Regulierter Hedonismus

Nun verschwinden sie von der politischen Bildfläche - die großen Deuter und Fürsprecher des wundersamen, sich selbst und dem Westen so fremden Ostens: Kurt Biedenkopf zurechtgestutzt ...

... zum unfreiwilligen Pensionär, Manfred Stolpe verstummt unter der Last der Amtsjahre und in Schönbohms Umarmung, Reinhard Höppner als der tragische Verlierer von Magdeburg - und Wolfgang Thierse in spektakulärer Selbstdistanzierung via BILD vom Jammerossitum Â…

Tatsächlich scheint die Sachsen-Anhalt-Wahl in Ostdeutschland das Ende einer bestimmten Politik-Kultur gebracht zu haben: Es geht nicht mehr um das Akzeptieren und Verstehen der besonderen ostdeutschen Probleme als entscheidende kommunikative Botschaft der Politik an die Ostdeutschen, auch nicht mehr um das Werben für Akzeptanz und Verständnis nach außen - gegenüber dem Westen, gegenüber dem Bund -; erwartet werden jetzt Handeln, Tatkraft, Innovation, Erfolg. Reinhard Höppner ist auch daran gescheitert, daß er Manfred Stolpe und Kurt Biedenkopf als Interpreten beerben wollte und nicht Schröder als den Macher kopiert hat.

"Die diversen Krisensymptome des Ostens dürfen nicht länger als Handicaps - sie müssen als Herausforderung für unternehmungs- und abenteuerlustige Menschen mit Mut und Phantasie begriffen werden", schrieben Wolfgang Engler und Wolfgang Kil (Blättchen 8/2002). Darin steckt der Appell an die Politik, neue Adressaten zu erkennen - und die Voraussetzung, daß es solche Adressaten überhaupt gibt; daß die in der Überschrift behauptete Avantgarde aus Dunkeldeutschland existiert.

Zumindest das Bedürfnis danach scheint in "Dunkeldeutschland" vorhanden zu sein - die Avantgarde selbst vielleicht nur an den lichten Punkten: in Berlin, Leipzig, Dresden, oder Jena Â… Doch Bedürfnis und Realität verschmelzen schon: Stimmungswechsel, Stimmungsumschwünge vollziehen sich nicht nur in alten Köpfen, sondern auch durch neue Köpfe mit neuen Gedanken, Lebenserfahrungen, Erwartungen. Nicht allein die Ossis, wie man sie kennt, ändern sich - sondern neue Ossis treten hinzu: jene der jüngeren Generationen, jene von außerhalb.

Eine im Keim bereits erkennbare, jetzt als Lebensform zu gestaltende und politisch zu ermöglichende wirtschaftliche, soziale, kulturelle Perspektive tut sich auf - nicht in erster Linie eine gemeinsame Vergangenheit, eine zurückliegende Sozialisation, das Elend der Neunziger. Akzeptiert und unterstützt wird, wer eine solche Perspektive bietet - nicht Wohltaten, nicht gute Versprechen sind der Maßstab. Einen neuen Raum öffnen - nicht die alten Sitzplätze verteidigen.

Diese "neuen Ossis" sind dies wohl nicht durch Gnade oder Ungnade des Geburtsortes - sondern sie sind es durch den Ort, den sie sich als Lebensmittelpunkt gewählt haben beziehungsweise zu dem sie passen würden. Zum neuen Ossi wird man also nicht ernannt oder abgestempelt oder wird es durch Mutter oder Vater - nein, man entscheidet sich selbst dazu. Indem man hier bleibt, hierher zieht, sich für die Verhältnisse interessiert, so tickt wie die Agilen, Klugen, Pfiffigen hier. Vielleicht will man sich selbst nicht einmal so nennen.

Wie aber ticken diese Leute?

Sie haben, so scheint es, ein betont kühles, distanziertes Verhältnis zur Welt, wie sie sie vorfinden, und erst recht zu allgemeinen Visionen und Zukunftsträumen. Gleichwohl verhält man sich aktiv dazu - aber eher selektiv und instrumentell. Die Prüfung, ob etwas nützlich ist, ob es etwas taugt, erfolgt lästernd und spöttisch - aber offen. Selektion durch lachende und entschiedene Aussonderung des Absurden, Anachronistischen, Altväterlichen, allzu Gutmenschlichen, Soften - aber auch des Hardcore-Egoismus aller Art.

Es entsteht eine Stimmung wie: Kapitalismus - na gut, wo es etwas nutzt. Sozialismus - bitte auch, aber nur wo es not tut. Liberalismus - na sicher, die sollen mir meine Freiheit lassen, aber auch nicht überziehen. Bürokratie ist furchtbar, aber alles alleine machen - auch. DDR - lange vorbei; laßt die Alten drüber sabbeln, aber mich in Ruhe - sowohl mit Nostalgie als auch mit "Vergangenheitsbewältigung". Bundesrepublik - ist da, aber nicht schon deswegen wirklich toll. Etwas ganz anderes - auch nicht. Ausländer - kein Problem, wenn sie zu mir passen und jeder sein Ding machen kann. Arbeit, Karriere - notwendig für ein nettes Leben; aber wer weiß, wie lange das geht? Wichtig ist erst einmal, daß der Schritt von heute in den nächsten Tag funktioniert. Aber was in meinem Leben kaputtgeht, mache ich selber kaputt - und niemand anderes, sonst werde ich böse! Elend ist furchtbar - und am besten verschont man mich davor, indem vorgesorgt wird - irgendwie von der Gemeinschaft, irgendwie aber auch vom einzelnen -, daß erst gar kein Elend entsteht.Zumindest kein final zerstörendes. Was ich im Leben machen will? Etwas Spannendes, Neues, etwas mit Glanz und Freude und Gewinn, keine Maloche. Aber Maloche wird gemacht, wenn es für etwas anderes nutzt.

Diese Stimmung ist nicht völlig neu, sie steht auch nicht isoliert in der Gesamtbevölkerung - neu ist vielleicht die Kombination, neu ist, daß gerade sie Akzente setzt. Wenn das aber stimmt, dann geraten - auch politisch - alte Vorurteile und scheinbare Gewißheiten ins Wanken.

Zum Beispiel die These, daß die Mehrheit im Osten in einem eher traditionellen Sinne sozialistischen Werte anhängt. Die neuen Ossis sind auf ihre Weise links - aber sie sind nicht Sozialisten, die sich retrospektiv auf den DDR-Sozialismus als "gut gemeinten Versuch" mit mehr "guten" als "schlechten Seiten" und auf die Verstaatlichung der Wirtschaft beziehen. Ihr Thema sind Perspektive und in diesem Kontext Integration der (ost-) deutschen Gesellschaft - nicht allein oder gar vorrangig die Rehabilitierung der Wende- und Modernisierungsverlierer von 1989ff. Ein solches neues Ossitum ist aber auch eine moderne Gegenbewegung gegen den 68er Mief - und eine lebensweltliche Abgrenzung von der restaurativen Attacke strammer Konservativer und jener Spießbürger, denen es wegen der Dominanz der 68er Eliten in den neunziger Jahren nach Revanche gelüstet. Das ist der Bruch mit fast allen Routinen von Kommunikation und Kultur der neunziger Jahre!

Und das ist das Problem für die wahlkämpfenden Parteien im Osten. Nicht Missionierung, nicht Werbung, nicht PR, nicht "wissenschaftliche Analyse" oder "Aufklärung", nicht "Political Correctness" können mehr den Gestus bestimmen, mit dem sie sich den neuen Ossis zuwenden. Wer die Nase letztlich vorn hat, wird sich daran entscheiden, wer es am schnellsten und besten lernt, eine Art katalytische Wirkung für eben jene Selektion durch lachende und entschiedene Aussonderung des Absurden, Anachronistischen, Altväterlichen Â… Wichtig sind gedankliche Freiheit, intellektuelle Souveränität und die Fähigkeit, mit dem Publikum zu sein. Welch eine Herausforderung an Parteien und Institutionen.