Wolfgang Abendroth

- Fragen an einen politischen Lebensweg

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Aufsatz aus dem u. a. von Uli Schöler herausgegebenen Band "Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker.

Biobibliografische Beiträge", das 2001 bei Leske & Budrich erschienen ist. Wir danken dem Verlag für die freundliche Überlassung.

Was wissen wir von, über Wolfgang Abendroth?

Erstaunlicherweise eine ganze Menge nicht, oder nur bruchstückhaft, was möglicherweise eine Ursache mit dafür ist, dass es im letzten Jahrzehnt eher still um ihn geworden ist. Schauen wir genauer hin. Wie ein roter Faden durchzieht nahezu alle bisherigen biographischen Würdigungen Abendroths die sicher zutreffende Beobachtung, dass für ihn die Spaltung der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, wie er sie in der Weimarer Republik, in der Zeit des Hitlerfaschismus und des Zweiten Weltkrieges erlebte, zum prägenden biographischen Eindruck wurde. Seitdem habe er sich - so Frank Deppe - unablässig dafür eingesetzt, "dass die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung in der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, vor allem in der Auseinandersetzung mit den - vor allem in Perioden der Wirtschaftskrise verstärkten - Gefahren des Abbaus der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit zusammenwirken." Gerade dann, wenn man dies - was ich für unbestreitbar erachte - als eine wesentliche Leitorientierung Abendroths betrachtet, mutet es um so erstaunlicher an, dass eine ganze Reihe seiner persönlich-politischen Weichenstellungen immer noch in einer gewissen nebulösen Undeutlichkeit verblieben ist. Immer wieder fällt in seinen autobiographischen Schilderungen auf, dass er nur kurz bei der Schilderung eigener Erlebnisse und Aktivitäten verharrt, um dann doch ausführlicher zur retrospektiven Erklärung und Einschätzung politischer Konstellationen überzugehen. Die Person tritt in den Hinter-, das Geschehen in den Vordergrund.

Der frühe Abendroth

Die Hauptkonzentration autobiographischer Schilderungen Abendroths liegt auf der Darstellung, Erklärung und Würdigung der verschiedenen Wendungen und Positionswechsel innerhalb der kommunistischen Bewegung selbst, an der er auf verschiedene Weise beteiligt ist. Ich bin im Rahmen meiner früheren bibliographischen Arbeit über Abendroth wohl als erster auf die erstaunliche Tatsache gestoßen, dass er aber zugleich zu den Sprechern einer anderen Jugendorganisation gehörte (im übrigen zusammen mit seinem Schwager Ernst Benner), dem "Bund Freier Sozialistischer Jugend". Zwischen 1926 und 1929 zählte er zu den aktivsten und interessantesten Autoren in dessen Verbandsorgan "Freie Sozialistische Jugend". Diese Organisation ist - neben der Tatsache des Wirkens Abendroths darin - aus wenigstens einem weiteren Grunde ausgesprochen interessant. Offenbar gelang in diesem Jugendverband etwas, was sowohl in der Weimarer Republik als auch in späteren Perioden der deutschen Geschichte eher zu den Ausnahmen gehörte: das Zusammenwirken von Personen und Gruppen unter einem Dach trotz unterschiedlicher Sozialisation und politischer Herkunft bzw. ideologischer Orientierung. 1924 wird er mitsamt der anderen Anhänger eines eher "rechten" Kurses aus seinen Frankfurter Funktionen innerhalb des Kommunistischen Jugendverbandes abgewählt und ausgeschlossen, wechselt aber in die Studentengruppe und in die Partei selbst, wo seine Aktionsmöglichkeiten jedoch wegen der "ultralinken" Politik der Fischer-Maslow-Führung in der KPD ebenfalls nahezu unmöglich sind. So wurde er zugleich Mitglied des genannten Bundes, der ursprünglich aus der "Freien Proletarischen Jugend" hervorgegangen war, die sich als geistiger Berührungspunkt jugendlicher Arbeiter mit dem "Wandervogel" verstand, es ablehnte, Parteijugend zu sein und Anfang der zwanziger Jahre zu ihren Gruppenabenden Vortragsredner aus allen drei Arbeiterparteien einlud. Ihre Mehrheit beschloss aber 1922, zur (mit der Rest-USPD) Vereinigten Sozialdemokratischen Partei zurückzukehren. Mitte 1925 schlossen sich diese Gruppen mit dem aus den "Guttempler-Wehrlogen" hervorgegangenen und sich zum Sozialismus bekennenden "Orden junger Menschen", der "Freien Aktivistischen Jugend", der "Wanderscharen e.V." und den "Landfahrern e.V." zu einem Kartell zusammen, das 1926 im genannten "Bund Freier Sozialistischer Jugend" aufging. Er existierte bis zu seinem Verbot im Jahre 1933 mit Gruppen u.a. in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Oehringen, Karlsruhe, Stuttgart und Nürnberg, zeitweilig mit ca. 12.000 Mitgliedern, deren Mehrzahl sich nicht in den beiden großen Arbeiterparteien organisieren wollte. Wenn also von den Wurzeln von Abendroths "Einheitsorientierung" die Rede ist, dann liegen diese weit weniger in einem rein intellektuellen Verständnis von einer "Einheit der Arbeiterklasse", die durch den Beginn des großen Schismas in den Jahren nach 1914 eingeleitet wird und in der kampflosen Niederlage von SPD und KPD 1933 ihre traurige Bestätigung fand, sondern weit ausgeprägter in einer bereits in jungen Jahren eingeübten politischen Praxis über ideologische und Parteigrenzen hinweg. Sagen wir es in seinen eigenen Worten: "Sozialisationsprozesse haben ... in allen Phasen der Arbeiterbewegung eine viel größere Rolle gespielt, als man gemeinhin annimmt." Ich plädiere also dafür, diese Maxime auch bei der Betrachtung des Abendrothschen Lebensweges stärker als bislang mit heran zu ziehen. Den jungen Abendroth zeichnet nun eines bereits besonders aus: Ohne ideologische Scheuklappen (auch solche, die sich aus der jeweiligen "Generallinie" seiner eigenen Partei zu dieser Zeit ergaben - die ihn ja auch nicht umsonst 1928 als Rechtsabweichler ausschloss und zur KPO drängte) setzt er sich mit all den Themen auseinander, die in seinem Umfeld diskutiert werden. Zum einen fällt auf, dass er sich gleich in mehreren Aufsätzen und Rezensionen mit Themen und Konzeptionen aus dem Spektrum des "Austromarxismus" beschäftigte, zwar kritisch, aber in der Tendenz durchaus Impulse positiv aufnehmend. Dazu mag beigetragen haben, dass er die Möglichkeit hatte, am vom Österreicher Carl Grünberg neu gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung Vorträgen von Otto Bauer, Friedrich und Max Adler beizuwohnen. Diese frühe Beschäftigung mit der genannten Theorietradition der deutschsprachigen Arbeiterbewegung ist mehr als eine zufällige Begegnung. Sicher, die österreichische Sozialdemokratie des Linzer Programms erwies sich gegenüber ihrer deutschen Schwesterpartei (aber auch gegenüber den ideologischen Schwankungen der zeitgenössischen KPD) als weitaus fruchtbarer. Aber hinzu kam, dass der auf der Basis der Anerkennung und Tolerierung unterschiedlicher Standpunkte funktionierende Einheitsgedanke gerade in der österreichischen Sozialdemokratie (also in diesem Teil des anderen "Lagers") praktisch wie theoretisch seine produktivste Wirkung entfaltet hatte. So verwundert es nicht, dass Abendroth zu einem Zeitpunkt, als er sich von der stalinisierten kommunistischen Bewegung auch organisatorisch abwandte (nach Kriegsende), für seine politische wie theoretische Arbeit neben den Schriften und Gedanken "Weimarer" sozialdemokratischer Rechtslehrer wie Heller, Sinzheimer oder Kirchheimer die demokratietheoretischen Ansätze eines Max Adler und Otto Bauer fruchtbar zu machen suchte. Diese Spuren wird man in vielen seiner demokratietheoretischen Schriften der fünfziger Jahre finden.

Der Weg in die SPD

So, wie Abendroths Wirken im "Bund Freier Sozialistischer Jugend" in der Retrospektive nahezu völlig hinter seine Aktivitäten im Rahmen der KPD, des KJVD und der KPO zurücktritt, so verhält es sich ähnlich mit seiner Aktivität im Zusammenhang mit der Widerstandsorganisation "Neu Beginnen" und deren Verhältnis zu seinem Wirken in der KPO. Sicher, der Eintritt in die KPO lässt sich rekonstruieren, dürfte ins Jahr 1929 zu datieren sein (wobei ja die Schwierigkeit zu beachten ist, dass die KPO nie wirklich Partei sein wollte, immer noch den Anspruch vertrat, die "eigentliche" KP zu sein. Dem entspricht es auch, dass Abendroth 1931 ohne Begründung wieder in die KPD aufgenommen wurde). Aber: Mitgliedsbücher in illegalen bzw. Tarnorganisationen wie "Neu Beginnen", der zudem Sozialdemokraten, Kommunisten wie Mitglieder anderer sog. Zwischengruppen der Arbeiterbewegung angehörten, gab es mit Sicherheit nicht. Abendroth selbst hat sich jedoch immer als "Mitglied" dieser Gruppe gesehen und - wenn auch nur sehr kursorisch - seine entsprechenden Aktivitäten beschrieben. Zugleich beschreibt er in einem unveröffentlichten autobiographischen Manuskript seine intensive Zusammenarbeit u.a. auch mit der Jugend des Zentralverbandes der Deutschen Angestellten (ZDA), dem Freidenkerverband und SAP-Organisationseinheiten, aber auch einzelnen SPD-Leuten, z.B. Georg Stierle. Bevor Abendroth allerdings zurückblickend überhaupt beginnt, etwas über seinen Schritt in diese Organisation hinein mitzuteilen, bezeichnet er sie als ein ihrem Gesamtkonzept nach "konspiratives Abenteuer". Die Argumente, die er dafür lieferte, sind verständlich. Gleichwohl geht auf diesem Wege wiederum etwas verloren, was in der historischen Forschung durchaus gewürdigt wird: der positive Versuch, von unten her Wege der Zusammenarbeit von SPD-, KPD- und anderen Kadern in der Illegalität zu suchen, die aufgrund der verhärteten Positionen der jeweiligen Parteiführungen von oben her blockiert waren. Und noch etwas fällt aufgrund der Abendrothschen Retrospektivbetrachtung aus der Betrachtung heraus: Hatte er seitens der neuen Gruppe einen Auftrag zur Durchsetzung von deren "neoleninistischen" Organisationsprinzipien und Zielen in der KPO übernommen, oder verstand er sich als Verbindungsmann der KPO-Führung um Thalheimer und Brandler, seinen ideologischen "Ziehvätern", zur "Neu Beginnen"-Führung um Walter Löwenheim? Mit anderen Worten: Seine konkrete eigene Motivation, die uns seine jeweiligen politischen Schritte genauer nachvollziehen ließe, lässt Abendroth wiederum zugunsten einer retrospektiven Reflektion über Wirkung und Bedeutung der Gruppe selbst im Dunkeln. Etwas besser steht es um den Erkenntnisstand, wenn wir uns mit einem Schritt beschäftigen, der in sich einen weit gravierenderen Bruch mit seinem bisherigen politischen Standort markiert, allerdings sicherlich durch die Aktivität im Rahmen von "Neu Beginnen" vorbereitet wird. Abendroth datiert seinen Übertritt bzw. Eintritt in die SPD auf den Herbst 1946, vollzogen in London, und sicherlich vollzogen unter dem maßgeblichen Einfluss seines damaligen Freundes Richard Löwenthal, an dessen programmatischer Schrift "Jenseits des Kapitalismus" er durch Diskussionsbeiträge einen nicht unerheblichen Anteil hatte. Immerhin: In diesem Fall teilt uns Abendroth Näheres über seine Motivationslage mit. Der stalinistische Terror in der Sowjetunion war stetes Diskussionsthema zwischen den politischen Gefangenen, sei es im Zuchthaus, sei es im Strafbatallion 999, sei es im Kriegsgefangenenlager in Südengland, darin eingeschlossen die erbitterte Debatte über das Für und Wider des sog. Hitler-Stalin-Paktes, die Abendroth auf der Seite der entschiedenen Gegner dieses Bündnisses findet (eine Haltung, die er später ändern sollte). Also, summarisch: Der stalinistische Terror auf der einen verbunden mit der Hoffnung auf der anderen Seite, die SPD (zu der ja viele Funktionäre der Zwischengruppen und auch einige der KPD nach Kriegsende stoßen) könne wieder zu einer "sozialistisch-marxistischen" Partei werden, motivieren ihn zu seinem Schritt. Der Rest bleibt weiter im Dunkeln. Über die näheren Umstände, auch über die Rolle Löwenthals, erfahren wir nichts. Aber so viel ist sicher: Ein derartiger Schritt dürfte Abendroth nicht leicht gefallen sein, bedeutete er doch den bislang schwerwiegendsten politischen Wechsel seines Lebens. Sicher: Er setzte - wie er 1976 darlegt - auf eine alle Besatzungszonen umfassende Einheitspartei, d.h. ein anderes Konzept als das, welches die KPD mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht mit mehr als sanftem Zwang in der sowjetischen Zone durchsetzte. Schließlich trat er ja - obwohl dort lebend - der SED nicht bei. Aber selbst wenn er sich für die 20er Jahre "stärker luxemburgianisch als leninistisch orientiert" bezeichnet, hatte sich bis dahin seine gesamte politische Tätigkeit - selbst wenn sie in Richtung auf andere Gruppen offener war als die seiner Partei - im kommunistischen Organisationsrahmen bewegt. An dem "Grundgedanken der Oktoberrevolution" und am Vorbildcharakter Lenins hielt er schließlich - bei nur gelegentlicher Kritik an dessen Politik - auch später immer fest. Für diesen Zeitabschnitt stellt sich die Frage nach den konkreten Bedingungen der Arbeit eines durch und durch politischen Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone, der der SPD nach der in der SBZ vollzogenen "Zwangsvereinigung" von SPD und KPD zur SED beigetreten war und angehörte. Hatte er Kontakt zu westlichen, westberliner Sozialdemokraten? Wie sah eine solche Zusammenarbeit aus? Es ist mit Blick auf die Gesamtentwicklung Abendroths undenkbar, dass er in diesen Jahren politisch "abstinent" geblieben sein soll.

Der Weg aus der SPD

Die Geschichte seines 15 Jahre später erfolgenden Ausschlusses aus der SPD ist - von anderen wie von ihm selbst - vielfach beschrieben worden. Die SPD war den zunehmenden Radikalismus ihres Studentenverbandes SDS satt und stellte auch den Fördererkreis, dessen Vorsitzender Abendroth zeitweilig war und dem ein gewichtiger Teil der bundesrepublikanischen linken Intelligenz angehörte, vor die Alternative, diesen solidarischen Schutz aufzugeben oder aus der SPD ausgeschlossen zu werden. Es erstaunt angesichts der Abendrothschen Prioritätensetzung für die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung nur auf den ersten Blick, dass er seinen parteipolitischen Aktionsrahmen wegen der Auseinandersetzung um einen Studentenverband aufgab. Man dürfte nicht zu weit gehen, wenn man darauf verweist, dass sich seine eigenen positiven Sozialisationserfahrungen eben auch auf linke Studentengruppen als Keimzellen breiterer revolutionärer Aktivitäten bezogen. Im Frankfurt und Berlin der späten zwanziger Jahre bildeten sich - wie er beschreibt unter seiner aktiven Beteiligung - "zum ersten Mal in der deutschen Geschichte breite sozialistische - für ihr Bewusstsein sozialistische - revolutionäre Studentenorganisationen". Aufgrund dieses Hintergrundes fällt es ihm auch leichter als anderen durchaus linken Hochschullehrern - wie z.B. Werner Hofmann in Marburg oder Theodor W. Adorno in Frankfurt -, den "utopischen Überschuss" dieser Bewegung aufzufangen und auszuhalten, gleichwohl aber den Respekt und die Anerkennung der sich radikalisierenden Studenten zu behalten. Heinz Brakemeier weist im übrigen zu recht darauf hin, dass Abendroth bereits früh dem Kontakt zum SDS mindestens die gleiche Bedeutung zumaß wie der Arbeit in der SPD und in den Gewerkschaften, für deren jeweilige Haupt- bzw. Bundesvorstände er ja in vielfältiger Weise über viele Jahre hinweg in beratender Weise tätig war. Richard Löwenthal hat über Abendroths Ausscheiden aus der SPD bereits 1985 eine Auffassung geäußert, die erstaunlicherweise in der Literatur bislang wenig Beachtung gefunden hat: "Der eigentliche innere Bruch mit der Sozialdemokratie kam zwei Jahre vor seinem Ausschluss als Führer der Seniorenhilfe für den SDS mit der Annahme des Godesberger Programms von 1959, dem er einen aussichtslosen Gegenentwurf entgegengestellt hatte." Lassen wir einmal die ironische Kennzeichnung beiseite, so markiert er hier gleichwohl eine völlig andere Sichtweise als die, die uns ansonsten im Zusammenhang mit Abendroths Ausscheiden aus der organisierten Sozialdemokratie begegnet. Hat er recht? Es spricht manches dafür, wenngleich ich die Auffassung vertrete, dass beide Prozesse mit einer gewissen Ungleichzeitigkeit miteinander verschränkt waren. Und wir haben dabei zu beachten, dass Abendroth in den voraufgegangenen Jahren in Fragen wie der Wiederbewaffnung oder der atomaren Aufrüstung immer wieder in Konflikt mit der offiziellen SPD-Mehrheitslinie geraten war. Man wird diesen Entfremdungsprozess Abendroths erst dann genauer nachvollziehen können, wenn eine detaillierte Aufarbeitung des Entstehungsprozesses dieses Godesberger Programms in der Programmkommission einschließlich der Rolle Abendroths darin geleistet wurde, die bislang noch aussteht. Seine Kritik brachte er in einem Brief an den Parteivorsitzenden, in dem er ihm seinen eigenen Gegenentwurf zuleitete, so auf den Punkt: "Da ich der Meinung bin, daß der vorliegende Grundsatzprogramm-Entwurf in vielem widerspruchsvoll und mit der Tradition der sozialistischen Arbeiter-Bewegung unvereinbar ist, habe ich zwecks Diskussion unter einigen Genossen einen Gegen-Entwurf abgefaßt..." Mit seiner diesem Gegenentwurf später zugemessenen Intention, Restkader der "Alten" und vor allem Kader der sozialdemokratischen Jugendorganisationen zu schulen, also Reste von Klassenbewusstsein zu bewahren und zu stabilisieren, korrespondiert die von Heinz Brakemeier übermittelte Befürchtung Abendroths, dass es die wichtigste Funktion des zukünftigen SPD-Grundsatzprogramms sein werde, die Linke in der Partei (und in den Gewerkschaften) dauerhaft zum Schweigen zu verurteilen bzw. auszuschließen. Dies erscheint mir zwar eine arg verkürzte Motivationserklärung für einen immerhin mehrjährigen Programmerarbeitungs- und -diskussionsprozess zu sein - immerhin tat aber die Parteiführung in der bald folgenden Auseinandersetzung einiges dafür, dass sich der Eindruck verfestigen konnte, ihr liege eine solche Entwicklung (mit oder ohne Programm) durchaus am Herzen. Selbst wenn - so stimme ich ja Löwenthal durchaus zu - die Godesberger Programmentscheidung zu einer tiefen inneren Abwendung Abendroths von der SPD führte, bemühte er sich in der Folgezeit durchaus weiter um ein loyales Verhalten gegenüber dem Parteivorstand. So zeigte er Erich Ollenhauer seine bevorstehende Teilnahme mit Referat auf einer Konferenz des SDS im Mai 1959 in Frankfurt, der später mit Anlass für die Unvereinbarkeitsbeschlüsse gab, vorher schriftlich an. Und schon eine Woche nach dieser Konferenz, die mit einer mit Mehrheit angenommenen radikalen außenpolitischen Resolution für Aufsehen gesorgt und den SPD-Bundestagsabge-ordneten Mommer zur öffentlichen Forderung nach Parteiauschlussverfahren veranlasst hatte, versuchte er in einem ausführlichen Brief an die engere Parteiführung (Ollenhauer, Wehner, von Knoeringen und Eichler) die Wogen zu glätten und warb für ein rational-verständnis-volles Umgehen mit dem aufmüpfigen Nachwuchs. Der Brief verdient es aus mehreren Gründen hier näher wiedergegeben zu werden. Erstens dokumentiert er, dass sich Abendroth zu diesem Zeitpunkt (durchaus bereits wissend, was "Godesberg" bringen würde) noch absolut loyal gegenüber seinem Parteivorstand verhielt und sich mit dessen Kritik an bestimmten Teilen der kritisierten Resolution durchaus in Übereinstimmung sah. Zweitens verdeutlichen Inhalt wie Wortwahl, dass er weit davon entfernt war, der kommunistischen Führung im anderen Teil Deutschlands und ihren politischen Anhängern im Westen irgend etwas Positives abzugewinnen. Und drittens entwickelt er darin ein Verhältnis für ein "zeitloses" Umgehen politischer "Erwachsenenorganisationen" mit ihren Jugendverbänden, das - hätten es die Adressaten und ihre Nachfolger beherzigt - der SPD eine Menge Ärger und sich periodisch wiederholende unfruchtbare Konflikte mit ihren jeweiligen Jugend- und Studentenorganisationen erspart hätte. Abendroth gesteht darin zu, dass auf dem Kongress einige "fellow-travellers der Stalinisten und einige Stalinisten" anwesend gewesen seien. Er warnt jedoch davor, aus diesen Gründen mit disziplinarischen Maßnahmen gegen die große Mehrheit der anderen vorzugehen: "Die jungen Genossen können nur durch ihre eigenen Fehler lernen. Erzieht man sie dazu, jeden ihrer Schritte ängstlich darauf abzustimmen, ob er der Führung der Partei und den Intentionen der Verbandsleitungen gefällt, so wirkt man - ob man will oder nicht - zu Gunsten jenes Konformismus, der für die politische Demokratie allgemein, für die Entwicklung der sozialistischen Bewegung im besonderen die größte Gefahr darstellt. Gerade die besten jungen Genossen (das gilt für die Studenten ebenso wie für die jungen Arbeiter, die auf dem Kongreß anwesend waren), werden eine Periode durchlaufen müssen, in der sie zu scheinradikalen Formulierungen neigen und also auch einmal entsprechende Fehler in ihrem Verhalten nach außen nicht vermeiden können. Schließt man sie deshalb aus den Organisationen der sozialistischen Bewegung aus, so treibt man sie unvermeidlich den Stalinisten in die Arme." Mir erscheint die zitierte Passage nur als klare Absage an eine leninistische Parteiauffassung gelesen werden zu können. Umgekehrt erinnert sie aber schon an Rosa Luxemburgs berühmtem Diktum: "Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten 'Zentralkomitees'." Abendroth weist anschließend darauf hin, dass Ausschlussverfahren objektiv das Gegenteil dessen bewirken müssten, was der Initiator bewirken wolle: nämlich eine erhebliche Stärkung des Einflusses der SED auf die westdeutsche Arbeiterbewegung. Stimmungen unkontrollierter Sympathien für die DDR könne man aber immer wieder nur durch demokratische Diskussion und dadurch auflösen, dass die Partei - wie mit dem Deutschlandplan - realistische Lösungen anbiete. Und er schließt mit der Bekräftigung, dass die Partei natürlich zum Ausdruck bringen müsse, dass sie bestimmte Formulierungen der Resolutionen dieses Kongresses nicht billige, und dass die Mehrheit der Teilnehmer sehr bald einsehen werde, "daß zu diesen Fragen die Partei richtig gesehen hat." Der hier beschriebene Prozess erfuhr in gewisser Weise im Jahre 1961 seine Wiederholung - zumindest, was die Rolle Abendroths betrifft. Ohne vorher auch nur einem Mitglied des SDS oder der Förderergesellschaft die Gelegenheit zu geben, zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen, beschloss der Parteivorstand Mitte Oktober die Unvereinbarkeit zwischen diesen Organisationen und der SPD. Erst nach diesem Beschluss fand ein Gespräch zwischen Ollenhauer und Wehner auf der einen, Abendroth und Flechtheim auf der anderen Seite statt, in dem - so Abendroth - nicht mehr diskutiert, sondern nur noch die Unterwerfung verlangt wurde. Pikanterweise wurde die Begründung für diesen Beschluss erst drei Monate später veröffentlicht. U.a. hieß es darin, der SDS habe im Januar 1959 in Berlin und im Mai 1959 in Frankfurt (also vor mehr als zwei Jahren - für eine Studentenorganisation eine kleine Ewigkeit) "eindeutig SED-infiltrierte" Kongresse veranstaltet. Beiden Organisationen wurde vorgeworfen, sie hätten nach einem "wohlüberlegten Plan" die SPD spalten wollen. Festzuhalten bleibt, dass Abendroth trotz seiner Auffassung, dass sich die SPD mit dem Godesberger Programm außerhalb ihrer eigenen Traditionen gestellt hatte, auch zwei Jahre später noch intensive Versuche unternimmt, den drohenden Parteiausschluss und den endgültigen Bruch abzuwenden. So lesen wir selbst einige Jahre später (1964) noch, dass es nicht sein Problem sei, in der SPD mitzuwirken, sondern das dieser Partei: "Ich hätte keinerlei Bedenken, in der SPD zu arbeiten, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte. Aber die Erörterung sozialistischer Lösungen ist ja bei denen verboten."

Über den gescheiterten Versuch eines eigenständigen Linkssozialismus ...

Dass sich der "Fall Abendroth" für die SPD noch für lange Zeit nicht in Richtung auf eine "prokommunistische" Wendung lösen sollte, soll ein Streifzug durch einen Aufsatz Abendroths verdeutlichen, der im Folgejahr erschien. Man kann heute nur darüber spekulieren, warum diese Veröffentlichung nur in Italien geschah, während ja ansonsten Beiträge Abendroths in ausländischen Zeitschriften eher im Wege von Übersetzungen zustande kamen. Es spricht einiges dafür, dass dies der Tatsache geschuldet ist, dass Abendroth nicht gerade freundlich, zugleich aber drastisch-offen über Grundprobleme der deutschen Linken außerhalb der Sozialdemokratie handelt. Der Aufsatz schließt mit folgender Überlegung: " ... es gibt heute kein Zentrum, um das herum sich die Oppositionsströmungen zu einer echten politischen Kraft bündeln könnten. Voraussetzung für die Bildung eines derartigen Zentrums wäre, daß eine wenn auch kleine Gruppe linker Intellektueller und Gewerkschaftsführer in vollem Umfang diese Situation begreift und sich von der Politik der Sozialdemokratie und der kommunistischen Partei auf eine Weise abgrenzt, die sie auch deutschen Arbeitermassen klar und verständlich werden ließe, ohne Konzessionen gegenüber der ‚öffentlichen Meinung‘, der Presse, der Führung der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland einzugehen, die alle auf eine Politik der Gewalt und auf eine Verschärfung der internationalen Spannungen abzielen." Abendroth sparte in diesem Aufsatz nicht mit Kritik an der Entwicklung der Politik von Gewerkschaften und SPD - kein Wunder, hatte letztere ihn erst im Jahr zuvor ausgeschlossen. Der Schwerpunkt des Textes liegt jedoch auf einer Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten der unabhängigen mit der (inzwischen im Westen ja verbotenen) kommunistischen Linken. Ausgangspunkt dafür ist für ihn der Zustand der DDR und ihrer Führung. Trotz der Konzedierung eines gewissen Verständnisses für die Reparationspolitik der UdSSR gegenüber der DDR stellt er fest, dass eine derartige wirtschaftliche Plünderung über lange Zeit nicht ohne Ausübung einer Schreckensherrschaft habe durchgeführt werden können. Darin sieht er die eigentliche Erklärung dafür, dass die SED, die von Anfang an eine "stalinistische Partei" gewesen, dies bis zum jetzigen Zeitpunkt auch geblieben sei. Parallel dazu seien weite Teile der Linken in der Bundesrepublik durch die Politik der Führungen von SPD und DGB desillusioniert worden. Abendroth empfindet dieses Dilemma einer nichtstalinistischen Linken deshalb als besonders gravierend, weil er es für eine "hartnäckige Illusion" hält, "die Auflösung des sozialistischen Bewußtseins in der deutschen Arbeiterbewegung durch Zusammenarbeit mit den stalinistischen Gruppierungen aufhalten zu können. Das Verbot der KPD und ihrer politischen Freunde verhindert es, diese Illusion offen auszufechten ..." Die einzige organisierte Gruppierung der deutschen Linken, die dieses Problem für sich gelöste habe, die in ihren Reihen keine philostalinistische Unentschlossenheit zulasse, so schreibt er, sei der SDS (über andere Personen, Gruppen und Zeitschriften hatte er sich zuvor kritischer geäußert). Ich habe die Positionen dieses Aufsatzes hier nicht nur so breit wiedergegeben, weil er bislang in der Bundesrepublik weitgehend unbekannt bzw. unbeachtet geblieben ist. Vielmehr ging es mir auch um den Nachweis, dass Abendroth in diesen Jahren authentisch und glaubwürdig um eine eigenständige linkssozialistische Position in der bundesrepublikanischen politische Landschaft rang. Folgerichtig führten diese Überlegungen in die Aktivitäten des "Sozialistischen Bundes", dessen organisatorische wie inhaltliche Arbeit ebenfalls bis heute noch einer eingehenderen Aufarbeitung harrt. Als Abendroth Mitte 1963 dessen Aufgaben beschrieb, hatte sich sein Urteil keineswegs gewandelt: "Die für uns in dieser Richtung dringlichste Frage ist dabei die Stellung gegenüber dem deutschen Staat, der sich als ‚sozialistisch‘ bezeichnet, gegenüber der DDR. Die altstalinistischen Herrschaftsformen in der DDR, die nur äußerst begrenzt (z.B. in juristischen Fraugen) aufgelockert worden sind, bleiben (von Albanien abgesehen) noch immer die reaktionärsten des Ost-Blocks und kompromittieren in der Bundesrepublik den Sozialismus in solchem Maße, daß wir auf ihre scharfe Kritik unter keinen Umständen verzichten können."

... in die Nähe der DKP

Der Versuch, eine eigenständige linkssozialistische Gruppierung oder Partei zwischen SPD und illegaler KPD aufzubauen, darf mit Fug und Recht als gescheitert betrachtet werden. Das Jahr 1968 markiert dabei insofern einen gewissen Kristallisations- und Kulminationspunkt, weil sich hier gleich mehrere Entwicklungen zu Entscheidungen bündelten. Die Studentenbewegung entwickelte sich rasch zu einer für den bürgerlichen Staat durchaus bedrohlichen Massenbewegung (und zwar nicht nur in Deutschland). Verbunden damit war allerdings auch eine gewisse Abkehr von festen, parteiförmigen Organisationsstrukturen hin zu spontanen, als "revolutionär" verstandenen Massenaktionen. Gleichzeitig walzten sowjetische Panzer in Prag die Hoffnung auf den Beginn eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" im realsozialistischen Lager nieder. Abendroth gehörte zu einer Gruppe unabhängiger Linksintellektueller, die dies in einer öffentlichen Resolution deutlich verurteilte. Schließlich wurde, nach sorgfältigen Sondierungen mit dem sozialdemokratischen Innenminister Gustav Heinemann, eine Deutsche Kommunistische Partei (DKP) in der Bundesrepublik legal neu gegründet, die fortan die Gründung einer eigenen linkssozialistischen Partei zumindest weiter erschwerte, wenn nicht letztendlich ganz verhinderte. Das 1969 zu den Bundestagswahlen antretende Wahlbündnis "Aktion Demokratischer Fortschritt" (ADF) wurde nicht nur von Abendroth, sondern auch bereits von der DKP unterstützt, eine Situation, die noch im Jahr davor innerhalb des Sozialistischen Bundes gerade wegen der Prager Ereignisse auf heftige Ablehnung gestoßen war. Viele glaubten wohl in dieser Zeit, sich zwischen der unorganisierten, antiautoritären Studentenbewegung oder neuen, festen Organisationsformen, in diesem Fall der DKP und ihrer Studentenorganisation, dem MSB-Spartakus, entscheiden zu müssen. Dies scheint - so gibt es zumindest Jürgen Seifert aus einem Gespräch wieder - auch bei Wolfgang Abendroth der Fall gewesen zu sein. Er hielt nun die neu entstandene DKP - sicher zunächst ohne sich Illusionen über die in ihr verbliebenen Restbestände stalinistischer Kader bzw. stalinistischen Gedankenguts zu machen - für einen neuen Kristallisationskern zur Entwicklung von Klassenbewusstsein in der zeitgenössischen Bundesrepublik. Öffentlich allerdings nahm er sie nun gegen Attacken von außen nahezu ohne eigene kritische Einwände in Schutz. Von der noch 1963 für erforderlich gehaltenen "scharfen Kritik" und dem dazu gehörigen Begründungszusammenhang lesen wir nun ebenfalls nichts mehr. Eine Buchbesprechung von Jean Elleinsteins "Geschichte des Stalinismus" nutzt er 1977 - verglichen mit seinen Positionen der sechziger Jahre (und ohne die Gründe für seinen Einstellungswandel wirklich kenntlich zu machen) - zu der schon erstaunlichen abschließenden Feststellung, dass es "unvermeidlich" (wir müssen hinzufügen: nur noch) sozialpsychologische (und organisatorische) Reste des Stalinismus gebe, die aus dieser Zeit vor dem 20. Parteitag der KPdSU von 1956 stammten. Wir können hier nur festhalten, dass im Übergang der späten sechziger zu den siebziger Jahren seine Beurteilung der Politik der DDR bzw. der UdSSR im Vergleich zu der Vorperiode ausgesprochen milde wurde, wenngleich er innere Repressalien, sei es gegenüber Biermann, sei es gegenüber Bahro, weiter, wenn auch sehr viel vorsichtiger kritisierte, was ihm heftige Kritik von früheren Mitstreitern einbrachte. Während er den sozialliberalen Wahlsieg 1972 ausdrücklich begrüßt, ruft er 1976 erstmals offen zur Wahl der DKP auf. Sie sei die einzig rationale Kraft, die man wählen müsse, um von links gegen die SPD-Führung zu protestieren. Angesichts der Kandidatur von Strauß konnte er sich 1980 - wenn ich es richtig sehe - nicht zu einer Wiederholung dieses Aufrufs durchringen. Wegen der unvermeidlichen Polarisierung war klar, dass die DKP noch weit weniger als vier Jahre zuvor eine Chance haben würde, die 5%-Hürde zu überspringen. Deshalb warb er für breite Aktionsbündnisse gegen die Strauß-Kandidatur. 1983 schließlich stellte er (ohne "Anhänger noch Sympathisant" der Grünen zu sein) Erwägungen an, dass es - weil die DKP keine Chance habe, über die 5%-Hürde zu kommen - Sinn machen könne, die Grünen als möglichen linken Koalitionspartner der SPD zu stützen. Bei den Europawahlen 1984 begründete er seinen Aufruf zur Wahl der "Friedensliste" ausdrücklich mit deren Bündnischarakter und dem Vorrang des Themas Hochrüstung. Es gebe keinen Grund, sie zu diffamieren, weil auf ihrer Liste auch Kommunisten kandidierten. Und er fügte hinzu: "Auch ich bin wieder Mitglied noch Anhänger der DKP, und es gibt viele Fragen, in denen ich anderer Meinung bin als die DKP. Aber Kommunisten nur deshalb, weil sie Kommunisten sind, aus dem politischen Leben auszuschließen, das heißt, Demokratie in die Luft zu sprengen ..." Beobachtet man diesen Gesamtprozess, wird man insgesamt feststellen müssen, dass der Wandel seiner politischen Grundeinstellung wie der seiner veröffentlichten Stellungnahmen zwischen den sechziger und den siebziger Jahren ähnlich dramatisch erscheint, wie der Wechsel von der Arbeit im kommunistischen zum sozialdemokratischen Organisationszusammenhang in den vierziger Jahren. Auch über die Gründe dafür, über die Motivationen oder neue Einsichten erfahren wir durch eine Analyse seiner Veröffentlichungen zu wenig. Der diesmal sehr viel langsamere Wandel wird sich durch eine sorgsame Analyse herausarbeiten lassen, aber letztendliche Klarheit dürfte erst durch Motivationsforschung in seinem unmittelbaren Arbeitsumfeld und wissenschaftlichen wie politischen Diskussionszusammenhang zu erzielen sein. Denn rätselhaft blieb dieser Einstellungswandel durchaus auch für eine Reihe von Wegbegleitern, die bis dahin ein ganzes Stück der Wegstrecke mit Abendroth gegangen waren. So lesen wir 1977 in einer Buchbesprechung bei seinem alten Weggefährten Ossip K. Flechtheim unverhohlen kritische Fragen zu Abendroths neuer Haltung gegenüber der Sowjetunion, der DDR und den deutschen Kommunisten. Angesichts seiner eigenen Geschichte sei es um so unverständlicher, dass er sich in den letzten Jahren Moskau angenähert habe. Er kritisiere zwar mit Recht die autoritären Tendenzen in der SPD, halte der DKP aber nur vor, sie sei zu schwach.

Wie weiter mit Abendroth?

Abendroths Leben ist ungeachtet vieler eigener wie fremder Darstellungen voller Brüche und Wendungen, die neu entdeckt und untersucht werden wollen. Dabei wird sehr viel genauer auf die Unterscheidung von zeitgenössischen Entscheidungsmotivationen und nachträglichen intellektuellen Rationalisierungen zu achten sein, die von ihm selbst nachträglich häufig verwischt wurden. Neue Zeiten, neue Erfahrungen stellen auch viele Fragen neu. Der Blick auf die Geschichte der Staaten des "realen Sozialismus" wie auf die Organisationen der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts ist nach den Umbrüchen der Jahre 1989 bis 1991 notwendig ein anderer als noch im Todesjahr Abendroths 1985, als er zuletzt in größerem Umfang wissenschaftlich wie politisch gewürdigt wurde. Das hätte er wohl selbst nicht anders beurteilt. Nähern wir uns seinem Wirken auf diese Weise neu, wird vielleicht mancher Mythos zu beerdigen sein, wird aber vielleicht um so mehr von dieser faszinierenden Persönlichkeit zutage treten, die auch deshalb geradezu paradigmatisch für ein "Leben in der Arbeiterbewegung" in diesem schauerlichen 20. Jahrhundert steht, weil sie an all ihren Wirren und Irrtümern, aber auch an ihren Erfolgen und Errungenschaften teilhatte.