Der Warlord

Das Bündnis in der Nordallianz hat nur kurze Zeit gehalten. Die regionalen Fürsten streiten, was sie immer getan haben, um Macht und Einfluß. Die Ergebenheitsbriefe sind nichts weiter als Makulatur

von Dietmar Schumann, z.Z. Kabul

Wir verlassen Kabul in nordwestlicher Richtung. Vor uns, in sonnendurchflutetes Schneeweiß getaucht: die Bergwelt des Hindukusch. Mit uns im Auto und im vorausfahrenden Wagen: bewaffnete Kämpfer einer Paschtunenmiliz. Sie wollen uns hinauf bringen in die Berge. Zu Abdulrab Rassul Sayyaf. Einem bekannten Stammesführer der Paschtunen, der sich im Krieg gegen die Taliban der Nordallianz angeschlossen hatte und nun der Regierung Karsai kritisch gegenüber steht.

Wir erreichen den Ort Paghman, einst Sommerfrische der Kabuler High Society. Im Bürgerkrieg erst Hauptkampflinie zwischen den verfeindeten Milizen der Paschtunenfürsten Sayyaf und Hekmatyar, dann zwischen der Nordallianz und den Taliban. Tausende Granaten und Raketen haben das Städtchen zerpflügt. Neben den Bretterverschlägen der Händler erinnert ein zerschossener Triumphbogen an frühere Siege über britische Eindringlinge. Ein Einheimischer, der einen schwarzen Vollbart trägt und eine Kalaschnikow geschultert hat, wie alle Männer, die wir sehen, tritt an unser Auto. Er ist das, was wir zu Hause Bürgermeister nennen. Und war zu unserem Empfang erschienen.

"Ich begrüße Sie auf dem Territorium unseres Herrn, des Islamgelehrten und Heerführers Sayyaf. Der Herr schickt mich, um Sie in die Bergfestung zu geleiten, welche die Taliban zerstört hatten und die wir jetzt wieder herrichten."

Es ist Mitte Januar 2002. Die Gotteskrieger der Taliban und die Al-Kaida-Söldnertruppe des Terroristen Osama Bin Laden sind geschlagen. In Kabul haben internationale Friedenstruppen Quartier bezogen. Premierminister Hamid Karsai hat soeben die Entwaffnung aller Stammesmilizen und den Aufbau einer Nationalen Armee vorgeschlagen. Seine Worte sind zur Beruhigung der ausländischen Geldgeber des afghanischen Wiederaufbaus gedacht. In Afghanistan verhallen sie hinter den Mauern des Kabuler Regierungspalastes.

Fünfzehntausend Mann, erfahre ich von meinen Begleitern, zählt die Privatarmee des Paschtunen Sayyaf. Nicht einer hat seine Waffen abgegeben nach dem Sieg über die Taliban. Das sei bei den anderen Warlords nicht anders, versichern sie mir. In Kabulistan, wie sie die Hauptstadt Kabul scherzhaft nennen, regiere der Premier Karsai, das übrige Land aber sei weiterhin in der Hand dutzender nationaler und regionaler Führer. Im Westen herrsche, mit Rückendeckung des Iran, Ismail Khan. Der Norden werde vom Usbekengeneral Dostum kontrolliert, der Nordosten von Tadshikenmilizen, die dem ehemaligen Präsidenten Rabbani oder dem jetzigen Verteidigungsminister Fahim ergeben sind. Die Südprovinzen um Kandahar seien in der Hand der Durrani-Paschtunen mit ihrem Stammeschef Gul Agha. Der Südosten sei das Herrschaftsgebiet der Ghilzai-Paschtunen, die zentralen Provinzen gehörten den Stämmen der Hazaras.

Derart aufgeklärt, werde ich immer weiter hinaufgefahren in die Berge. Ein letzter Kontrollpunkt. Dann liegt sie vor uns, die Festung des Warlords Sayyaf. Auf der Kuppe eines Berges, hoch über dem Talkessel von Kabul: eine Gruppe in die Felsen gebauter, gut bewehrter Häuser aus Beton und Ziegelsteinen.

Hier hatte Sayyaf den Widerstand gegen die Taliban organisiert. Jetzt denkt er in der Nähe der Wolken darüber nach, wie er im neuen Afghanistan an der Macht teilhaben kann. Wir werden in einen weißgetünchten Raum geführt. Man bittet uns, Platz zu nehmen auf Sitzkissen, die rundum an den Wänden verteilt sind. Tee und süße Mandeln werden gereicht. Dann heißt uns ein Hausdiener aufzustehen. Sayyaf erscheint. Ein großgewachsener Herr um die 50, mit langem graumelierten Bart, einen grauen Turban um den Kopf gewunden, reicht uns freundlich seine Hand. Wir seien die ersten Ausländer, die er in seine Bergfestung eingeladen habe, sagt der Paschtunenfürst in leisen Worten zur Begrüßung.

"Ich war immer gegen die Taliban, weil das ein Regime ohne jegliche Toleranz war, welches uns von fremden Mächten aufgezwungen wurde (gemeint sind die USA und Pakistan, D.S.). Doch auch die neue Regierung Karsai hat ihre Tücken. Die verschiedenen Nationen und Bevölkerungsschichten unseres Landes sind nicht gleichberechtigt in ihr vertreten. Ich hoffe, wir werden in sechs Monaten eine neue und eine bessere Regierung haben."

Der Wahhabit Abdulrab Rassul Sayyaf, der in Saudi-Arabien nach wie vor finanzstarke Gönner hat, macht kein Hehl daraus, daß er unzufrieden ist mit der Ämterverteilung in der Regierung Karsai. Sein Clan hat keinen Ministerposten abbekommen. Der mächtige Mann, der die Region im Norden von Kabul beherrscht, zürnt seinen königstreuen paschtunischen Brüdern. Von Rom aus, argumentiert er, hätten sie wenig getan für die Befreiung des Landes von den Taliban. Es sei ungerecht gewesen, sie in Bonn für ihr Nichtstun mit Regierungswürden zu belohnen. Von seiner Bergfeste hat Sayyaf die Hauptstadt Kabul im Blick. Die ausländischen Soldaten, die dort patrouillieren, behagen ihm nicht. Vor allem die Amerikaner will er schnell wieder loswerden.

"Niemand hat die USA nach Afghanistan eingeladen. Die Amerikaner sind gekommen, um ihre Feinde, die Taliban, die auch unsere Feinde sind, zu besiegen. Das ist in Ordnung so. Aber, wenn sie Mullah Omar gefaßt haben, dann ist ihre Aufgabe hier erledigt. Wenn heutzutage jemand denken sollte, er könne sich auf ewig in Afghanistan einnisten, dann unterliegt er einem Irrtum."

Warlord Sayyaf kritisiert die Nähe des Premiers Hamid Karsai zu den USA. Karsai, der einige Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt hatte und dessen Familie in mehreren Städten dort eine afghanische Restaurantkette betreibt, sei proamerikanisch ausgerichtet. Die Amerikaner hätten Karsai auf den Thron gehoben, bemerkt Sayyaf. Daß ihm US-Elitesoldaten in der Provinz Oruzgan kurz vor dem Fall der Taliban das Leben gerettet hatten, mache Karsai zu einem ewigen Diener amerikanischer Interessen.

Der Paschtune Sayyaf läßt uns bewachen und bewirten auf seiner Festung. Es gibt den köstlichen Kabuli-Reis und Lamm. Dann bringt uns eine Eskorte seiner Leibwächter wieder hinunter nach Kabul, wo uns beängstigende Nachrichten erwarten.

Während Premierminister Hamid Karsai in Tokio 4,5 Milliarden Dollar internationale Gelder einsammelt zum Wiederaufbau des zerstörten Afghanistan, wetzen die daheimgebliebenen Warlords die Säbel.

Im Norden gehen sich die Usbeken Dostums und tadshikische Freischärler wieder an die Kehlen. Bei Qala Zaal, westlich von Kunduz, wird geschossen. Es gibt Tote und Verletzte. Das Bündnis der Warlords in der Nordallianz hat nur kurze Zeit gehalten. Sie streiten, was sie immer getan haben, um Macht und Einfluß. Und um das viele Geld, das es nun zu verteilen gilt. Karsai ist in eine schwierige Position geraten. Teilt er den Warlords die Hilfsgelder großzügig zu, kann er gewiß sein, daß sie die Dollars nutzen, um ihre Unabhängigkeit von Kabul auszubauen. Schließt er sie vom Geldsegen aus, werden sie darum kämpfen.

Die Ergebenheitsbriefe der regionalen Fürsten und Warlords, die nach dem 22. Dezember 2001 im Kabuler Regierungspalast eintrafen, die Huldigungen von Dostum, Ismail Khan und Sayyaf an den Übergangspremier Karsai, sie sind nichts weiter als Makulatur.

Sie geleiten uns bis in die Innenstadt von Kabul, die schwerbewaffneten Kämpfer des Warlords Sayyaf. Zum Abschied winken sie mit ihren Maschinenpistolen. Jederzeit bereit, damit auch wieder zu schießen, wenn es ihr Herr und Gebieter in den Bergen befiehlt.

Das Blättchen 3/2002