Argentinien am Ende der neoliberalen Sackgasse

Zu analysieren ist, wie aus dem neoliberalen Musterschüler Argentinien das Sorgenkind der internationalen Finanzmärkte werden konnte. ...

1. Ausgangsfragen

Zu analysieren ist, wie aus dem neoliberalen Musterschüler Argentinien das Sorgenkind der internationalen Finanzmärkte werden konnte. Spätestens seit Dezember 2000 steht Argentinien am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Vieles deutet darauf hin, dass das Land nur noch mit Krediten vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen Finanzinstitutionen künstlich am Leben gehalten wird. Die hohe Staatsverschuldung ist in der Tat der Hauptauslöser für die gegenwärtige Finanzkrise Argentiniens. Man kann leicht sehen, dass Argentinien in einem Teufelskreis aus wirtschaftlicher Rezession, riesigen Schulden und hohen Zinsen steckt. Die tieferen Ursachen hierfür sind in den "neoliberalen Reformen" der 90er Jahre zu suchen. Diese haben die produktive Basis des Landes insgesamt eher geschwächt, da die durchgängige Politik der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, Einrichtungen und Funktionen sowie der Begünstigung des in- und ausländischen Finanzkapitals nicht nur zu Lasten der Mehrheit der Mittelschichten und der Gesamtheit der Unterschichten ging, sondern ebenso eine auf nationalen Ressourcen beruhende Akkumulation und den einheimischen Markt erheblich in Mitleidenschaft gezogen haben.

Die internationalen Anleger sahen bislang in Argentinien lukrative Anlagemöglichkeiten. Argentinische Schuldtitel versprechen eine hohe Rendite und sie konnten als relativ sicher gelten. Denn mit dem IWF verfügen die Anleger über einen zuverlässigen Feuerlöscher und Geldeintreiber. Es sind vor allem zwei Gründe, weswegen Argentinien vom IWF bislang noch nicht fallen gelassen wurde:

Ein ideologischer Grund: Nur wenige Länder in Lateinamerika haben in den 90er Jahren die Vorgaben des IWF zur Strukturanpassung so peinlich genau befolgt wie Argentinien. Daher kann der IWF das Land nicht fallen lassen, es sei denn er wollte seine marktradikalen Konzepte für gescheitert erklären.

Ein materieller Grund: Argentinien ist - trotz aller Krisen - dank der Peso-Dollar-Parität immer eine sehr rentable Anlagequelle geblieben.

2. Wirtschafts- und Sozialstruktur Argentiniens

Um die oben vorgetragene These besser untermauern zu können, soll hier zunächst ein kurzer Überblick über die Wirtschafts- und Sozialstruktur Argentiniens gegeben werden. Argentinien ist ein Schwellenland ("Emerging Market") und verfügt in den städtischen Zentren Buenos Aires, Córdoba und Rosario über eine relativ komplette Industriebasis, wenn man das Land am Rio de la Plata mit seinen Nachbarn vergleicht. Dennoch geht von der argentinischen Industrieproduktion nur sehr wenig in den Export. Es wird dort vor allem für den einheimischen Markt produziert. Wichtigste Exportgüter sind Commodities, vor allem Agrarprodukte wie Soja und Weizen.

In Argentinien war bis Ende der 80er Jahre das Modell der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) vorherrschend, auch wenn mit Beginn der Militärdiktatur durch Wirtschaftsminister Martínez de Hoz erste Schritte in Richtung auf Umstrukturierung der argentinischen Regulationsweise hin zum Neoliberalismus unternommen wurden. Aufgrund der Anwendung des ISI-Modells hatte Argentinien eine ausreichende Industriebasis und schützte diese durch sehr hohe Außenzölle. Dies führte allerdings zur Überalterung der nationalen Industrie. Das ISI-Modell geht zurück auf den argentinischen Sozialwissenschaftler Raúl Prebisch. Als Generalsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) hat er versucht, das nach 1945 in Europa und den USA vorherrschende Modell des Keynesianismus ("Fordismus") für Lateinamerika nutzbar zu machen. Die Idee dahinter war, dass Lateinamerika als Produzent von Primärgütern auf dem Weltmarkt wegen der Verschlechterung der Terms of Trade strukturell benachteiligt ist. Daher mache es auch keinen Sinn, so Prebisch, auf die komparativen Kostenvorteile der Länder zu setzen, um eine nachholende Industrialisierung zu schaffen (Prebisch 1969: 411 ff.). Prebisch sah die Industrialisierung der lateinamerikanischen Länder als notwendig für eine nachholende Entwicklung an. Daher sollten Grenzschranken den nationalen Markt vor ausländischer Konkurrenz schützen. Unter diesen Bedingungen sollte sich eine nationale Industrie entwickeln, die am einheimischen Markt ihre Produkte verkauft. Damit würde der nationale Markt zur Triebfeder der Industrialisierung werden. Infolge dieser schon in den 30er Jahren beginnenden ISI-Tradition und anderer ökonomischer und sozialer Faktoren, die mit der günstigen Naturausstattung und der spezifischen Einbindung des Landes in den Weltmarkt zusammenhängen, verfügte Argentinien über einen hohen Bildungsstandard und über traditionell breite Mittelschichten, die teilweise Träger des Fortschritts waren und bislang über beträchtliche Kaufkraft verfügten.

Argentinien ist ein traditionell korporatistisches Land mit einer starken Gewerkschaftsbewegung. In den großen Unternehmen gibt es starke Betriebsräte, die Tarifverträge aushandeln. Allerdings sind die argentinischen Gewerkschaften weniger klassenkämpferisch orientiert als ihre Kollegen in den Nachbarländern Brasilien und Uruguay. Ihre ideologische Ausrichtung geht zurück auf den ehemaligen Caudillo-Präsidenten Juan Domingo Perón. Der Peronismus kann als eine "ambivalente Klassenallianz" bezeichnet werden (Boris/Hiedl 1978: 71). Es handelt sich dabei um ein stark nationalistisches Projekt, bei dem die Gewerkschaften sich in die Pflicht genommen fühlen, das Land aufzubauen - sehr zum Vorteil der nationalen Unternehmer. Dafür waren sie aber in der Lage, eine vorteilhafte Sozialgesetzgebung zu erkämpfen (Krankenkassen, Kündigungsschutz, Urlaub). Argentinien verfügte noch bis zum Amtsantritt von Präsident Carlos Menem im Jahr 1989 über ein relativ breites und dichtes sozialstaatliches Netz.

3. Die "neoliberalen Reformen" der 90er Jahre

Mit dem Amtsantritt des Peronisten Carlos Menem (im Präsidentenamt von 1989-1999) fand in Argentinien ein Epochenbruch statt: Der korporatistische Staat wurde umgebaut zu einem neoliberalen Wettbewerbsstaat. Da dies nach Ende der ISI-Strategie geschah und es nicht nur darum ging, ein Stabilisierungsprogramm einzusetzen, sondern eine neue Entwicklungsstrategie, kann von einer neoliberalen Konterrevolution gesprochen werden. Nachdem das ISI-Modell gescheitert war, entstand in ganz Lateinamerika ein ideologisches Vakuum, das die marktradikalen Reformer besetzen konnten.

Argentinien war dabei das Land in Lateinamerika, das beim neoliberalen Umbau am schnellsten und radikalsten vorging. Menem setzte ein weitreichendes Privatisierungsprogramm durch und verkaufte alle Staatsunternehmen - darunter auch solche, die gewinnbringend und effizient gearbeitet haben, wie die Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas und der Mineralölkonzern YPF (hierzu genauer: Margheritis 1998 u. Vidal, 2001). Heute sind bis auf einen Teil der Rentenkasse und die Steuerabwicklung alle Firmen privatisiert (abgesehen von zwei schrottreifen Atomkraftwerken aus deutscher Produktion). Die Gewinne aus der Privatisierung flossen direkt in den Schuldendienst, wenn sie nicht gleich durch sogenannte Debt to Equity Swaps abgewickelt wurden ("Brady-Plan"). Dabei können billig gekaufte Schuldtitel zu ihrem Nominalwert gegen Staatsfirmen eingetauscht werden.

Der zweite wichtige Pfeiler der "wirtschaftlichen Reform" Menems war die Außenöffnung der Wirtschaft. Er senkte die Einfuhrzölle für ausländische Waren von durchschnittlich 50 Prozent auf elf Prozent. Anders als in Chile, das sich schon in den 80er Jahren radikal dem Weltmarkt öffnete, wurde in Argentinien die nationale Wirtschaft nicht durch staatliche Programme und Kredite auf die neue Konkurrenz von Außen vorbereitet. Dies führte zu einer massiven Pleitewelle vor allem unter den mittleren und kleineren Firmen. Zwar wuchs die Wirtschaft von 1990 bis 1994 um 7,4 Prozent, allerdings verdoppelte sich in dieser Zeit die Arbeitslosigkeit (Marcó del Pont/Valle 2001: 176 f.), was durch die Abschaffung von arbeitsrechtlichen Regulierungen und eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nochmals verstärkt wurde. Dadurch sank auch die Qualität der Arbeitsverhältnisse. Die Zahl der weniger stabilen Arbeitsverhältnisse stieg von 1994 bis 2000 um 28 Prozent (ebd.: 179). Die argentinische Ökonomin Mercedes Marcó del Pont und der Ökonom Héctor W. Valle schlussfolgern daher: "Auch wenn das Wachstum eine notwendige Bedingung für die Schaffung von Arbeitsplätzen ist, so stellt es aber keinesfalls eine ausreichende Bedingung dar." (ebd.: 176)

Kernstück der Reformen war der Plan Cavallo aus dem Jahr 1991, benannt nach dem damaligen und heutigen Wirtschaftsminister Domingo Cavallo. Um die Hyperinflation zu beseitigen, koppelte Cavallo den argentinischen Peso an den US-Dollar im Verhältnis 1:1. Für jeden Peso der Umlaufmenge M1 (Bargeld und Sichteinlagen) muss in den Tresoren der Zentralbank ein Dollar an Reserven liegen. Mit dieser hundertprozentigen Deckung der argentinischen Währung wurde ein Dollarstandard für den Peso geschaffen. Damit gelang es Cavallo, die Hyperinflation zu beseitigen. Allerdings nahm er sich mit dieser Maßnahme ein wichtiges staatliches Interventionsinstrument, wie dies die Geldpolitik darstellt. Auch ist mit dieser quasi-Dollarisierung das Niveau der Preise in Argentinien - im Vergleich zur Kaufkraft - hochgeschnellt. Dies gilt zum einen für die Konsumentenpreise, aber auch für die Löhne und Investitionen. Allerdings stiegen die Löhne nicht entsprechend den Preisen. Von 1994 bis 2000 sank beispielsweise das mittlere Einkommen der privaten Haushalte um jährlich 4,3 Prozent (Marcó del Pont/Valle 2001: 181). Damit kommt auch ein ideologisches Moment der Peso-Dollar-Bindung zum Vorschein. Arbeiter, Angestellte und Taglöhner verlieren an Kaufkraft, erleben also über eine Preisstabilität oder gar Deflation ähnliche Umverteilungsprozesse wie unter Bedingungen der Inflation, was allerdings erst allmählich wahrgenommen wird. Transnationale Konzerne und Gläubiger hingegen nehmen stabile Dollargewinne mit. Damit dient die Peso-Dollar-Parität vor allem den Vermögensbesitzern. Generell begünstigt eine strenge Austeritätspolitik vor allem die Geldbesitzer. Im Falle Argentiniens wird dies noch deutlicher, da die Schere zwischen Geldbesitzern und Lohnabhängigen in Folge der fallenden Löhne und steigenden Gewinne weiter auseinander geht.

Alle diese während der 90er Jahre durchgesetzten Reformen wurden vom IWF empfohlen und implementiert. Ideologisch sahen die Reformer den Staat als "Totalität des Problems." (Borón 1992: 207) Das neoliberale Modell kann zumindest bis zum Jahr 2000 als hegemoniales Modell in Argentinien angesehen werden. Zentrales Argument bei der Durchsetzung der Hegemonie war die immer wieder beschworene Angst vor der Wiederkehr der Inflation. Ein weiterer Beleg für die neoliberale Hegemonie war der Präsidentschaftswahlkampf 1999, bei dem Menem nach zwei Amtsperioden laut Verfassung nicht mehr antreten durfte. Der siegreiche Kandidat von der Radikalen Bürgerunion (UCR) und heutige Präsident Fernando de la Rúa versprach den neoliberalen Kurs weiterzuführen und gewann die Wahlen. Mit diesem "Transformismus" (Gramsci 1991 ff., Bd. 5: 966) ist eine ehemals oppositionelle Kraft in die Durchsetzung eines hegemonialen Modells eingebunden worden.

Außenwirtschaftlich ist Argentinien mit Brasilien, Uruguay und Paraguay eng verflochten. Im Jahr 1991 unterschrieben die Präsidenten der vier Länder den Vertrag von Asunción und gründeten damit den Freihandelsblock Mercosur (dt.: Gemeinsamer Markt des Südens), dem sich auch Bolivien und Chile als assoziierte Mitglieder angeschlossen haben. Wichtigster Handelspartner Argentiniens ist Brasilien, gefolgt von der Europäischen Union und den USA. Durch den Mercosur konnte Argentinien bis zum Jahr 1999 ein deutliches Handelsbilanzplus im Handel mit Brasilien verzeichnen. Beim Handel mit der EU und den USA ist Argentinien fast ein reiner Agrargüterexporteur (Soja, Weizen, Rindfleisch, Honig, Zitrusfrüchte).

4. Krisendiagnose

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Argentinien in der neoliberalen Dekade der 90er Jahre hohe Wachstumsraten verzeichnen konnte. Im Durchschnitt wuchs die Wirtschaft in dieser Zeit um sechs Prozent. Bei der Wirtschaftsentwicklung lassen sich drei unterschiedliche Phasen ausmachen:

1990-94: Wachstum

1995-98: Verlangsamung des Wachstums und Rezession

1998-2001: Rezession und Finanzkrise

Während der 90er Jahre haben sich die Staatsschulden Argentiniens verdoppelt, indem man fällig gewordene Schulden mit neuen Krediten bedient hat. Die Regierung ist damit eine Wette auf Wachstum eingegangen, die von heute aus betrachtet als verloren bezeichnet werden muss. Derzeit ist allein der argentinische Zentralstaat mit 130 Milliarden Dollar verschuldet. Rechnet man die Schulden der Provinzen und privaten Schuldner hinzu, so kommt man auf zirka 210 Milliarden Dollar. Allein im kommenden Jahr muss Argentinien Schulden und Zinsen in Höhe von 20 Milliarden Dollar bedienen. Die Monatsberichte der Dresdner Bank Lateinamerika AG (2001: 2) wollen eine Zahlungsunfähigkeit Argentiniens "nicht mehr vollkommen ausschließen." Der argentinische Ökonom Jorge Beinstein (2000: 5) formuliert es anders: "Es ist keine Frage mehr der Legitimität dieser Schuld, sondern es ist klar, dass es faktisch unmöglich ist weiter zu bezahlen. Wenn über längere Zeit Summen in dieser Höhe transferiert werden, führt dies zu einem nie dagewesenen sozialen Kollaps." Seit dem Jahr 2000 steht Argentinien am Rande der Zahlungsunfähigkeit und wird nur noch künstlich beatmet.

Bei der Suche nach Gründen macht es wenig Sinn, zwischen externen und internen Gründen zu unterscheiden, da festzustellen ist, dass sich beides überschneidet. Eher ist die These des Ökonomen, ehemaligen Wirtschaftsministers und Anhängers der ISI-Schule, Aldo Ferrer, zutreffend, dass die argentinische Krise "vor allem auf strukturelle Ursachen und weniger auf konjunkturelle zurückzuführen ist."[1] 1998 rutschten die Weizen- und Sojapreise in den Keller und gleichzeitig stieg der US-Dollar und setzte damit die überbewertete argentinische Währung stark unter Druck. Der ohnehin schon schwache Exportsektor verlor an Dynamik, weil argentinische Produkte auf dem Weltmarkt infolge ihres hohen Preises zu teuer waren. Außerdem wertete 1999 Brasilien seine Währung Real ab, sie hat gegenwärtig nur noch 50 Prozent des Werts des argentinischen Peso. Dies führte zu einer Umkehr der Handelsströme zwischen beiden Ländern. Die argentinischen Exporte nach Brasilien brachen ein (hier verzeichnete Argentinien seit 1995 infolge des Inkrafttretens des Mercosur einen Handelsbilanzüberschuss) und statt dessen wurde Argentinien mit Billigprodukten aus Brasilien überschwemmt. Von Argentinien dringend benötigte ausländische Direktinvestitionen flossen im Rahmen der Konkurrenz der Standorte nach Brasilien, weil dort sehr viel billiger investiert werden konnte und kann. Da beide Länder über den Mercosur miteinander verbunden sind, können Transnationale Konzerne die Standortvorteile beider Länder geschickt ausnutzen.

Ein weiterer Grund für die 1998 einsetzende Rezession dürfte sein, dass die Privatisierungen abgeschlossen waren und damit kein frisches Geld mehr ins Land kam. Dieser Aspekt berührt ein strukturelles Problem der argentinischen Wirtschaft. Denn es ist davon auszugehen, dass die hohen Wachstumsraten der 90er Jahre nur einen virtuellen Aufschwung darstellten, da sie stark mit den Privatisierungen zusammenhingen. Es wurden wenig neue Werte im agrarwirtschaftlichen und industriellen Bereich geschaffen, sondern bestehende Werte umverteilt. An der Wertschöpfungsbasis der argentinischen Industrie hat sich aber nur sehr wenig verändert. Stark expandierten die Dienstleistungssektoren, die nur in geringem Maß exportorientiert sind. Des weiteren kam es zu einer Transnationalisierung der argentinischen Unternehmen. Damit sind die Unternehmensgewinne Teil des Wertschöpfungsprozesses transnationaler Konzerne und bleiben daher nur in besonderen Phasen des kräftigen Aufschwungs im Land.

Durch die einsetzende Rezession sanken der Konsum (Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit) und die Gewinne der Unternehmen. Dies wiederum führte zu sinkenden Steuereinnahmen des Staates, was diesen bei der Bedienung seiner Schulden in Verzug geraten ließ, wodurch das Länderrisiko und damit die Zinsen anstiegen.

Über das sekündlich festgelegte Länderrisiko (festgestellt über den J. P. Morgan Emerging Market Bond Index) haben die Finanzmärkte eine Definitionsmacht über die Ziele der argentinischen Volkswirtschaft inne. Sinken die Aussichten, dass Argentinien seine Schulden bezahlen kann, werden auf den Schuldtitelmärkten in New York, London und Buenos Aires argentinische Schuldtitel ("Bonds") zum Verkauf angeboten. Dies funktioniert über das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Werden viele Titel verkauft, sinken die Preise. Dadurch sinkt der Wert der Bonds (derzeit liegen einige davon bei 60 Prozent ihres Nominalwerts) und es steigen die Länderrisikopunkte. Mitte Oktober lagen sie sogar bei fast 1.900 Punkten (vgl.: Dresdner Bank Lateinamerika AG, Latin American Daily Spotlight v. 10. Oktober 2001, S.: 1). Dies bedeutet, dass Argentinien, würde es jetzt einen neuen Kredit aufnehmen wollen, 19 Prozent Zinsen Risikozuschlag auf die Zinsrate von US-Treasury-Bonds (ca. 3,5 Prozent) zu zahlen hätte (Financial Times Deutschland v. 11. Okt. 2001). Aber keine Regierung kann einen Kredit zu 19,5 oder 22 Prozent Zinsen aufnehmen. Daher sind die Kapitalmärkte zur Finanzierung des argentinischen Staates derzeit für Argentinien geschlossen. Die zweite Oktoberhälfte begann mit weiteren Hiobsbotschaften: Die Steuereinnahmen der Zentralregierung lagen im September 17 Prozent niedriger als im Vorjahresmonat; zur Einhaltung der Null-Defizit-Strategie (siehe unten) müßte eine entsprechende abermalige Kürzung der Staatsausgaben vorgenommen werden. Die wichtigsten Schulden-Rating-Agenturen (Standard & PoorÂ’s und MoodyÂ’s) wollen Argentinien auf die unterste Stufe der Qualitätsskala der Anleihen zurückstufen: Auf "D", was mit "Zahlungsausfall" gleichzusetzen ist (FAZ, v. 14. u. 18. Oktober 2001).[2] Der argentinischen Regierung bleiben IWF-Hilfspakete und Sparprogramme. Das Länderrisiko ist eine Art Zwangs-TÜV, mit dem die Finanzmärkte auf wirtschaftspolitische Entscheidungen in den einzelnen Ländern direkt Einfluss nehmen können. Es ist auch ein Sanktionsmechanismus für wirtschaftspolitische Maßnahmen, die dazu führen, dass die Anleger um ihr investiertes Geld fürchten müssen. Insofern haben die Finanzmärkte ein reales politisches Druckmittel in der Hand. Dabei ist zu beachten, dass im Falle Argentiniens das Finanzkapital (Banken, Pensionsfonds, Versicherungen) andere Interessen hat als das Industriekapital. "International liberalisierte F[inanzmärkte] werden zunehmend zu einer Schranke für jede Wirtschaftspolitik, die sich an Beschäftigungs-, Wohlfahrts-, Gerechtigkeits- oder Nachhaltigkeitsvorstellungen orientiert. Denn das Interesse des Geldkapitals richtet sich in erster Linie auf die Stabilität des Geldwerts, auf den steigenden Kurswert seiner Wertpapierdepots, auf hohe Zinsen bzw. Dividenden. Seine Durchsetzungsmacht gegenüber der Politik ist besonders groß, seit es über die Möglichkeit verfügt, sich jederzeit ohne besonderen Aufwand durch Kapitalflucht unliebsamen Eingriffen zu entziehen. Die hohe Mobilität verschafft dem Kapital Exit-Optionen, die es als Drohung gegen jede Regierung wenden kann." (Huffschmid, 1999: 545)

Eine solche Finanzkrise, bei der das internationale Geld sich verteuert, hat Auswirkungen auf die im Land ansässigen Banken. Von Anfang des Jahres bis August zogen private Anleger 7,5 Milliarden Dollar von argentinischen Banken ab, weil sie eine Zahlungsunfähigkeit des Staates befürchten und Angst haben, der Staat könnte die Bankguthaben einfrieren. Gleichzeitig schmolzen die Dollar-Reserven der Zentralbank auf 15 Milliarden Dollar, da viele Pesos in Dollar getauscht wurden, aus Angst vor einer Peso-Abwertung. Zwar kam es zu keinem "Bank Run", aber dennoch zu einer Bankenkrise. Um liquide zu bleiben, hoben die Banken die Zinsen an, damit Kapital in den Kassen blieb. Gleichzeitig stiegen logischerweise die Zinsen für Festgeldkonten auf zeitweilig über 30 Prozent. Die Interbankzinsen kletterten im Juli 2001 zeitweise auf über 300 Prozent, was auch dazu führte, dass Kredite für private Unternehmen unerschwinglich wurden (vgl. NZZ v. 13.8.01: 13).

Damit sitzt der Staat in der Falle. Je weiter die Wirtschaft schrumpft, um so weniger nimmt er ein, umso größer wird die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit, umso höher werden die Länderrisiko-Zinsen und damit das Zinsniveau und umso mehr schrumpft die Wirtschaft. Denn hohe Zinsen haben einen doppelten Effekt: Sie erschweren wegen der teuren Kredite das Wirtschaftswachstum, sie verhindern aber auch, dass Geld in produktive Investitionen fließt, da die Rendite schon auf Festgeldkonten relativ hoch ist, bei sehr geringem Risiko, verglichen mit Investitionen im produktiven Bereich inmitten einer Rezession. Profitieren können von einer solchen Situation nur Geldbesitzer.

Ein Staatsbankrott Argentiniens würde "den ersten größeren Default (d.h. Zahlungsunfähigkeitserklärung) in der Geschichte der Emerging Markets" darstellen (Dresdner Bank, 2001: 4). Er hätte katastrophale Auswirkungen für andere Emerging Markets, da zirka 20 Prozent aller Papiere im J.P. Morgan Emerging Market Bond Index argentinische Papiere sind. Eine Zahlungsunfähigkeit Argentiniens könnte einige Anleger ihre Investitionsstrategie überdenken lassen. Aber auch im Land hätte er verheerende Folgen: 50 Prozent der argentinischen Schuldtitel liegen im Inland (vor allem Banken, Rentenkassen, Versicherungen). Daher ist im Falle Argentiniens das Konzept der Auslandsschulden nicht zutreffend. Ein "Default" hätte den Zusammenbruch des argentinischen Finanzsystems zur Folge und katastrophale soziale Implikationen, da die Rentenkassen den Rentnern das Geld nicht auszahlen können. Die Schuldenkrise der Länder des Südens während der 80er Jahre war eine Bedrohung für das internationale Finanzsystem und führte in den USA zu einer Bankenkrise. Im aktuellen Falle Argentiniens ist die Gefahr für die internationalen Großbanken gebannt, weil die im Land ansässigen Finanzagenturen sehr stark in die Verschuldung während der 90er Jahre eingebunden wurden.

Im Jahr 1994 wurden die argentinische Rentenkasse privatisiert und sogenannte "Administradoras de los Fondos de Jubilaciones y Pensiones (AFJP)" gegründet. Weiterhin betreibt der Staat aber ebenfalls zwei Rentenkassen. Im Juli 2000 belief sich das verwaltete Vermögen der AFJPs auf 18,2 Milliarden Dollar (vgl. Minsburg 2000: 112). Dieses Geld hatte früher dem Staat zur Verfügung gestanden, was mit der Schaffung eines privaten Rentensystems ausbleibt. Die privaten AFJP können ihr Vermögen bis zu 65 Prozent in staatlichen Schuldtiteln anlegen. Die Rentenkassen wurden privatisiert mit dem Argument, dass sie effizienter wirtschaften könnten und dass der Staat nicht in der Lage sei, die Renten für seine Rentenzahler zu garantieren. Allerdings ist anzumerken, dass der Staat heute wieder die Renten auch der Rentner bezahlt, die bei einer privaten AFJP einzahlen. Dies geschieht über den Umweg der Staatsverschuldung. Zwar hat der Staat keinen Zugriff auf die AFJP-Vermögen, da diese privat verwaltet werden, aber dadurch, dass die AFJPs ein wichtiger Gläubiger des Staates sind, und der Staat wiederum die wichtigste Anlagequelle für die AFJPs ist, bezahlt der Staat die Renten über den Umweg eines privaten Pensionsfonds, der mit dem eingezahlten Geld wirtschaften kann. Diese Möglichkeit entfällt für den Staat, da er die AFJP-Gelder ja nicht verwaltet. Für die Rentner hat dies zur Folge, dass die Höhe ihrer Renten nicht garantiert ist, da sie von den Kapitalerträgen der Pensionsfonds abhängig sind (vgl. Minsburg 2000: 112). Auch sind ihre Renten alles andere als sicher. Denn wenn der argentinische Staat zahlungsunfähig wird, dann fließen auch keine Renditen mehr in die Kassen der AFJPs, welche dann auch nicht in der Lage sein werden, die Renten auszuzahlen. Erst im Laufe des Jahres 2001 wurde ihnen gestattet, 65 Prozent ihrer Anlagen in argentinische Staatsbonds zu investieren. Bis zu diesem Krisenjahr war die Möglichkeit, in Staatsbonds zu investieren, auf 50 Prozent beschränkt. Als der Staat aber auf der Suche nach Geldgebern war, wurde dieses Gesetz gelockert. Die AFJPs müssen dem Staat Geld leihen, wenn sie ihre eigene Rendite nicht gefährden wollen; es ging ihnen wie den im Land ansässigen Banken: Sie begannen dem Staat Geld zu leihen, weil dies ein gutes Geschäft war und sicherer als Geschäfte mit der Privatwirtschaft. Heute verleihen sie weiterhin Geld an den Staat, damit er zahlungsfähig bleibt und sie ihr geliehenes Geld einmal wiedersehen.

5. Maßnahmen zur Krisenbewältigung

Um der Krise zu begegnen und die Zahlungsfähigkeit Argentiniens an die privaten Gläubiger zu gewährleisten, sprang der IWF als Anwalt der Gläubiger ein. Sogenannte IWF-Hilfspakete waren in erster Linie Hilfe für die Gläubiger und nicht für das Land. Folgende Schritte sind wichtig:

1.) Dezember 2000: 1. IWF-Paket in Höhe von 38 Milliarden Dollar (davon 13,7 Milliarden vom IWF)

2.) März 2001: Export-Dollar

3.) Juni 2001: Schuldentausch

4.) Juli 2001: Null-Defizit-Gesetz

5.) August 2001: 2. IWF-Paket in Höhe von 8 Milliarden Dollar

Zu 1.): Ende 2000 stand Argentinien zum ersten Mal kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Gemeinsam mit der BID, der Weltbank, privaten Banken und Rentenkassen schnürte der IWF ein Hilfspaket in Höhe von 38 Milliarden Dollar, allein 13 Milliarden davon kamen vom IWF. Von diesem Geld floss allerdings kein Cent in die Wiederbelebung der Wirtschaft (Stichwort: Schaffung von Staatsnachfrage), sondern es wurde vollständig dazu verwendet, fällig werdende Schulden zu bezahlen.

Zu 2.): Der argentinische Peso wurde an einen Währungskorb aus Euro und Dollar gebunden, um ihn damit leicht floaten zu lassen. Dies soll in Kraft treten, wenn Dollar und Euro gleichauf sind. Für den Export und den Import gilt dieser Kurs bereits. Exporte werden damit verbilligt, Importe verteuert. Jedoch ist der Unterschied zu gering, um damit dem lahmenden Exportsektor auf die Beine zu helfen. Sollte der Euro allerdings den Dollar einmal überholen, werden argentinische Exporte sogar teurer als heute, da der Peso dann mehr wert sein wird als ein Dollar.

Zu 3.) Argentinien ist ein armes Land, verglichen mit seinen Gläubigerländern USA und Europa. Mittels der Schulden gelang es den entwickelten Ländern aus diesem Land Ressourcen in Gestalt von Zinsen abzuziehen. Interessanterweise wird der entsprechende Profit höher, wenn das arme Land die Schulden nicht mehr bezahlen kann. Als im Juni 2001 Argentinien erneut fast zahlungsunfähig war, beschloss die Regierung mit privaten Gläubigern einen Schuldentausch abzuwickeln. Es wurden kurzfristig fällig werdende Titel in Höhe von 30 Milliarden Dollar in Titel mit langer Laufzeit - zum Teil bis 2031 - umgewandelt. Allerdings zum Preis höherer Zinsen und längerer Laufzeit. Durch die höheren Zinsen erhöhte sich die Nominalschuld Argentiniens um zwei Milliarden Dollar. Dies gab Argentinien Luft bei der Bezahlung seiner Schulden. Die Idee war: Schaffung von Wachstum, um damit die Staatseinnahmen zu erhöhen und dann später die Schulden ohne Probleme bezahlen zu können. Erneut eine Wette auf Wachstum und eine Verschiebung des Problems.

Zu 4.) Mit dem Null-Defizit-Gesetz wurde beschlossen, einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorzulegen. Damit wurden aber auch sämtliche Staatsausgaben dem Schuldendienst nachgeordnet. Was bedeutet, dass zunächst die fälligen Schulden bezahlt werden und danach die Gehälter der Staatsangestellten, die Renten oder Transfers der Zentralregierung an die Provinzen. Im Rahmen dieses Gesetzes wurden die Gehälter der Staatsangestellten und die Renten zunächst um 13 Prozent gekürzt. Dies hatte auch eine Senkung der Löhne und Gehälter im Privatsektor zur Folge. Die Folge ist eine Verstärkung der rezessiven Entwicklung, da der Konsum gedrosselt wird, die Wirtschaft noch weniger wächst und die Staatseinnahmen weiter sinken. Allerdings ist die Lage verhext: Die internationalen Finanzmärkte zwingen zum Sparen, da die Länderrisikozinsen sonst nie sinken werden und die Folge des Sparzwangs ist eine Vertiefung der Rezession.

Zu 5.) Das Geld kam, um den Zusammenbruch des Bankensystems zu vermeiden und die Reserven des Landes aufzustocken. Erstmals wurden dafür auch die privaten Banken in die Pflicht genommen; dem ging eine lange Diskussion im IWF voraus. Allerdings wurde die Wirtschaft dadurch wiederum nicht belebt.

Zieht man eine Bilanz der Antikrisenprogramme, so stellt man fest, dass es deren oberstes Ziel war, die Interessen der internationalen Finanzmärkte zu befriedigen und Argentinien künstlich am Leben zu halten. Eine Industriepolitik, die Wachstum schafft (Stichwort "Staatsnachfrage") stand nicht zur Debatte, sondern es wurde die strenge Austeritätspolitik weitergeführt. Die Peso-Dollar-Parität wurde bislang nicht aufgegeben, obwohl dies die Kosten senken und Investoren anlocken würde. "Da diese Denkströmung während vieler Jahre einen hegemonialen Charakter innehatte, darf es nicht überraschen, dass die Debatte über die direkte Beziehung zwischen Krise des argentinischen Arbeitsmarktes und dem Funktionieren des politisch ökonomischen Regimes der Konvertibilität sehr ungenügend ist." (Marcó del Pont/Valle: 182) Wegen der 1:1-Parität fehlen geldpolitische Maßnahmen, um die Industrie fördern zu können. Durch diese Maßnahmen wird die Entwicklung des Landes verhindert, es ist sogar ein Sinken der Industrieproduktion festzustellen.

6. Zukunftsszenarien

Rudiger Dornbusch sagt über die argentinische Krise: "Ich sehe keine Antworten für Argentinien. Es ist eine große Unbekannte. Man könnte Reformen machen, aber das Land hat sie schon gemacht. Die Reformen der 90er Jahr haben es ermöglicht, daß das Land trotz hoher Zinsen wachsen konnte. Aber die für die Wirtschaft dringend nötige interne Nachfrage existiert nicht mehr [...] und so bemerkt man, daß keine der drei Wachstumsalternativen, Produktivität, Commodity[3] oder Kapitalinvestitionen in diesem Moment möglich sind. Manchmal gibt es Situationen, in denen man keine Antwort hat. Es ist eine Tragödie." (Dornbusch 2000: 9) Vieles deutet darauf hin, dass diese Tragödie in einer Zahlungsunfähigkeit des argentinischen Staates gipfeln wird, damit aber noch lange nicht beendet sein wird. Ein "Default" Argentiniens scheint kaum noch aufzuhalten. Die Frage ist eher wie und wann. Es ist nicht davon auszugehen, dass es ein politischer Default sein wird, bei dem die Schulden als Waffe eingesetzt werden und die Argumentation eine moralische ist und über die Legitimität der Schulden diskutiert wird. Dies entspricht nicht dem Diskurs der gegenwärtigen Regierung und auch in der Gesellschaft, wäre dies nicht die durchgängige Meinung (auch wenn sich Widerstände mehren). Selbst wenn, dann fehlen in der kapitalistischen One World gegenwärtig die Kräfte, die eine solche Entscheidung unterstützen würden. Bei so gut wie allen Regierungen Lateinamerikas ist die Legitimität der Schulden Konsens. Daher ist ein gigantischer Schuldentausch eher denkbar, bei dem der IWF einige Gläubiger zwangsverpflichtet, ihre Titel umzustrukturieren - oder den Nennwert der argentinischen Bonds als Zahlungsverpflichtung zu nehmen und nicht mehr den Nominalwert. Beides wären Lösungen, die die Finanzmärkte billigen würden. Argentinien als Anlagemöglichkeit würden sie behalten und Geld verloren hätten sie dabei auch nicht. Und der IWF müsste das Scheitern seines Modells nicht eingestehen.

Interessant ist die Frage, ob die Währung abgewertet wird. Dies erscheint sinnvoll, weil damit die Exportpreise im Prinzip sinken würden und eine Wiederbelebung der Industrie in Angriff genommen werden könnte. Bislang haben wir aber festgestellt, dass das Finanzkapital die Geschicke in Argentinien bestimmt, und nichts deutet darauf hin, dass sich dies bald ändern wird. Fraglich ist auch, ob eine Abwertung an der gegenwärtigen Situation so schnell etwas ändern könnte, da die Mehrheit der argentinischen Exporte aus Rohstoffen besteht, bei denen der Wert der nationalen Währung den Preis nicht verändert und damit die Absatzchancen gleich bleiben. Einzig die Gewinnspanne im Land würde sich bei einer billigeren Währung erhöhen. Da aber 90 Prozent der argentinischen Schulden in Dollar angelegt sind, wäre eine Abwertung glatter Selbstmord und würde die Zahlung dieser Schulden schier unmöglich machen. Auch wollen die Anleger Dollargewinne machen, und es ist daher davon auszugehen, dass die Peso-Dollar-Parität bestehen bleibt. Wenig Beachtung muss hingegen dem Argument geschenkt werden, dass eine Abwertung zur Inflation führen würde. Auch wenn eine Teuerung sicher ist, so wäre eine Hyperinflation auszuschließen, dafür sorgten allein schon die Marktöffnung Argentiniens sowie die restriktive Haushaltspolitik und der ausgetrocknete Binnenmarkt. Es wäre aber auch denkbar gewesen, dass mit dem letzten IWF-Paket in Höhe von acht Milliarden Dollar eine "weiche Landung" vorbereitet wird: d.h. dass diese "Finanzhilfen" zur zeitlichen Streckung und Kompensation einer unvermeidlichen Abwertung hätten genutzt werden können. Möglicherweise wird diese Handlungsvariante in der nächsten Krisenrunde ernsthafter diskutiert werden.

7. Fazit

Wie immer auch der Krisenprozess in Argentinien weiter verlaufen mag, feststehen dürfte, dass keine einfachen und sozial abfedernde "Lösungen" in naher Zukunft absehbar sind. Das in seinen spezifischen Konfigurationen hier umrissene - auch innerhalb der Bandbreite unterschiedlicher Typen von kapitalistischer Entwicklung - perspektivlose aktuelle Wirtschaftsmodell hat nun schon zu sehr Wurzeln gefasst, als dass es ohne erhebliche Flurschäden durch ein anderes leicht ersetzbar wäre. Es ist mittlerweile auch deutlich geworden, dass die gegenwärtige Krise in Argentinien nicht bloß auf "die Wirtschaft", "die Finanzen" oder "die Währungsproblematik" reduziert werden kann. Die mit dem argentinischen Weg in den Neoliberalismus verbundene besondere Akzentuierung der Finanzsphäre (gegenüber der der Produktion) und die ebenfalls extreme Variante von Privatisierung öffentlicher Funktionen/Leistungen haben zu einer tiefgreifenden und in dieser Intensität bisher unbekannten gesellschaftlichen Polarisierung im Land geführt, die auf fast allen Ebenen zu beobachten ist. Ob man das System der Alterssicherung und -versorgung, das Bildungs- und Gesundheitswesen, die alltägliche Gewaltkriminalität, die wachsende Protestbereitschaft verschiedener gesellschaftlicher Gruppen[4] oder die - wie bei den letzten Wahlen Mitte Oktober dieses Jahres sich klar zeigte[5] - die große Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den bestehenden Parteien betrachtet: es sind in großem Umfang "Reparaturen" am erodierenden gesellschaftlichen Zusammenhalt ("tejido social") vonnöten. Ein bloßer Ministerwechsel und einige vereinzelte (vielleicht sozial gemeinte) Regierungsprojekte in dieser oder jener Sphäre werden mit Sicherheit eine notwendige, grundsätzliche Kursänderung nicht herbeiführen können.

Literatur:

Boris, Dieter/Hiedl, Peter (1978): Argentinien. Geschichte und politische Gegenwart, Köln

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Dresdner Bank Lateinamerika AG (2001): Latin American Daily Spotlight v. 10. Oktober 2001

Gramsci, Antonio (1991 ff.): Gefängnishefte, Hamburg

Huffschmid, Jörg (1999): Finanzmärkte, in: Historisch Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hamburg, S.: 535-548

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Malcher, Ingo (2001): Argentinien - die Krise der Zitronenrepublik, in: Sozialismus Nr. 1 (Januar), S.: 46-48

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[1] Interview geführt am 26. Juli 2001.

[2] Die Rating-Agenturen haben eine Definitionsmacht gegenüber den einzelnen Ländern inne, die direkte Auswirkungen hat. Die beiden grossen Agenturen Standard & PoorÂ’s Ratings Group und MoodyÂ’s Investors Service haben in diesem Geschäft ein Duopol (vgl.: FAZ v. 02.05.2001, S. 34). Neben ihnen existieren nur einige kleinere Agenturen. Die Funktionsweise der Rating-Agenturen schildert Willke (2001: 165) folgendermaßen: "Je stärker sich Unternehmen, Institutionen, Regionen und ganze Länder auf den globalen Finanzmärkten im Wettbewerb untereinander um Anlagekapital bemühen, desto stärker sind sie auf möglichst positive Ratings angewiesen, um ihre Kapitalkosten zu optimieren. Hieraus erwächst den wenigen global agierenden Rating-Agenturen ein bislang noch wenig begriffener und noch weniger problematisierter Einfluss auf globale Ströme von Investitionsentscheidungen."

[3] Dornbusch bezieht sich hier auf eine von ihm zuvor gemachte Äußerung, wonach ein Anstieg der Commodity-Preise (d.h. der Exportgüter, die zum großen Teil aus Rohstoffen bestehen) die Einkünfte eines Landes wie Argentinien schnell erhöhen könnte.

[4] Mit den sogenannten Piqueteros hat sich in den vergangenen drei Jahren eine neue soziale Bewegung herausgebildet, die besonders im Jahr 2001 von sich hören ließ. Regelmässig blockieren Arbeitslose und von den Gehaltskürzungen schwer betroffene Staatsangestellte wichtige Nationalstrassen in Argentinien. Ziel dabei ist es, das Land zum Erliegen zu bringen. Dieses völlig neue Bündnis steht quer zu den traditionellen peronistischen Gewerkschaften und den traditionellen Parteienstrukturen. Immer wieder kommt es bei den Blockaden zu schweren Strassenschlachten zwischen der Polizei und den Piqueteros, die nichts zu verlieren haben.

[5] So gaben bei den Parlaments- und Senatswahlen am 14. Oktober 2001 drei Millionen Argentinier ungültige Stimmzettel ab und sieben Millionen gingen - trotz Wahlpflicht - nicht zur Wahl. Rechnet man beide Werte zusammen, so kommt man darauf, dass 45 Prozent der Wahlpflichtigen keine Stimme abgaben oder ungültig wählten. (vgl.: El Pais v. 16.10.2001, S.: 20)