Sozialismus neu verstehen

Eine erneuerte sozialistische Theorie muß eine politische Antwort auf den Kollaps des teleologischen Marxismus geben. Nur eine sozialistische Ethik wird die radikalsten Impulse des ursprünglichen Pr

Das Gespenst geht nicht mehr um und beunruhigt niemanden mehr. Die Bedingungen haben sich verändert - ökonomisch, politisch und ideologisch. Der kapitalistische Produktionsprozeß ist noch immer widersprüchlich und wirkt polarisierend. Versuche, dies zu ändern - ob mittels Regulierung oder Deregulierung -, haben stattgefunden. Die Felder der Auseinandersetzungen sind andere geworden, und Ausbeutung sieht nicht mehr so aus, wie sie in den Romanen von Dickens, Zola oder Upton Sinclair dargestellt wurde. Der ›Klassenfeind‹ ist längst nicht mehr der Kapitalist in Zylinder und Pelzmantel oder der rassistische Imperialist aus alten Zeiten. Das Gesicht des Feindes hat mildere Züge angenommen. Arbeiter haben deutliche und greifbare Vorteile innerhalb der kapitalistischen Demokratien gewonnen.

Ironischerweise hat jedoch der Erfolg von Gewerkschaften und Arbeiterparteien, den Kapitalismus zu bändigen, ihren einst so selbstverständlichen Daseinszweck - Teilhabe zu erkämpfen - erschüttert. Auch politisch haben sich große Veränderungen vollzogen. Im Westen und heute auch im Osten hat sich die Mehrheit der Nationen im Prinzip dazu verpflichtet, republikanische Institutionen aufzubauen. Zusammen mit einer Garantie für politische Rechte wurde sichergestellt, daß Arbeiter heute weder sich selbst als ›vaterlandslose Gesellen‹ betrachten müssen, noch von ihren Gegenspielern als solche behandelt werden können.

Mit dem Anspruch der Partei auf Unfehlbarkeit verflüchtigte sich auch die Überzeugung, daß kapitalistische Krisen und sozialistischer Fortschritt im Innersten miteinander verbunden sind. Im Zusammenhang mit der zunehmenden ökonomischen Flexibilität des Kapitalismus und dem Wachstum einer ›Kulturindustrie‹ verringerte ein sich mehr und mehr durchsetzender politischer Instrumentalismus jene ideologischen Spannungen, die durch die einstmals mächtige proletarische Bewegung erzeugt wurden. Es ist eine Tatsache, daß die Massen nicht mehr in der gleichen Weise vom Klassenbewußtsein ergriffen werden wie in vergangenen Zeiten.

Die Praxis in den ›real existierenden‹ sozialistischen Staaten hat die Annahme bestätigt, daß eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse nichts dazu beizutragen vermag, Arbeit inhaltsreicher und Machtausübung erträglicher zu machen. Es sind daher nicht wenige der Auffassung, daß der Sozialismus lediglich mehr von demselben anbietet wie der Kapitalismus - eine Auffassung, die ursprünglich auf verschiedene Weise von Nietzsche und Weber vertreten wurde.

Andere dagegen verweisen darauf, daß selbst die Möglichkeit, alternative Sichtweisen zu entwickeln, durch die integrative Kraft fortgeschrittener Industriegesellschaften bedroht und in Frage gestellt ist. Nicht anders als die optimistischen Annahmen von früheren Sozialreformern sind nun auch die kühnen Annahmen der Marxschen Teleologie vor der Geschichte bloßgestellt worden.

Wenn das sozialistische Projekt weiterhin in Theorie und Praxis relevant bleiben soll, so wird das von seiner Fähigkeit abhängen, den veränderten Umständen Rechnung zu tragen. * Das schließt jedoch ein, die Theorie von ihren teleologischen Fesseln zu befreien. Es gilt, jenes - lange unterdrückte - demokratische Konzept wieder zu beleben, daß Sozialismus nicht mit einer ganz bestimmten Form politischer Organisation oder institutionellen Arrangements gleichgesetzt werden kann. In genau diesem Sinne wäre es legitim, von einem ›entfesselten‹ Sozialismus zu sprechen.

Wenn man eine neue sozialistische Position gewinnen will und besonders den emanzipatorischen Charakter des sozialistischen Projekts hervorheben möchte, so ist es zunächst erforderlich, jene politischen und ethischen Werte zu würdigen, die das ursprüngliche Projekt inspirierten. Es gilt, die Bedeutung dieser Werte für die Freiheit des Subjekts zu zeigen und jene Probleme herauszustellen, die die Verwirklichung dieser Werte behindern. Ein solches Herangehen erlaubt es, die traditionellen Forderungen nach Gleichheit, Demokratie und Internationalismus mit neuem Leben zu erfüllen. Es sind diese Forderungen, die eine Grundlage dafür liefern, gegenwärtige Experimente in die historische Tradition sozialistischer Theorie und Praxis einzufügen. Sie sind es auch, die jene innere Beziehung herstellen, die zwischen den sozialen Bewegungen der Arbeiterklasse und den nicht verwirklichten Versprechen der einst revolutionären Bourgeoisie bestehen. All dies macht die reflexive Aneignung der Vergangenheit zu einer entscheidenden Aufgabe für die Zukunft des sozialistischen Projekts.

Sozialistische Ethik

Eine erneuerte sozialistische Theorie muß eine politische Antwort auf den Kollaps des teleologischen Marxismus geben. Aber weder eine Ontologie, noch eine, wenn auch modernisierte Festlegung auf Wissenschaftlichkeit und ebensowenig eine demokratische Ethik, die vom realen Produktionsprozeß abstrahiert, scheinen dieser Aufgabe gewachsen zu sein. Nur eine sozialistische Ethik wird die radikalsten Impulse des ursprünglichen Projekts wiederbeleben, dessen historische Fehler erkennen und seine zukünftigen Ziele bestimmen können. Die Entscheidung für eine solche Ethik hat allerdings einen hohen Preis.

Eine sozialistische Ethik wird nicht den einzig richtigen, den unfehlbaren Weg weisen können, der mit unbezweifelbarer Sicherheit zur Emanzipation führt oder praktisch die Verbindung von Mitteln und Zielen garantiert. Die politischen Schlußfolgerungen, die aus einer solchen Ethik hervorgehen, sind nicht alternativlos, keine ›eherne Notwendigkeit‹ vermag die Verwirklichung der emanzipierten Gesellschaft zu garantieren. Diese Ethik an die Stelle der Teleologie zu setzen, heißt daher, die Möglichkeit und nicht die Gewißheitins Zentrum sozialistischer Theorie zu rücken. Zusammen mit dem Glauben, der arbeitenden Klasse gehöre die Zukunft, wird daher auch ein spezifisches historisches Verhältnis von Theorie und Praxis verschwinden.

Eine solche Ethik kann keine Lösung für jedes private oder sozio-kulturelle Problem bieten. Ganz abgesehen von allgemeineren philosophischen Erwägungen, die praktischen Gefahren, die derartige Ambitionen in sich tragen, wären viel zu groß. Denn Dogmatismus tritt immer dann auf, wenn das unkritische Interesse, eine einzige ›Wahrheit‹ zu realisieren, an die Stelle der Versuche gesetzt wird, Bedingungen zu etablieren, die eine Suche nach Wahrheit fördern. Eine sozialistische Konzeption der Demokratie besteht daher lediglich darin, die formalen und materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, daß die Individuen in wachsendem Maße frei ihr Leben zu bestimmen vermögen und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen können. Beispielsweise vermag eine sozialistische Ethik, nur weil sie logischerweise darauf bestehen sollte, die Entscheidung über eine Abtreibung der Frau zu überlassen, nicht festzulegen, ob eine Frau eine Schwangerschaft tatsächlich abbrechen soll oder nicht. Analog gilt, daß eine solche Ethik, obwohl sie ganz offensichtlich säkularen Charakter trägt, sehr wenig über die persönlichen religiösen Überzeugungen aussagen kann - außer vielleicht, daß das Heilige keine privilegierten Einsichten in die Mechanismen des Profanen bietet und daß religiöse Institutionen nicht anders behandelt werden sollten als andere.

Auch wenn sie allen Formen des Denkens kritisch gegenübersteht, die Menschen zu verohnmächtigen suchen oder die Mystifikationen hervorbringen; auch wenn sie in der Lage ist, Entscheidungs- und Auswahlmöglichkeiten für Politik und Emanzipation anzubieten, ist sich diese Ethik stets jenes bereits von Hobbes benannten Problems der autoritären Konsequenzen bewußt, wenn versucht wird, persönliche ›Meinungen‹ gesetzlich zu regulieren. Eine sozialistische Ethik wird also ›öffentlichen‹ Charakter tragen. Sie geht von der Fähigkeit der Subjekte zur Reflexion aus, ohne die keine kritischen Urteile gebildet werden können. Das Subjekt wird daher als öffentliche Person unterstellt, die in der Lage ist, die Widersprüche einer gegebenen historischen Epoche zu erkennen und zu bearbeiten.

Eine so bestimmte Ethik negiert keineswegs, daß es eine freie individuelle Entscheidung ist, wenn und ob Subjekte bereit sind, Gegenseitigkeit zu praktizieren und sich für jene Werte einzusetzen, die jeder emanzipierten Ordnung vorausgesetzt sind. Sie geht aber davon aus, daß eine solche Wahl nicht im leeren Raum, sondern innerhalb eines spezifischen Kontextes getroffen wird. Die sozialistische Ethik stellt daher das Subjekt in die wirkliche Welt. Dadurch vermag sie jene Bedrückungen in den Blick zu nehmen, die in Übereinstimmung mit den von ihr vertretenen emanzipatorischen Werten Transformationen notwendig machen.

Um eine komplexe Kritik des jeweiligen Kontextes zu ermöglichen und um die gegebenen Bedingungen für eine emanzipierte Ordnung zu bewerten, muß diese Ethik ein praktisches Kriterium angeben können. Ein solches Kriterium wird weder auf ontologische noch auf wissenschaftliche Begründungen zurückgreifen können; seine Legitimität kann also weder daraus abgeleitet werden, daß es vor jeder Politik existiert, noch daher, daß es in einem traditionellen sozialen Zusammenhang begründet liegt. Eine solche Legitimität ist vielmehr logisch, historisch, spekulativ und politisch zugleich bestimmt: ›logisch‹ insofern, als jede emanzipatorische Ordnung die Anwendung dieses Kriteriums voraussetzt; ›historisch‹ insofern, als es den emanzipatorischen Zweck sozialistischer Praxis bestimmt; ›spekulativ‹ insofern, als es erlaubt, kritisch die emanzipatorische Qualität politischer Absichten zu bewerten und ›politisch‹ insofern, als es vermag, organisatorische Prinzipien zu benennen, mit denen materielle und formale Unterdrückungsstrukturen zu verändern sind.

Das ›praktische Kriterium‹ eines emanzipatorischen sozialistischen Projektes ist die demokratische Rechenschaftspflicht (accountability). Sie kann bestimmt werden als Schranke für die willkürliche Ausübung ökonomischer oder politischer Macht und ist folglich darauf gerichtet, Machtlose zu ermächtigen - das heißt, alle Angelegenheiten sind danach zu bewerten, welche Auswirkungen sie auf die Schwachen und Ungeschützten haben werden. Sozialistische Politik ist dann mehr als die althergebrachte Durchsetzung von Klasseninteressen. Denn einerseits haben nicht alle, die ihre Arbeitskraft verkaufen, auch tatsächlich ein Interesse daran, das Kapital demokratisch rechenschaftspflichtig zu machen, solange sie nämlich persönlich Macht über dieses Kapital haben sowie Informationen und Ressourcen monopolisieren können. Andererseits müssen arbeitende Menschen mit sehr unterschiedlichen Kulturen und Lebensstilen einbezogen werden. Eine Bewegung zur Demokratisierung der Macht über Kapital muß also die Interessen der Arbeitenden genauso wie die jener, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden, von Frauen, die sexistisch unterdrückt sind, oder auch der Opfer von Rassismus und Intoleranz einschließen. Eine moderne sozialistische Politik muß also ein viel breiteres Spektrum erfassen als nur traditionelle Klasseninteressen: deshalb ist die Ermächtigung der Schwachen ein herausragendes Ziel eines sozialistischen Verständnisses von Rechenschaftspflicht.

Wie bereits erwähnt, geht es nicht darum zu bestimmen, für welche Wahlmöglichkeiten sich das Individuum innerhalb der freien Ordnung entscheiden soll. Es geht vielmehr um das Hervorbringen der Bedingungen, die jedem Individuum dieselbe materiell und rechtlich fundierte Chance gewähren, persönliche Entscheidungen frei zu treffen. Allgemeine Ziele und besondere Interessen des einzelnen müssen sich nicht notwendig widersprechen. Im Gegenteil, es ist gerade die Herrschaft des Gesetzes als das Allgemeine, die die sicherste Garantie bietet, daß die Freiheit für das Besondere gewahrt und allgemeinen Notwendigkeiten Rechnung getragen wird.

Diese Ausdehnung des Prinzips eines liberalen ›Rule of Law‹ über den Bereich des Staates hinaus in die Gesellschaft erfordert eine Klassenperspektive. Weil die Vision formaler Gleichheit - die einst durch die revolutionäre Bourgeoisie entworfen wurde - beständig durch die Widersprüche des kapitalistischen Produktionsprozesses bedroht ist, kann eine sozialistische Ethik nicht auf bürgerlich-liberale Prinzipien reduziert werden. Gerade deshalb muß sie nicht nur gegen jede Form willkürlicher Machtausübung seitens des Staates angehen, sondern auch in den Akkumulationsprozeß eingreifen. Indem der Akkumulationsprozeß als wesentliche Sphäre verstanden wird, in der es die Schwachen zu ermächtigen gilt, ›fusioniert‹ sozialistische Ethik die allgemeinen, die verallgemeinerbaren Interessen des öffentlichen Lebens und die besonderen Interessen der arbeitenden Menschen. Der objektiv zentrale Punkt einer neuen, radikalen Form demokratischer Rechenschaftspflicht, dessen Transformation zugleich die Voraussetzung einer Ordnung ist, die den Bürgern erlaubt, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, ohne dem Zwang von materiellen Interessen und Bedingungen zu erliegen, ist nichts anderes als der Akkumulationsprozeß selbst.

Dazu bedarf es der Koordination unterschiedlichster Strömungen unter den Arbeitenden, die in einer Vielzahl unterschiedlichster Bewegungen und (Gewerkschafts)Organisationen aktiv sind. Es geht darum, eine neue Art Klassenstandpunkt zu prägen, der alle diese Strömungen einschließt, ohne eine bestimmte unter ihnen zu privilegieren. Dies läßt sich wahrscheinlich nur über die Schaffung eines Rechtssystems realisieren, das die Arbeitenden begünstigt. Der Klassenstandpunkt oder das Klasseninteresse würde sich dann als eine Art Instrument zur Transformation der Gesellschaft darstellen, das allerdings weder teleologische Gewißheiten verheißt noch dogmatisch verknöchert ist. Von daher handelt es sich bei der Neubestimmung des Klassenstandpunktes um ein zentrales Feld einer sozialistischen Ethik.

Angesichts der jeder Organisation eigenen Tendenz, bürokratisch zu versteinern, wird sich ›Sozialismus‹ - vom Standpunkt des Klassenideals - notwendigerweise in einen ›Prozeß‹ verwandeln müssen. Die Gefahr einer Versteinerung erfordert es, dem Experimentieren und der Phantasie Raum zu geben, um damit gegen alle starren Formen sozialer Organisation, die das Subjekt ganz offensichtlich einengen, vorzugehen. Der Springpunkt für eine sozialistische Ethik besteht also darin, jene sozialen Kräfte zurückzudrängen, die mittels instrumentaler Vernunft Freiheit zu unterdrücken suchen. Das erfordert ein ständiges Bemühen darum, die Entscheidungsfindung demokratisch-rechenschaftspflichtig zu gestalten und sie einer Reihe von Zielen unterzuordnen, die darauf orientieren, statt der privaten Profite das Reich öffentlicher Güter auszuweiten.

Demokratische Rechenschaftspflicht wird demnach zum Klassenproblem und eine Funktion des Klassenideals. Denn gerade unter kapitalistischen Verhältnissen hängt die Fähigkeit, die willkürliche, private Kontrolle über die Profite zu begrenzen, vom Grad politischer Einheit unter den Arbeitenden ab. Eine solche Einheit ist keine bloße Angelegenheit von Programmen. Klarheit über den Charakter sozialistischer Werte ist eine Voraussetzung - es geht um Werte wie ökonomische Gleichheit, Gegenseitigkeit und Internationalismus. Sozialistische Theorie wird sich folglich mit Institutionen und Ideologie beschäftigen müssen, und dies von einem Standpunkt aus, der auf eine enorm erweiterte Arena individueller Entscheidungsmöglichkeiten orientiert. Sozialistische Theorie ist demnach auf eine Ordnung gerichtet, in der die Subjektivität des Individuums sowohl durch formale Garantien als auch auf der Basis materieller Möglichkeiten gedeihen kann. Damit erweist sich das oben genannte ›praktische Kriterium‹ einer sozialistischen Ethik nicht nur als ein Kriterium der ›Kritik‹, sondern auch als ein ›positiver‹ Maßstab, insofern es die Vision einer Welt projiziert, in der Subjekte nicht mehr als Objekte, als bloße Mittel für instrumentale Zwecke behandelt werden.

Eine solche Vision zu verwirklichen, kann aber nur als Bestandteil eines fortlaufenden Prozesses angesehen werden. Das in der Tat ist gemeint, wenn davon gesprochen wird, daß das sozialistische Projekt auf einer permanenten Revolution der Subjektivität beruhen wird.

Zentralisation und Dezentralisation

Gewalt ist immer das letzte Zufluchtsmittel eines sozialistischen Projekts. Eine wahrhaft demokratische Ordnung, sei es eine Assoziation von Arbeiterräten oder eine Republik, beinhaltet notwendig die Anerkennung der Autorität der Gesetze (Rule of Law), einschließlich der ›Menschenrechte‹. Nur dadurch werden Konflikte rational lösbar und nur so wird es möglich, Versuchen willkürlicher Machtausübung friedlich entgegenzutreten. Die Herrschaft des Gesetzes aufrechtzuerhalten erfordert aber, sowohl die entsprechenden Institutionen zu etablieren als auch einen sozialen Konsens durchzusetzen. Hier nun scheint es dringlich, über die alte Überzeugung neu nachzudenken, daß eine emanzipatorische Konzeption der Demokratie auf einer Ordnung ohne Staat beruht. Dies war immerhin die Marxsche kommunistische Utopie, die auch die Anarchisten anstrebten.

Die bereits dargestellten Überlegungen verweisen darauf, daß Sozialismus bestenfalls die Befreiung des Subjekts zu fördern vermag. Die institutionelle Realität schließt jedoch aus, daß dies jemals vollständig zu verwirklichen ist.

Sozialismus ist weder eine vorherbestimmte Form oder Organisation, eine fixierte Anzahl politischer Strategien (policies), noch eine spezielle Daseinsform, denen sich eine gegebene sozio-historische Wirklichkeit anzupassen hat. Die Anerkennung dieser Tatsache hat tiefgehende Folgen für das Konzept vom ›Übergang‹.

Die Vorstellung vom Sozialismus, daß diese Etappe historischer Entwicklung den Weg zum ›Kommunismus‹ bereiten werde, hat seit ihrer Entstehung einschneidende Veränderungen erfahren. Marx und Engels gingen davon aus, daß sich der Übergang als sanft erweisen würde, da mit der "Expropriation der Expropriateure" der Klassenkampf aufhören und damit die Notwendigkeit verschwinden würde, einen Staat im traditionellen Sinne des Wortes zu errichten. Aber Marx und Engels weigerten sich auch, spezielle Institutionen festzulegen, die der neuen utopischen Ordnung ihren demokratischen Charakter erhalten könnten. Bescheidenheit war hier nicht die Ursache. Dahinter stand vielmehr vor allem eine gewisse Blindheit gegenüber der Möglichkeit, daß bürokratische Institutionen ein inneres Interesse entwickeln und stabilisieren können, Macht auf Kosten der ›herrschenden Klasse‹ zu akkumulieren.

Nachdem die im Denken Kautskys und der Zweiten Internationale verinnerlichte Verbindung von ›sozialer‹ und ›politischer‹ Revolution zerbrach, verstärkten sich unter Lenin und während der Herrschaft der Bolschewiki all jene defekten Züge, die dem ursprünglichen Standpunkt von Marx und Engels innewohnten. Durch die Bolschewiki wurde der Zuwachs an ökonomischer Stärke von einer politischen Liberalisierung und die Nationalisierung des Privateigentums von der Schaffung demokratisch rechenschaftspflichtiger Institutionen getrennt.

Die historische Lektion ist unabweisbar: Autoritäre Kontrolle darüber, was und wie produziert wird, ist keine bloße ›Verirrung‹ oder nur ein ›Fehler‹. Vielmehr wird dadurch der emanzipatorische Charakter des sozialistischen Projektes selbst direkt untergraben. Eine wirklich demokratische Kontrolle des Produktionsprozesses setzt daher aus der Sicht einer modernen sozialistischen Theorie die Rechenschaftspflicht politischer Institutionen voraus. Diese Position allein vermag den dynamischen Charakter des sozialistischen Projektes zu bewahren. Eine emanzipatorische Alternative zum Vorhandenen steht und fällt mit der Entscheidung, Institutionen zu schaffen, die formal und substantiell gemeinsam mit den Möglichkeiten für gleiche Teilhabe auch das Feld individueller Entscheidungen ausdehnen.

Hier ist auch die Bearbeitung des Widerspruchs zwischen Zentralisation und Dezentralisation angesiedelt. Die Geschichte liefert jedenfalls keine Rechtfertigung für eine unkritische Bejahung der Dezentralisation von Autorität, das heißt von Zuständigkeit und Verantwortung. Dezentralisierte Institutionen neigen dazu, schnell in Provinzialismus zu verfallen, persönliche Freundschaften und Beziehungen zu begünstigen, traditionelle Formen von Rassismus und Sexismus zu erhalten und eine Art Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit zu etablieren. Wenn Dezentralisierung als einzige Alternative angesehen wird, so kann das auch dahin führen, Entwicklungszwänge zu ignorieren, so die Tatsache, daß bestimmte Industrien - wie zum Beispiel die Luftfahrtindustrie - durch ihre Funktionsweise für die lokale Steuerung und Kontrolle ungeeignet sind.

Abgesehen vom Staat, dessen Beseitigung in einer radikalen Dezentralisierung ihre Schatten voraus wirft, könnte einzig der Markt eine Koordinierung der industriellen Einheiten bewerkstelligen. Da aber Marktentscheidungen letzten Endes auf autonomen individuellen Wahlentscheidungen beruhen, bedeutet dies, daß die einzige reale Alternative zu staatlicher Koordinierung überhaupt keine Koordinierung wäre. Das hieße, eine vermeintlich radikale kommunistische Gemeinschaft anzustreben, die blinden Marktkräften unterworfen wäre.

Einen gewissen Grad von Zentralisation als notwendig anzuerkennen, schließt nicht aus, Apathie zu kritisieren oder ziviles Engagement zu ermutigen. Demokratische Rechenschaftspflicht schließt auf der Ebene der zentralen Autorität ein, die legitimen Rechte besonderer Interessengruppen zu respektieren. Anhänger der dezentralistischen Vision können nicht einfach die Augen vor der Tatsache verschließen, daß in jeder Form moderner sozialer Organisation zwischen den einzelnen lokalen Einheiten Konflikte entstehen und daß spezifische Agenturen der Macht gebraucht werden, um diese Konflikte zu lösen und Entscheidungen durchzusetzen. So verschiedenartige Denker wie Machiavelli und Kant haben nicht zufällig in der Auffassung übereingestimmt, daß ein Ziel zu verfolgen einschließt, entsprechende Mittel zu akzeptieren.

Nirgendwo zeigt sich dies schlagender als auf dem Gebiet der Ökologie. Umweltschutz ist keine rein örtliche Angelegenheit. Der nationale Staat und selbst internationale Aktionen sind hier gefordert. Jede sensible Umweltpolitik hat in Betracht zu ziehen, daß gravierende Entscheidungen über die mögliche Wirkung eines Produktes auf das Ökosystem vor und nicht nach seiner Herstellung getroffen werden müssen. In ihrem Bestreben, eine neue Logik der Akkumulation zu realisieren, werden Sozialisten vom Produzenten fordern, mit hinreichender Sicherheit zu belegen, daß sein neues Produkt ökologisch unbedenklich ist. Die Last des Beweises würde also dem Produzenten zufallen.

Um derartige Bestimmungen durchzusetzen und Gesetzesverletzer zu bestrafen, ist ein bürokratischer Apparat notwendig. Gerade weil das Kapital mit der Setzung von ökologisch bestimmten Prioritäten geringe Profiterwartungen verbindet, muß es vom sozialistischen Standpunkt die Bereitschaft geben, ganz im Gegensatz zu den Verfechtern von ›Ökologie und Märkten‹, den Staat und zentrale Institutionen dafür zu nutzen, um zu bestimmen, was ›sozial notwendig‹ ist. Die Realitäten moderner Gesellschaften machen es in der Tat schlicht unmöglich, über eine emanzipatorische Politik nachzusinnen, ohne dabei in gewissem Maße bürokratische Organisation und Staat zu berücksichtigen.

Auch wenn alle Verfechter eines sozialistischen Projekts natürlich wünschen werden, daß die Möglichkeiten für Bürgerinitiativen, für die Entwicklung unabhängiger Organisationen - Kooperativen, Frauengruppen und ähnliches - ausgedehnt werden, können sie bei all dem nicht vergessen, daß Individuen auch das Recht auf ihr privates Leben haben. Damit verbunden ist das Recht, ihren jeweiligen Interessen nachzugehen, und vielleicht vor allem anderen, ihre Freizeit zu genießen.

Mehr Freizeit war traditionell ein wichtiges Anliegen jeder einflußreichen Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse. Daß Sozialisten den ›Kampf um Zeit‹ fortführen, steht daher im Einklang mit dem Angriff auf die existierende Logik der Akkumulation. Auch ein ›Entkoppeln‹ von Arbeit und Löhnen wird zentralisierte Aktionen erfordern. So gesehen ist der ›Kampf um Zeit‹ in der Tat nichts anderes als der Kampf um das Recht der Individuen, den Inhalt ihres Lebens über die Grenzen der ›Notwendigkeit‹ hinaus selbst zu bestimmen.

Reform und Revolution

Marx und Engels waren sich niemals ganz klar darüber, wie der kommende "Sprung in das Reich der Freiheit" zu vollziehen sei. Diese Unsicherheit wurde noch verstärkt, als der vermeintlich bestehende innere Zusammenhang zwischen sozialistischem Übergang und kommunistischer Utopie in der Praxis nicht bestätigt wurde.

Die Unzulänglichkeit der Mittel stellt jedoch nicht die Legitimität der Ziele in Frage. Heute ist erneut eine Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von Zielen und Mitteln notwendig geworden. Sie zu erarbeiten, wird aber nur dann möglich sein, wenn langfristige ›Endziele‹ nicht einfach im Namen unmittelbar anstehender Dringlichkeiten abgetan werden. Transitionale Politik wird in fortgeschrittenen Industriegesellschaften daher zugleich darum ringen, die Bedingungen für lokale Beteiligung zu erweitern und die demokratische Rechenschaftspflicht repräsentativer Institutionen zu stärken. Der entscheidende Punkt dabei ist, daß man sich weder dogmatisch auf Zentralisation noch auf Dezentralisation festlegen darf. Es geht vielmehr darum, sich für die Förderung jenes Prozesses zu engagieren, der "die Verwaltung von Dingen" an die Stelle der "Verwaltung von Menschen" (Marx) setzt.

Dieses Ziel steht im Einklang mit den Anstrengungen, willkürliche Macht zu begrenzen und jene Subjektivität wiederzubeleben, die im heutigen Produktionsprozeß nur pervertiert existiert. Allerdings muß eine moderne sozialistische Theorie anerkennen, daß es keine strikte Abgrenzung der Verwaltung von Menschen und jener von Dingen geben kann, solange ›Knappheit‹ - sei es in direktem ökonomischen Sinn oder aber institutionell - existiert und dadurch politische Machtausübung wegen des ungleichen Zugangs zu ökonomischen Ressourcen übermäßig beeinflußt wird.

Die alten Grundwahrheiten sind verschwunden. Das Revolutionskonzept hat den bisher für selbstverständlich angenommenen emanzipatorischen Inhalt verloren. Aber es ist auch nicht länger legitim, mit unentwegt voranschreitenden Reformen zu rechnen oder damit, daß willkürliche Machtausübung durch die Parlamente immer wieder erfolgreich eingedämmt werden kann. Ein neuer Versuch, die widerstreitenden politischen Strategien von Reform und Revolution ins Verhältnis zu setzen, gehört deshalb auf die Tagesordnung.

Hier gilt es zunächst, Vereinseitigungen zurückzuweisen. Vor allem richtet sich dies gegen jene, die es ablehnen, über Institutionen, die einen willkürlichen Machtmißbrauch in der neuen Ordnung begrenzen könnten, auch nur zu reden. Diese scheinbar doch so ›kritische‹ Haltung besteht darauf, daß es unmöglich ist, ›wirkliche‹ Reformen herbeizuführen, während jede andere Reform nie radikal genug sein wird. Gestützt auf die Vorstellung von einer ›eindimensionalen‹ Gesellschaft, die in ihrem Innersten jede potentiell gefährliche Opposition zu integrieren und damit zu entschärfen vermag, ist für diese Denker jede positive Reform nur eine andere Maskierung der Unterdrückung. Jeder Schritt, der das Leben des Individuums freier gestalten soll, verkehrt sich in sein Gegenteil.

Es wird einfach ignoriert, daß bestimmte Reformen Demokratie tatsächlich befördern und der herrschenden Kapitallogik den Vorrang des Subjekts politisch aufzwingen können. Hinter der pseudo-radikalen Position verbirgt sich eine sehr willkürliche Auffassung von qualitativer Veränderung. Mehr noch, mit ihr wird Utopia selbst in ein Abstraktum verwandelt und von jeder realen Bewegung der Massen gelöst. Das radikalste Konzept wird schließlich zu nichts anderem als zu einem ästhetischen, intuitiven und apolitischen Spiel der Phantasie.

Es gibt aber noch eine andere offensichtliche Gefahr. Sie besteht darin, aus ›sozialistischer‹ Politik alles auszuschließen, was nicht einem revolutionären Angriff auf den Akkumulationsprozeß und den Staat gleichkommt.

Die grundlegendsten Reformen des Sozialstaates, sei es die Verkürzung der Arbeitszeit, die Garantie eines Mindestlohns und die Schaffung eines ›sozialen Netzes‹, sind ein Angriff auf die gegebene Logik der Akkumulation. Dadurch werden nicht nur die Willkürherrschaft des Kapitals eingedämmt und die Exzesse des freien Marktes gezügelt, damit werden auch die existierende Akkumulationslogik in Frage gestellt und der Produktionsprozeß humaner gestaltet. Genau das ist es, was der Ausdehnung von Demokratie in die Zivilgesellschaft hinein ›sozialistische‹ Bedeutung verleiht.

Sozialismus von seinem traditionellen Engagement für sozio-ökonomische Reformen und republikanische Werte zu trennen, ist gleichbedeutend damit, Sozialisten die Chance abzusprechen, in der Gegenwart etwas zu verändern. Angesichts der Zwänge, unter denen zu handeln Sozialisten gezwungen waren, hat das Argument, die großen sozialdemokratischen Experimente im Europa der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, die in Österreich, Frankreich und Deutschland unternommen wurden, hätten keinen spezifisch ›sozialistischen‹ Charakter getragen, wenig Bedeutung. Es bleibt eine Tatsache, daß die Sozialisten dem ›freien Markt‹ und dessen Logik selbst in Ländern wie den Vereinigten Staaten vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus entgegentraten, daß sie den Liberalismus veränderten, der längst schon im Mülleimer der Geschichte verschwunden wäre, hätte er sich nicht einige der grundlegenden, von Sozialisten seit Generationen vorgebrachten Anliegen zu eigen gemacht.

Die Bewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre revolutionierten die Rolle des Staates und verpflichteten ihn, in die zuvor unangefochten bestehenden Rechte des Kapitals einzugreifen. Ob sie nun auf lange Sicht ›erfolgreich‹ waren oder nicht, in jedem Fall erzielten diese Bewegungen einen "Sieg der Politischen Ökonomie der Arbeit über die Politische Ökonomie des Kapitals" (Marx).

Reformen können das Leben der Arbeitenden also durchaus materiell verbessern, ihre Selbstwahrnehmung verändern, ihnen mehr freie Zeit verfügbar machen oder auf andere Weise helfen, soziale Ungleichheit und willkürlichen Machtgebrauch zu begrenzen. Derartige Reformen machen Institutionen und Personen rechenschaftspflichtig gegenüber der Gesellschaft und erfüllen auf diese Weise die Erfordernisse des ›praktischen Kriteriums‹, das einer sozialistischen Ethik zugrunde liegt. Reformen können also radikale Funktionen und Wirkungen haben.

Der Charakter der jeweils angestrebten Reformen offenbart das ›Klassenwesen‹ der Bewegung. Einige der Forderungen dienen scheinbar nur dazu, die existierende Ordnung rationaler zu gestalten. Andere jedoch können durchaus als Vorbedingungen einer emanzipierten Gesellschaft der Zukunft angesehen werden. So setzt zum Beispiel eine neue Form des Akkumulationsprozesses eine öffentliche Investitionskontrolle voraus, was unter bestimmten Umständen legislative Form annehmen mag.

Inwieweit bestimmte Reformen radikalen Charakter besitzen, kann nicht abstrakt beurteilt werden. Das Klassenideal hat seine eigene Logik. Ist die Begründung einer Reform durch die Interessen einer Klasse bestimmt, so ist ihre Radikalität immer in diesem Kontext definiert. Nur bezogen auf beide Aspekte, den Kontext und das spekulative Ziel, ist es möglich zu bewerten, inwieweit eine Reformmaßnahme jenen Akkumulationsprozeß, der Arbeitende lediglich als ›Produktionsfaktoren‹ unterstellt, tatsächlich verändern kann.

Natürlich setzt all das Bedingungen voraus, die es erlauben, Reformen zu propagieren und durchzusetzen. Das aber kann man nicht als selbstverständlich gegeben voraussetzen. Was gestern galt, bleibt auch heute richtig: ob und wie revolutionäre Gewalt durch die Unterdrückten angewandt wird, ist letzten Endes von jenem Grad an Demokratie abhängig, den die Unterdrücker zulassen. Das Bestreben, die existierende Ordnung revolutionär zu verändern, ist dann vollkommen verständlich, wenn die Autorität des Gesetzes durch die Unterdrücker weitgehend erstickt wird.

Die Notwendigkeit, eine Revolution Reformen vorzuziehen, muß jedoch auf dem Nachweis beruhen, daß ein radikaler Kurs, zumindest der Möglichkeit nach, den besten Weg bietet, auf dem man sich den emanzipatorischen Werten der Zukunft in der Gegenwart annähern kann. Garantien wird es freilich nie geben können. Der einzige Weg zu beurteilen, ob eine Revolution erforderlich ist, liegt darin zu bestimmen, ob das System reformiert werden kann.

Die Forderung nach einer Revolution ist folglich nur dann legitim, wenn die Unterdrücker eine Form der Machtausübung installiert haben, die jede Möglichkeit institutioneller Veränderung blockiert. Wieweit Sozialisten einem revolutionären Regime Unterstützung gewähren werden, hängt davon ab, in welchem Maß ein solches Regime demokratische Rechenschaftspflicht garantiert und die Wahrnehmung bürgerlicher Freiheiten im Rahmen von offensichtlichen, ihm aufgedrängten Zwängen ermöglicht.

Ebenso wie es - für manche Sozialisten - ein Dogma der Revolution gibt, so gibt es - für andere - auch eines der Reform. Letzteres ignoriert die Tatsache, daß auch der Sozialstaat ein kapitalistischer Staat bleibt, daß die Investitionen in privaten Händen bleiben, daß Reformen nur dann durchsetzbar sind, wenn ihre Kosten den existierenden Akkumulationsprozeß nicht zu sehr bedrohen oder eine für die kapitalistische Klasse akzeptable Profitrate nicht zu sehr in Frage stellen. Das Reform-Dogma verweigert sich der Tatsache, daß es noch immer für die Reichen bedeutend leichter ist als für die Armen, sich zu organisieren, Koalitionen zur Lösung bestimmter Probleme zu schließen, Zugang zu Informationen und Fonds für politische Zwecke zu erhalten. In der Tat macht das Dogma der Reform seine Anhänger blind für die strukturellen Mechanismen, durch die der Wohlfahrtskapitalismus stets die kapitalistische Klasse privilegiert und die arbeitenden Menschen noch immer zwingt, ein untergeordnetes und oftmals prekäres Leben zu führen.

Das Bemühen, Reform und besonders Revolution zu relativieren, geht einher damit, das Konzept vom Ende der Geschichte aufzugeben. Eine transitionale Politik ist heute eine Politik, die es vermag, die Perspektive einer emanzipierten Zukunft in praktisch-gegenwärtige Schritte umzusetzen. Sowohl Reform als auch Revolution erscheinen so als bloße Mittel, über deren Anwendung dadurch entschieden wird, wie innerhalb eines bestimmten Kontextes am besten die Ziele eines sozialistischen Projektes durchzusetzen sind.

Sozialistischer Internationalismus

Während die Konzentration und Vernetzung des Kapitals international wie national zunimmt, droht den arbeitenden Menschen die Vereinzelung. Dabei könnte die wachsende ökonomische Interdependenz sehr wohl die materielle Basis für eine künftige internationale Ordnung darstellen. Aber darin liegen auch Gefahren, weil in einer interdependenten Welt die Handlungen einzelner immer auch andere betreffen. Mit der Unsicherheit wächst daher der Nährboden für Konflikte. Diesen Problemen muß sich ein sozialistisches Projekt stellen.

Spätestens mit der Durchsetzung der Stalinschen Theorie vom "Aufbau des Sozialismus in einem Land" und mit der von ihm initiierten Auflösung der Komintern ist offensichtlich geworden, daß es keine innere Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen eines partikulären Staates und der Weltgemeinschaft gibt und daß die Interessen der Arbeitenden innerhalb einer Nation nicht notwendig mit denen in anderen Staaten zusammenfallen müssen. Heute ist einfach nicht vorstellbar, wie die Schwächung nationaler Souveränität anders vor sich gehen könnte, als durch einen graduellen Machtzuwachs bereits existierender internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen. Die Idee einer apokalyptischen Transformation von Nationalstaaten in eine ›Welt-Gemeinschaft‹ ist mehr denn je im schlechtesten Sinn utopisch. Selbst wenn eine Revolution notwendig wäre, um das politische System und die kulturellen Werte einiger Staaten zu transformieren, würden diese Saaten dennoch über die Bedingungen zu verhandeln haben, unter denen ein Eingriff in ihre Souveränität hingenommen werden könnte. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist es zunächst wichtig, neue internationale Bündnisse zu formieren. Für die westlichen Sozialisten bedeutet dies, daß sie damit anfangen sollten, das Beste aus den neuen Möglichkeiten zu machen, indem sie transnationale Beziehungen stärken und Verbindungen mit den demokratischen Kräften im ehemaligen Ostblock und der ›Dritten Welt‹ knüpfen.

Man sollte sich allerdings keiner Illusion hingeben. Die neue internationale Arena wird auch neofaschistischen Strömungen, wie denen LePens, Haiders und anderer, neue politische Chancen bieten. Internationalismus wird jene seit jeher bekannten Reaktionen hervorrufen: Chauvinismus, Irrationalismus und Rassismus, Angriffe sowohl auf demokratische wie sozialistische Werte und Organisationen. Der Rahmen für eine neue regionale und internationale Politik eröffnet daher nicht nur Möglichkeiten, Programme und Perspektiven zu entwickeln, die das sozialistische Projekt neu beleben können. Er birgt auch Gefahren. Die Schaffung einer neuen politischen Umwelt, die das neue Millennium zumindest mitbestimmen wird, ist keine rein ökonomische Frage und kein bloßes Organisationsproblem, sondern vor allem auch ein kulturelles.

Internationalismus hat sich folglich aus der bloßen Alternative zwischen Altruismus oder Eigeninteresse in etwas davon sehr Unterschiedenes verwandelt. Was vor einem Jahrhundert richtig war, ist heute mehr denn je gültig. Internationalismus kann nicht nur aus Taktik bestehen; er muß zum Prinzip werden und als Prinzip wirken.

Die global ungleiche Verteilung des Reichtums zu verändern, ist letzten Endes eine politische Frage. Eine darauf gerichtete Politik wird auf die Schaffung von Institutionen setzen müssen, die imstande sind, die Aktivitäten multinationaler Unternehmen wie internationaler Banken zu regulieren, eine Lösung der Schuldenprobleme in der ›Dritten Welt‹ herbeizuführen und die grundlegenden Errungenschaften des Sozialstaates in die internationale Arena auszudehnen. Dies wird die Entwicklung von politischen Linien einschließen müssen, die Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds zu Refinanzierung und Demokratisierung verpflichten. Neue transnationale Organisationen werden nötigt sein, um Steuern zu erheben, Kapitalströme zu kontrollieren und die Tendenz zu ›ungleicher Entwicklung‹ abzuschwächen. Kurz gesagt, ökonomische Reformen von globalem Ausmaß setzen politische Macht voraus.

Dabei ist Bürokratie kaum zu vermeiden, schon weil internationale oder regionale Institutionen wie die Vereinten Nationen oder die Europäische Kommission sonst nicht arbeiten könnten. Dies wird zweifellos auch Tendenzen fördern, immer mehr Macht auf Kosten der Nationalstaaten zu konzentrieren - Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht sind dann nur noch schwer zu garantieren. Tendenzen solcher Art kann nur durch neue Formen politischer Aktionen begegnet werden und möglicherweise vor allem durch eine neue Form ziviler Verantwortung. Für Sozialisten steht die Frage, ob sie willens sind, die Streitarena zu betreten, um Wege vorzuschlagen, die die demokratische Rechenschaftspflicht internationaler Institutionen sichern.

Wenn sich sozialistische Theorie und politische Praxis fest zu Demokratie und Gleichheit bekennen, die auf den Prinzipien von Gegenseitigkeit und Herrschaft des Gesetzes beruhen, dann können demokratische und sozialistische Werte nicht mehr länger nur als ›westlicher Import‹ in Nationen, in denen die Traditionen von Aufklärung und Arbeiterbewegungen fehlen, betrachtet werden. Abgesehen von der Tatsache, daß es ganz einfach illegitim ist, das emanzipatorische Potential einer Idee auf jene Region zu reduzieren, in der sie entstand, war es immer Ziel des Internationalismus, willkürlichen Machtgebrauch seitens der Nationen einzudämmen. Eine internationalistische sozialistische Position müßte daher sowohl Kritik als auch mögliche Sanktionen gegenüber jenen Nationen einfordern, die Herausbildung freier Gewerkschaften oder anderer Organisationsformen der Arbeiterklasse behindern.

Erforderlich ist eine Politikkonzeption, die es vermeidet, daß die Interessen der Bevölkerung mit jenen einer partikulären bürokratischen Organisationsform des Landes gleichgesetzt werden. Es geht darum, die verschiedenen demokratischen Möglichkeiten unterschiedlicher nationaler Organisation anzuerkennen, und es müssen geeignete Kriterien dafür gefunden werden, wie eine sozialistische Antwort auf nationale und internationale Konflikte aussehen kann. Wenn eine politische Theorie des Sozialismus die Schaffung von Bedingungen zum Gegenstand hat, die die Solidarität unter den arbeitenden Menschen fördern - wobei die Stärkung der schwächsten ein wichtiger Maßstab ist -, so muß sich eine internationalistische Politik darauf richten, dauerhafte sozialistische und demokratische Bedingungen in den schwächsten der Nationen herzustellen. Natürlich schließt dies die Wahrung kultureller Traditionen ein.

Nun steht jedoch die Frage, wie man einer unerwünschten Internationalisierung der Kultur entgegentreten kann, die vor allem durch die Massenmedien befördert wird. Deren Ausstrahlungskraft ist real, und somit kann eine progressive Erwiderung darauf nicht darin bestehen, eine ›geschlossene Gesellschaft‹ zu schaffen, oder sich auf Traditionen der Vergangenheit zurückzuziehen und die ohnehin vorhandenen Tendenzen zu Provinzialismus und Mystizismus zu fördern.

Die ›Kulturindustrie‹ ebenso wie auch moderne Spielarten des Romantizismus stellen starke Gegenkräfte dar. Aber, wie in so vielen anderen Bereichen auch, bleibt auch hier nur die Wahl zwischen Widerstand oder Resignation. Das sozialistische Projekt muß folglich hervorheben, worin seine oft vergessene kulturelle Komponente besteht. Nur aus erneuerter internationalistischer Perspektive kann eine progressive Opposition gegen die mechanistische Standardisierung Hollywoods wie auch gegen jene Versuche entwickelt werden, ›Tradition‹ um ihrer selbst willen zu retten. Nicht ohne gewisse Ironie muß man feststellen, daß allein der internationalistische Gesichtspunkt es erlaubt, jene emanzipatorischen kulturellen Beiträge, die von Nationalitäten auf der ganzen Welt hervorgebracht werden, wirklich zu respektieren und sie innerhalb einer Umgestaltung und Neubewertung der ästhetischen Erbschaft der Vergangenheit zu integrieren.

Genauso wie die Demokratie ist auch Internationalismus eine Sache von Herz und Verstand, weniger eine Sache von Schemata und Notizbuch. Die Verpflichtung zur Globalität ist die Hingabe an eine Idee. Der Fetisch von ›technique‹ und ihrer ›Ausführung‹ wird eben genau das bleiben, ein Fetisch, wenn keine positive Antwort auf Chauvinismus und Partikularismus vom Standpunkt einer noch immer nicht thematisierten und schon gar nicht realisierten ›Vielfalt in der Einheit‹ gefunden wird. Kultur also ist ein Gebiet, auf dem sozialistische Intellektuelle eine entscheidende Rolle zu spielen haben. Nur durch ein solches kulturelles Engagement können verbleibende Formen sowohl des Autoritarismus als auch die entkräftende kapitalistische Akkumulationslogik herausgefordert werden; nur auf diese Weise ist es möglich, den Sozialismus als ein sich entwickelndes ›Projekt‹ zu verwirklichen, ein Projekt, das darauf gerichtet ist, jenen unendlichen Reichtum menschlicher Erfindungsgabe und Produktivität freizusetzen, dessen Möglichkeiten niemals im voraus festgelegt werden können.

 

 

Stephen Eric Bronner - Jg. 1949; Professor für politische Wissenschaft und vergleichende Literaturwissenschaft an der Rutgers University, veröffentlichte zahlreiche Bücher, von denen einige in Deutsch erschienen sind: "Augenblicke der Entscheidung: Politische Geschichte und die Krisen der radikalen Linken" (Suhrkamp); "Ein Gerücht über die Juden: Die ›Protokolle der Weisen von Zion‹ und der alltägliche Antisemitismus" (Propylaen); demnächst erscheint "Das Sozialismusprojekt" in deutscher Sprache.

* Im wesentlichen gibt es drei Wege der Annäherung an eine mögliche erkenntnistheoretische Erwiderung auf die gegenwärtige Krise der marxistischen Theorie und der sozialistischen Praxis:

Ontologie
Die ontologische Sichtweise ist bestrebt, hinter den historischen Zufälligkeiten oder empirischen gegebenen Variationen das aufzudecken, was man ihr ›Wesen‹ nennen könnte. Ontologie liefert eine philosophische ›Grundlage‹ sowohl für eine theoretische Analyse als auch für eine politische Praxis, und zwar, indem sie grob gesehen drei verschiedene Herangehensweisen eröffnet. In einer ersten Herangehensweise wird versucht, die soziale Realität auf eine geschlossene, feste und positive ontologische Basis zu stellen. Diese Position wurde vor allem von Georg Lukács herausgearbeitet, lange nachdem er sein Konkordat mit dem Stalinismus geschlossen hatte. Lukács rechtfertigt das Fehlen qualitativer emanzipatorischer Veränderungen in den Gesellschaften sowjetischen Typs im wesentlichen damit, daß die Realität eine in unversöhnlicher und unnachgiebiger Weise konstruierte sei. In der Konsequenz zieht sich die Lukácssche Ontologie von jenen spekulativen Fragestellungen der revolutionären Überwindung von Entfremdung oder Verdinglichung zurück.

In einer offenen, fließenden und negativen Ontologie wird das Moment kritischer Analyse "dialektisch" beibehalten. Ernst Bloch beispielsweise faßt die immanente Entwicklung von Geschichte als ein bloßes Moment der Entfaltung von Wirklichkeit in Richtung auf ein ewig transzendentes Utopia. Leider hat Bloch keinerlei Vorstellung von sozialen Beziehungen, die zu verändern wären. Daher droht seine Aufforderung zu qualitativer Veränderung in einen Wunsch nach Apokalypse umzuschlagen. Die vage oder unbestimmte Struktur seines Arguments verhindert auch die Möglichkeit, zwischen einer ›wahren‹ und einer ›falschen‹ Utopie zu unterscheiden. Damit wird das Konzept der Emanzipation entweder zur Tautologie oder es wird unmöglich, Emanzipation auf ein konkretes historisches Moment zu beziehen.

Schließlich und als drittes ist da noch der große Versuch von Jean Paul Sartre, den Marxismus auf die ontologisch gegebene Freiheit des individuellen Subjekts zu ›gründen‹. Das einmalige und einzigartige Subjekt steht hier grundsätzlich im Widerspruch zu allen Zwängen und ist bestrebt, aus ihnen auszubrechen. Freiheit wird in dieser Sicht allerdings letztendlich als außerhalb von Geschichte stehend aufgefaßt. Daraus ergibt sich, daß eine Form anarchistischer Politik befördert wird, da das Individuum durch alle bestehenden Institutionen in gleichem Maße bedroht ist, einschließlich auch jener Gruppen und Bewegungen, mittels derer seine Interessen zum Ausdruck gebracht werden können. Mit Sartres Zugang kann also zwischen sozio-ökonomischen und politischen Systemen hinsichtlich ihrer positiven Möglichkeiten für ein sozialistisches Projekt keine Unterscheidung getroffen werden.

Wissenschaft
Eine Alternative zu den illusorischen Garantien der Ontologie wird von neuen Ansätzen Marxscher ›Wissenschaft‹ angeboten. Die Wissenschaft übt traditionell große Anziehungskraft auf Marxisten aus. Neu ist die Einsicht, daß es erforderlich ist, ›wissenschaftliche‹ Erkenntnis von jener Teleologie zu trennen, in die sie ursprünglich von Marx eingebettet wurde.

Vor allem durch das Werk von Louis Althusser ist es seit den achtziger Jahren gelungen, den Marxismus für den akademischen mainstream interessant zu machen. Althusser wollte den Marxismus vor allem von allen herkömmlichen Formen des Humanismus, Idealismus und Rationalismus befreien, indem er die Rolle des Bewußtseins und des Subjekts in Frage stellte. Sein gesamter neuartiger Zugang war darauf gerichtet, die Vorstellung von Wissenschaft insgesamt zu relativieren. Nach Althusser ist Wissenschaft - im völligen Gegensatz zu ›Ideologie‹ - letztlich nicht mehr als eine Anzahl von Regeln, die notwendig sind, ein bestimmtes Untersuchungsobjekt ›sichtbar‹ zu machen.

Vom Standpunkt Althussers aus ist es ohne Sinn und Wert, von einem transzendenten oder unvollendeten ›Projekt‹ der Emanzipation zu sprechen. Die Position, daß die Sichtweisen unterschiedlicher Subjekte nicht gegeneinander abgewogen und beurteilt werden können, war im Kampf gegen den Dogmatismus der Kommunistischen Partei im Nachkriegsfrankreich zwar sehr nützlich, erweist sich jedoch als ernsthafter Mangel, wenn es darum geht, einen positiven Standpunkt zu erarbeiten, von dem aus politische Entscheidungen abgeleitet werden können.

Der Marxismus der rationalen Entscheidungen (rational choice Marxism) unterscheidet sich grundlegend vom Strukturalismus Althussers. Diese ›wissenschaftliche‹ Richtung versucht, das Subjekt - das vom orthodoxen Marxismus weitgehend ausgeblendet wird - zu retten. Indem ›instrumentelle‹ Vernunft als Grundlage sozialer Verhältnisse bestimmt wird, verflacht der Marxismus rationaler Entscheidungen Geschichte vor allem dadurch, daß er in ihr wenig mehr als die Konflikte der Menschen um die Knappheit materieller Güter sieht. Die Annahme wertbestimmten sozialen Ganzen als historischer Faktor wird in diesem Herangehen als pure Ideologie zurückgewiesen. Selbst ethische Entscheidungen werden allein unter rationalen Gesichtspunkten betrachtet, wodurch schließlich die Parameter der gegebenen Akkumulationslogik in unantastbare, hochheilige Werte verwandelt werden - der kapitalistische Markt wird unkritisch als etwas Ewiges akzeptiert.

Es ist daher vom Standpunkt des Marxismus rationaler Entscheidungen aus schier unmöglich, Fragen aufzuwerfen, die solche kulturellen Werte oder neue politische Ziele betreffen, die dem sozialistischen Projekt einen modernen Sinngehalt verleihen würden. Weil der Dialog mit dem akademischen mainstream um jeden Preis erreicht werden soll, werden die kritischsten und radikalsten Elemente des sozialistischen Projekts aufgegeben und zwar zugunsten eines technokratischen Marxismus, der in rein instrumentellen Werten stecken bleibt.

Ethik
Da die Wirklichkeit deren ›wissenschaftliche‹ Voraussagen als richtig zu bestätigen schien, entwickelte die orthodoxe Teleologie kein Bedürfnis nach einer eigenständigen Ethik. Die daraus resultierenden Konsequenzen wurden von Lenin auf die Spitze getrieben. Er vertrat eine spekulative Auffassung von der Revolution als Ziel und von der Partei als ihrer Triebkraft und förderte einen ethischen Relativismus, den er mit teleologischen Voraussetzungen untermauerte. Auf diese Weise konnten die schlimmsten Handlungen gerechtfertigt werden, wenn sie von Kommunisten begangen wurden und sie konnten delegitimiert werden, sobald sie von ›Konterrevolutionären‹ ausgingen.

In den Vereinigten Staaten wurden wohl die besten modernen Vorschläge für eine progressive Ethik unterbreitet. Sie kamen aus zwei Lagern von radikal-liberalen Befürwortern einer "demokratischen Theorie". Auf der einen Seite stehen die ›neuen Kommunitarier‹, die die Tradition des kantischen Rationalismus zurückweisen und danach streben, Rezepte für die Praxis aus dem Verständnis von Normen und Sitten einer gegebenen Gesellschaft abzuleiten. Die andere Gruppierung bilden traditionelle Rationalisten wie John Rawls, die versuchen, auf dem Vermächtnis Kants aufzubauen und Prinzipien zu entwickeln, die eine demokratische Praxis durchdringen sollten.

Die Kommunitarier, obschon sich viele von ihnen als Progressive und sogar als Sozialisten sehen, leiten ihre erkenntnistheoretische Position eigentlich aus einer romantisch-pragmatischen Interpretation Rousseaus her. Ihre wichtigste Forderung besteht darin, daß Politik von den existierenden Bräuchen und Institutionen einer bestimmten Gesellschaft ausgehen müsse. Von einer solchen Position aus gibt es allerdings keine Möglichkeit, einen kritischen Standpunkt zu entwickeln, mit dem zwischen repressiven oder emanzipatorischen Traditionen, Bräuchen und Gewohnheiten zu unterscheiden wäre.

Während die Kommunitarier nicht in der Lage sind, eine reflexive Distanz zum Alltagsleben der Gesellschaft zu gewinnen, bleiben ihre Opponenten - die demokratischen Rationalisten - im Abstrakten stecken. Ihre Überlegungen zu Demokratie handeln von einer abstrakten Welt von Individuen, die von allen real existierenden sozio-historischen und politischen Umständen entkleidet ist. Der abstrakte Gebrauch von Allgemeinheiten erzeugt Blindheit gegenüber den unterschiedlichen Effekten, die der Produktionsprozeß auf die Subjekte und auf die strukturellen Antagonismen innerhalb der Gesellschaft hat.

Im Gegensatz zu den Anhängern des Kommunitarismus haben sich die herausragendsten Vertreter des demokratischen Rationalismus jedoch außerordentlich bemüht, jene institutionellen Vorbedingungen näher zu definieren, die eine gerechte Ordnung zu berücksichtigen hat: bürgerliche Freiheiten, Mehrparteiensystem, proportionale Repräsentation, öffentliche Subventionen für konkurrierende politische Gruppen, Verteilungsgerechtigkeit, öffentliche Investitionskontrolle, Wirtschaftsdemokratie, Chancengleichheit und eine demokratisch informierte Außenpolitik. Einige Anhänger dieser Richtung waren sogar bereit, die Beiträge von Marxisten oder Sozialisten wie Rosa Luxemburg zu diesen Fragen zu würdigen.

 

Aus dem Amerikanischen von EVA GRÜNSTEIN-NEUMANN