von einem ,,Netzwerk von Gesinnungstätern" und einer ,,unheimlichen Allianz mit den Terroristen". Nolz, gegen den prompt disziplinarrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden, hatte in seiner Rede zur friedlichen Konfliktlösung gemahnt, die Einschaltung der UNO gefordert und in diesem Zusammenhang den Satz gesagt, den Bild für antiamerikanisch erklärte: ,,Seit vielen Jahren beeinträchtigen die USA die Arbeit der Vereinten Nationen, das reichste Land der Welt kommt seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nach und bezahlt seine Beiträge nicht; derselbe Staat stellt jetzt 40 Milliarden Dollar bereit, um aufzurüsten und andere Länder mit Krieg zu überziehen." Auch drei Lehrerinnen in Sachsen, die sich nicht auf die übliche primitive Weise an dem verordneten Proamerikanismus im Sinne kritikloser Zustimmung zur US-amerikanischen Regierungspolitik beteiligten, wurden disziplinarrechtlich belangt, zwei von ihnen an andere Schulen versetzt (s. Horst Bethge: ,,Geistige Uniformierung" in Ossietzky 20/2001). So wurde schnell klargestellt: Wer nicht für den US-amerikanischen ,,Krieg gegen den Terror" ist, der ist für den Terror und muss damit rechnen, als Feind bekämpft zu werden. So wird ein Totalkonsens erzwungen, der jede Diskussion zu ersticken trachtet.

Hasstiraden entluden sich gegen Ulrich Wickert, der in der Zeitschrift Max festgestellt hatte, Bushs und bin Ladens Denkstrukturen seien ,,die gleichen". Politiker forderten, Wickert müsse als Moderator der ARD-,,Tagesthemen" abgelöst werden. Zumindest müsse er sich entschuldigen - was er auch brav tat.

Die Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk verbot eine Diskussion im Offenen Kanal Offenbach am 8. Oktober, ,,da wir wegen der zeitlichen Nähe zu den Luftangriffen auf Afghanistan das Thema Krieg für zu emotional hielten". Moderator Saeed Habibzadeh hatte in einer früheren Sendung vor der Gefahr gewarnt, dass die gesamte militärische Macht in der Hand eines Menschen liege, nämlich des US-amerikanischen Präsidenten.

Die Informationen aus den USA über die Anschläge in New York und Washington blieben äußerst dürftig und widersprüchlich. Um so mehr stramme Gläubigkeit wurde und wird uns abverlangt. Dass bin Laden der Schuldige an den Anschlägen ist, stand für die Medienöffentlichkeit vom ersten Tage an ebenso fest wie die Zielrichtung von Vergeltungs- bzw. Anti-Terror-Aktionen: Afghanistan, weil dieses Land bin Laden beherberge. Zweifel daran waren unzulässig - in den USA wie in Deutschland. Wenig beachtet wurde die Erinnerung daran, dass nach dem Anschlag auf ein Regierungsgebäude in Oklahoma City 1995, wo auch schon Hunderte Menschen zu Tode gekommen waren, ebenfalls zunächst radikale Mohammedaner als Täter zu gelten hatten, bis sich herausstellte, dass ein nazinaher Veteran der US-Armee, Timothy McVeigh, das Gebäude in die Luft gesprengt hatte. Während die Zahl der vermuteten Toten in den Trümmern des Welthandelszentrums in knappen Meldungen immer weiter reduziert wurde und während auch nur beiläufig Erwähnung fand, dass zwar die Goldvorräte aus dem Unterbau geborgen seien, die Bergung der Leichen dagegen noch Monate dauern könne, tauchten gelegentlich Hinweise auf Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit den Anschlägen auf; aber offenbar wollte oder durfte kein Reporter aus den großen Medienunternehmen ihnen nachgehen. Warum denn auch, wenn doch bin Laden längst als Schuldiger feststand und die angeblichen Tatausführenden (die angeblichen Flugzeugentführer hatten ihre militärische Pilotenausbildung in den USA erhalten, die stammten nicht aus Afghanistan) durch die Anschläge angeblich sich selber gerichtet hatten.

Dass bin Laden die Verantwortung bestritt, interessierte nicht weiter, denn da er ja nun der Teufel in Person ist, glauben wir ihm kein Wort, das uns nicht in den Kram passt. Ähnlich ungehört blieb das geistliche Oberhaupt der in Afghanistan regierenden Taliban-Bewegung, Omar. Auf das Verlangen nach Auslieferung bin Ladens antwortete er mit der Bitte um Beweise für dessen Schuld, worauf sich die USA nicht einließen. Die Labour-Regierung in London veröffentlichte ein Papier mit angeblichen Indizien für bin Ladens Schuld, räumte darin aber selber ein, dass es für eine Anklage bei Gericht nicht ausreiche. Doch was nicht ausreicht, bin Laden einen ordentlichen Prozess zu machen, wurde in Washington, London und Berlin für ausreichend erachtet, gegen ein großes Land und ein sehr armes, durch frühere militärische Interventionen und von außen angeheizten Bürgerkrieg extrem geschwächtes Volk den Bombenkrieg zu beginnen.

Washington erreichte, dass der UN-Sicherheitsrat den USA das Recht auf Selbstverteidigung zusprach und dass die NATO den Bündnisfall beschloss - beides unter dem Vorbehalt, dass Beweise für die Beteiligung eines anderen Staates an den Anschlägen vorgelegt würden, was bisher nicht geschah. Der Verdacht liegt nahe, dass, wenn die USA etwas vorlegen würden, daraus auf eine Verstrickung der US-Regierung zu schließen wäre. Wenn aber keine Beweise vorgelegt werden und wenn wir darauf verzichten, wäre das ein Blankoscheck für jedwede Militäraktion.

Die ARD-Tagesthemen ersetzten die Beweise durch plumpe Manipulation: Von bin Ladens Satz, die USA seien nicht sicher, solange Irak und Palästina nicht sicher seien, ließ Moderatorin Anne Will die Hälfte weg, so dass nur etwas übrig blieb, das so klang, als hätte bin Laden den Krieg erklärt. Diese Manipulation wurde gleich zweimal wiederholt. Anrufer, die sich bei der Redaktion beschweren wollten, wurden in einem Callcenter abgewimmelt.

Notwendige Fragen

Viele Fragen bleiben offen. Fast alle wichtigen Fragen sind in den meisten Medien tabuisiert. Aber wenn es um Krieg geht, um einen, wie die USA ankündigen, jahrelangen Krieg, an dem sich die ganze Welt beteiligen soll, also um den Dritten Weltkrieg, kann nicht genug gefragt und nachgefragt und können die Fragen nicht skeptisch, nicht misstrauisch, nicht argwöhnisch genug formuliert werden:

Was sind die Kriegsgründe? Der Vergeltungswunsch einer gekränkten Supermacht? Aber dann müsste eben erst einmal geklärt sein, wer die Anschläge verübt hat, ob wirklich ein anderer Staat daran mitgewirkt hat und ob nicht, wie Boris Kargalitzky zu bedenken gab, logistisch nur die USA selber dazu imstande waren. Treffen Hinweise zu, dass Planungen für eine militärische Intervention der USA lange vor dem 11. September begonnen hatten? Ist in diesem Zusammenhang vielleicht Rudolf Scharpings Hinweis hilfreich, in den angrenzenden Ländern lagerten 70 Prozent der Öl- und 40 Prozent der Gasvorräte der Welt?

Wer ist der Kriegsgegner? Der Milliardär bin Laden, der ohne dubiose Geschäfte mit den USA nie geworden wäre, was er ist (aber auch darüber, was er ist, wissen wir bis heute wenig, weil die Direktive, ihn nicht zu Wort kommen zu lassen, weitgehend befolgt wird)? Oder eine Organisation namens Al Quaeda, über die wir noch weniger erfahren? Oder die in Afghanistan regierende Taliban-Bewegung? (Über sie wissen wir, dass sie Frauen zwingt, sich zu verschleiern, was uns unsympathisch, aber nach der Charta der Menschenrechte nicht verboten ist; wir wissen auch, dass sie Buddha-Figuren gesprengt hat, was ich, ohne Buddhist zu sein, abscheulich finde, aber nicht anders bewerte als das Abfackeln vieler mittelalterlicher serbisch-orthodoxer Kirchen und Klöster im inzwischen größtenteils ethnisch gesäuberten NATO-Protektorat Kosovo durch die islamischen Albaner. Was wir über die Taliban Schlimmes wissen, geht jedenfalls nicht über das hinaus, was über Kräfte der oppositionellen Nord-Allianz in Afghanistan bekannt ist, die nun von den USA als Bodentruppen gegen sie eingesetzt werden, um sie zu vernichten.) Oder der Staat Afghanistan? Und welche weiteren Staaten - denn der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz bekundete die Absicht, Staaten auszuschalten (,,ending states")? Oder der Terror im allgemeinen? Dann müsste sich der Krieg auch und gerade gegen die US-amerikanische Politik, gegen ihren Geheimdienst und ihr Militär selber richten.

Was sind die Kriegsziele? Dass es das einzige Ziel wäre, bin Laden zu ergreifen (wozu? Um ihn auf Dauer mundtot zu machen?) glaubt wohl niemand mehr. Ist der Krieg, wie Bush sagte, ein ,,Kreuzzug"? Ist also ein Ziel, in heute islamischem Gebiet das Kreuz aufzurichten? Gehört dazu wie bei den mittelalterlichen Kreuzzügen auch die Aneignung von Schätzen, die man in diesem Gebiet vorfindet? Wie verträgt sich die anti-islamistische Propaganda mit der Tatsache, dass die USA selber den Islamismus, speziell in Afghanistan, gepäppelt und bewaffnet haben? Klarheit über Kriegsgegner und Kriegsziele wäre die Voraussetzung für jede Entscheidung über Alternativen zum Krieg - aber diese Entscheidung haben die USA und die mit ihnen verbündeten Regierungen, namentlich die in Berlin, sofort durch die ständig wiederholte Beteuerung vorwegzunehmen versucht, es gebe ,,keine Alternative" zum Krieg.

Mit wem verbündet man sich zu diesem Krieg - abgesehen von der sogenannten Nord-Allianz? Wie wirkt es sich auf das NATO-Bündnis aus, wenn die US-Regierung die anderen Mitgliedsstaaten selektiv informiert und einbezieht? Welche Rolle erhält das türkische Militärregime, dessen Umgang mit Minderheiten ein Schulbeispiel für innerstaatlichen Terrorismus ist? Welche Rolle erhält das pakistanische Militärregime - nach innen, aber auch z.B. im Verhältnis zu Indien? Welche Rolle bleibt den Vereinten Nationen? Was wird aus dem Völkerrecht? Und aus den Plänen für einen Internationalen Strafgerichtshof, den die USA offenkundig nicht wünschen, weil sie befürchten, selber dort angeklagt werden zu können? Und aus den Plänen für eine weltweite Konvention gegen Terrorismus, über die man sich ebenfalls bisher nicht mit den USA verständigen konnte?

Wie verläuft der Krieg? Was wir darüber erfahren, stammt im wesentlichen aus den Angaben der US-Regierung in Washington sowie aus dem Hotel Marriott in Islamabad, wo viele Journalisten aus aller Welt einquartiert sind, die außer gezielten Gerüchten wenig weiterzugeben haben. Recherche findet kaum statt, aber alle Journalisten tun so, als wüssten sie Bescheid. Jede Nachricht kann erlogen sein - vor allem wenn sich die Medien ausschließlich auf Angaben einer Seite verlassen. Auch mit Bildern kann man lügen, wie wir aus früheren Kriegen wissen, sogar besonders wirkungsvoll, vor allem wenn sie suggestiv wiederholt werden wie die Bilder der jubelnden Palästinenser. Zwar werden noch gelegentlich - trotz erklärten Unwillens der US-Regierung - Aufnahmen eines anscheinend nicht US-hörigen arabischen Senders übernommen, und wir erhalten auch kurze Statements des Taliban-Botschafters in Pakistan, aber wir können uns nicht mehr aus Taliban-Sendern informieren (falls deren Sendungen in hiesigen Medien überhaupt ausgewertet würden), nachdem diese Sender zerstört worden sind. Die Zerstörung von Sendern ist eine Hauptmethode heutiger Kriegführung. Man macht dadurch die Gegenseite mundtot; zugleich richtet man eigene Propagandasender ins Kriegsgebiet, um die Bevölkerung zu verwirren (nach eigener Darstellung: um sie aufzuklären). Diese Kriegführung aus dem Äther mit Hetz- und Lügenpropaganda hat einst den Krieg um Nicaragua entschieden (s. Wilhelm Kempf: ,,Medienkrieg oder Der Fall Nicaragua", Berlin/Hamburg 1990), und hatte wesentlichen Einfluss auf den Krieg um Jugoslawien (s. Eckart Spoo in ,,Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien", hg. von W. Richter/E. Schmähling/E. Spoo, Schkeuditz 2000).

Mit welchen Methoden führen die USA den Krieg? Bush kündigte wenige Tage nach dem 11.9. an, es werde ,,dramatische Militärschläge geben, die man im Fernsehen sehen wird, und verdeckte Aktionen, die selbst im Erfolgsfall geheim bleiben werden". Dass das Pentagon nach ausdrücklicher eigener Ankündigung im Krieg lügt, wie es schon in früheren Kriegen gelogen hat, verwundert kaum noch, aber welche Ungeheuerlichkeiten verbergen sich hinter Bushs Entscheidung für Aktionen, die auch im nachhinein, auch im Erfolgsfall geheim bleiben sollen? Dass völkerrechtlich geächtete Waffen eingesetzt werden, ist bereits bekannt. Streubomben ebenso wie Flächenbombardements sind übrigens mit dem Propagandabild eines ,,chirurgisch sauberen Krieges" mit ,,gezielten Luftschlägen" unvereinbar.

Welche Schäden werden in diesem Krieg angerichtet? Welche Opfer fordert er (bzw. fordern die USA und die anderen angreifenden Staaten) vom afghanischen Volk? Bei dem US-amerikanischen Fernsehsender CNN, von dem ein Großteil des bei uns gezeigten Bildmaterials stammt, erteilte Walter Isaacson, der Chef, den Redaktionen die Order, Opfer dürften nicht in den Mittelpunkt der Berichterstattung gestellt werden. Bilder der Verwüstung in afghanischen Ortschaften müssten stets mit dem Hinweis verknüpft werden, die Taliban hätten Terroristen Unterschlupf gewährt. Mit dem Wort ,,Kolalateralschäden", mit dem die NATO-Propaganda im Krieg gegen Jugoslawien die Weltöffentlichkeit irreführte, verschont man uns jetzt. Punktgenau hatten dort die NATO-Bomber Chemie-Anlagen, Lebensmittel-Fabriken, Kraftwerke und viele andere zivile Einrichtungen, allein 600 000 industrielle Arbeitsplätze, zerstört und das Land um Jahrzehnte zurückentwickelt. Ebenso punktgenau wurde jetzt in Kabul u.a. das Zentrallager des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz durch mehrere Bomben getroffen. Das extensive Programm der Welthungerhilfe in Afghanistan ist weitgehend unterbunden; Millionen Menschen sind vom Hunger bedroht; aber uns werden Bilder von - in geringer Zahl abgeworfenen - US-Lebensmittelpäckchen gezeigt, als wäre der Krieg eine humanitäre Maßnahme.

Wie hoch sind die Kriegskosten? Wie viel will allein die Bundesrepublik Deutschland dafür aufwenden? Welche anderen Aufgaben will die Bundesregierung dafür vernachlässigen?

Das Fundament der Zivilgesellschaft wird untergraben

In Deutschland werden die USA oft als Musterland einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft dargestellt. Eine offene Gesellschaft, aufgeklärt, zivilisiert. In diesem Sinne interpretierte Bundeskanzler Gerhard Schröder die Anschläge auf das Welthandelszentrum in New York und das Pentagon in Washington sogleich als Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt, und ähnlich wie Schröder ,,uneingeschränkte Solidarität" beteuerte, bekannten sich nicht wenige Deutsche spontan als Amerikaner, indem sie beispielsweise US-Flaggen aus den Fenstern hängten.

Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Norman Birnbaum hat (in den Blättern für deutsche und internationale Politik 11/2001) einige jetzt hervorgetretene Mängel der US-amerikanischen Demokratie deutlich benannt: unkritische Medien, Zensur auf Veranlassung des Weissen Hauses, Kriegstreiberei vieler Kolumnisten in den tonangebenden Zeitungen der großen Medienkonzerne, keinerlei Fragen nach den Absichten des Präsidenten, keinerlei Diskussion über Alternativen, Diffamierung der Friedensbewegung, Hetze gegen jede Kritik am Präsidenten, als wäre sie subversiv oder gar landesverräterisch. Birnbaum spricht, selber noch ein wenig hochnäsig, von einem ,,schwindelerregenden Abstieg auf das Niveau einer jener ,gelenkten Demokratien` der Dritten Welt".

Und von solcher Meinungs- und Willensbildung, von solcher Information, von solchen Medien hängt unsere eigene Meinungs- und Willensbildung ab.

Öffentlichkeit und Demokratie und damit wesentliche Bürgerfreiheiten werden nun zu Kriegsopfern im eigenen Land derer, die sich am Krieg beteiligen. Aufklärung ist nicht von Behörden zu erwarten, sie muss von unten her geleistet werden. Aufklärung beginnt allemal damit, Fragen zu stellen, Widersprüche zu benennen, sich für die andere Seite zu interessieren, sich nicht einschüchtern zu lassen, sich nicht hysterisieren zu lassen. Die Hysterisierung ist längst im Gange, wie sich in den Diskussionen um die deutschen Anti-Terror-Gesetze zeigt, mit denen - obwohl Kanzler Schröder am 11. 10. versichert hatte: ,,Der Standard der inneren Sicherheit in Deutschland genügt höchsten internationalen Ansprüchen" - hauptsächlich die Kompetenzen der Geheimdienste erweitert werden sollen, deren Wirksamkeit gegen Terrorismus mehr als fragwürdig ist; jede zusätzliche Ermächtigung für sie beschädigt jedenfalls das Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie.

Hochgefährlich für jeden Anspruch auf Demokratie sind Pläne, das Parlament an der Entscheidung über den Krieg nicht mehr zu beteiligen oder die getroffene Entscheidung (wegen ,,Gefahr im Verzuge" oder aus ähnlichen jederzeit verwendbaren Gründen) nur nachträglich abnicken zu lassen. Wie versucht wird, Stimmen gegen den Krieg abzuwürgen, bekam sogar die IG Metall zu spüren. ,,Davon habt Ihr keine Ahnung!" empörte sich der Kanzler, und SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering erläuterte, es gebe ,,gewisse Regeln", nach denen sich so was verbiete.

Die ,,Enttabuisierung des Militärischen", auf die Schröder stolz ist, führt zur Tabuisierung des Zivilen. Je tiefer sich die Bundesrepublik Deutschland in den Krieg hineinstürzt, desto mehr trägt sie dazu bei, dass die zivilgesellschaftliche Substanz , die doch die ,,Überlegenheit" der ,,westlichen Welt" ausmachen soll, von innen heraus zerstört wird.

Eckart Spoo, Journalist, Chefredakteur der Zeitschrift Ossietzky, lebt in Berlin