China auf dem Weg in die WTO

Welches Interesse kann ein EU-Bürger an chinesischer Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) haben? Wenn ein deutscher Arbeiter und ein deutscher Bauer gegen ihre ...

... chinesischen Kollegen konkurrieren müßten, ungeschützt, unter Rahmenbedingungen, die von internationalen Banken und Konzernen definiert werden, dann könnten sie nur verlieren. Auf den Agrar- und den Arbeitsmärkten ließen sich die Systemunterschiede nicht ohne umsturzartige Veränderungen ausgleichen. Gewinnen würden Banken und Kapital. Verlieren die Menschen. Zur "Abfederung" - Pläne dafür gibt es - müßten die nationalen Regierungen ihre Steuerpolitik der neuen Lage anpassen. Die Folgen wären, denn so verlangen es die Reichen nun einmal, weltweit noch größere Belastungen der Armen und der gering Verdienenden sowie noch mehr Steuernachlässe für Banken, Versicherungen, Rohstoffhändler und Industriekonzerne.
Die landwirtschaftliche Überschußproduktion des Westens würde auf dem chinesischen Markt zwar teilweise abgesetzt werden können und den Bauern Zhou samt seiner mitarbeitenden Familie von dort verdrängen. Einige weiterverarbeitete Produkte aus der chinesischen Landwirtschaft (Häute zum Beispiel) kämen aber auch auf den europäischen Markt und würden hier die Einkünfte des um sein wirtschaftliches Überleben ringenden Bauern Westermann beschneiden.
In der Informationstechnik (dazu gehört zum Beispiel die Herstellung von Mobiltelefonen) würden in Europa sehr schnell zehntausende Arbeitsplätze verloren gehen, denn in dieser Branche erzielen die Chinesen unglaubliche Zuwachsraten und sind einfach stärker. Und im Gegenzug? Mehr als z.B. deutsche Maschinenbauer schon heute in der Volksrepublik China absetzen, werden sie dort auch dann kaum verkaufen, wenn das Land ebenfalls WTO-Mitglied ist. Denn es gibt nur Weniges, was in China nicht schneller und billiger selbst produziert werden kann. Wenn man vom Transrapid einmal absieht...
Eine Ausnahme ist vorläufig auch die Automobilproduktion. Die Fertigung eines Wagens im Werk Shanghai ist für die Volkswagen AG mehr als doppelt so teuer wie in Deutschland - und zwar hauptsächlich wegen politischer Einflußnahme, wegen Korruption und wegen des andauernden Ringens um Qualitätsstandards. Nun erhebt die VR China bisher sehr hohe Einfuhrzölle auf ausländische Personenwagen, wodurch sich deren Preis verdoppelt, teilweise sogar verdreifacht. Bei Wegfall dieser Schranken verlöre der Arbeiter Tsai bei VW in Shanghai seinen Job. Das Werk käme gegen die Konkurrenz nicht mehr an. Wenn im Jahr 2006 die Einfuhrzölle auf 25 Prozent gefallen sind, dann werden besonders die Japaner davon den entscheidenden Marktvorteil in der VR China haben. Nicht VW. Auch nicht DaimlerChrysler.
Zu den Gewinnern dürfte die US-Filmindustrie zählen, wenn China sich dem "freien" Handel unterwirft. Bisher war es Hollywood nur gestattet, jährlich maximal zehn große Produktionen in der VR abzusetzen. Solche Limits würden künftig entfallen. Die USA können also ihren Angriff auf zentrale chinesische Vorstellungen von Kultur schon planen (falls sie nicht längst daran arbeiten). Ein Blick hinüber auf die Filmwirtschaft in Taiwan zeigt, wie das Häschen läuft. Die staatliche Medienaufsicht in Taipei würde zwar gern über alle nackten "Stellen" und blutigen Szenen den Weichzeichner ziehen, ist aber außerstande, die Übersicht zu behalten. Den Behörden in der VR China wird es nicht anders ergehen. Tröstet es jemanden, wenn mit US-amerikanischer Massenware heimgezahlt wird, was Massenware aus Hongkong bisher im Westen angerichtet hat? Für den anspruchsvollen, hochkünstlerischen chinesischen Film sehe ich schwarz.. Der american way of life setzt sich eben weltweit durch. In Taiwan schießen neue McDonalds aus dem Boden. Chinesische Gäste stopfen beglückt das fast food in sich hinein, als ob ihre eigene, zu Recht international gerühmte Küche der letzte Dreck wäre.
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Die Inselrepublik Taiwan ist zwar seit zwei Jahrzehnten wirtschaftlich äußerst leistungsfähig. Mitglied der WTO durfte sie trotzdem erst jetzt werden. Zuvor blockierte Peking alle Versuche der "abtrünnigen Provinz" (Pekinger Bezeichnung für Taiwan), internationalen Organisationen beizutreten und damit an Reputation zu gewinnen. Nicht einmal in die Weltgesundheitsorganisation (WHO) konnte Taiwan deshalb eintreten. Doch die USA und ihre Konzerne haben starkes Interesse daran, daß dieser hochentwickelte Industriestaat nicht allzuviel wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit behält und sich nicht auf Dauer mit Zollschranken gegen ausländische Waren schützen kann. Deshalb übten sie jahrelang Druck auf Peking aus, der Aufnahme Taiwans zuzustimmen. Und sei es auch unter einem Namen, der der Inselrepublik die Eigenstaatlichkeit abspricht (etwa "Zollgebiet Taiwan"). Trotzdem mußte Taiwan für die diplomatische Hilfe noch Tribut an die USA zahlen, damit sein Wunsch nach mehr internationaler Anerkennung von Washington gefördert (und schließlich durchgesetzt) wurde. Taiwans "Eintrittsgeld", sofort fällig, basiert auf einem US-typischen "unfairen Vertrag", der 1998 besiegelt wurde. Seither muß Taiwan jährlich 10 000 Tonnen Geflügel, 5000 Tonnen Schweinefleisch sowie 5000 Tonnen Innereien zollfrei aus den USA übernehmen.
Große Mengen für ein kleines Land. Ein "Beweis für den US-Imperialismus auch in der WTO", schimpft denn auch Hsi-huang Chen, vormals Vorsitzender des Landwirtschaftsrats in Taipei. Aber die paar tausend Tonnen Fleischliches sind ein Klacks im Vergleich zu dem, was auf Taiwan noch zukommt, wenn es erst WTO-Mitglied ist.
Aufgrund der WTO-Regeln muß Taiwan dann mehr als die Hälfte seiner gegenwärtigen Subventionen für die Landwirtschaft streichen. Vier von fünf Bauern fürchten, daß es ihnen danach schlechter gehen wird. Jeder zweite Landwirt erwartet sogar, daß er seine Existenzgrundlage verliert. Die der taiwanesischen Landwirtschaft voraussichtlich entstehenden Verluste werden offiziell mit 1,4 Milliarden US-Dollar beziffert. Es könne aber auch weit schlimmer kommen, räumt die Regierung ein. Für die der Landwirtschaft zuliefernde Industrie seien die WTO-Folgen noch weniger klar absehbar.
In Taiwan hatte die Landwirtschaft bisher immer als Puffer während wirtschaftlicher Schwächephasen gedient und zum Beispiel Arbeitslosigkeit im industriellen und im gewerblichen Sektor aufgefangen. Davon wird bald keine Rede mehr sein können. Reis, dies nur als Beispiel, ist auf dem Weltmarkt um ein Drittel bis fast um die Hälfte billiger als auf dem noch geschützten Markt in Taiwan.
Niemand bezweifelt, daß nach dem WTO-Eintritt viele Arbeitsplätze verloren gehen werden. "Taiwan verliert seine Führung auf dem weltweiten HighTech-Sektor an die VR China", sagen Studien von Unternehmern voraus. Und das ist für Taiwaner das eigentlich Beängstigende, denn von den Leistungen der High Tech-Industrie lebt Taiwans moderne Gesellschaft. Die wichtigsten und umfangreichsten Investitionen, so heißt es in diesen Studien, würden nicht mehr in Hsinchu vorgenommen, dem taiwanesischen Silicon valley, sondern in der Industriezone um Shanghai. Die VR China werde bald in allen Hochtechnologie-Branchen führend sein, besonders in der Informationstechnik. Am schnellsten bei der Herstellung jeglicher Technik für das Internet.
Die jüngste Entwicklung bestätigt diese Annahme: Im Jahr 2000 exportierte Taiwan nur noch für 22 Milliarden Dollar informationstechnische Geräte, die VR China bereits für 25 Milliarden. Das Wirtschaftsministerium in Taipei meinte Anfang vergangenen Jahres noch milde, im ersten Jahr nach einem WTO-Beitritt würden in der Branche mehr als 20 000 Jobs verloren gehen, die Arbeitslosigkeit werde um 0,3 Prozent steigen. Und in den Jahren danach? Realistische Einschätzungen gehen dahin, daß Taiwan bald annähernd eine Million Arbeitslose zu verkraften hätte, eine Arbeitslosenquote von fast zehn Prozent. Was um alles in der Welt trieb eine Regierung dazu, unter solchen Auspizien der WTO beizutreten?
Die Antwort darauf gibt uns die Nutznießerseite, das Kapital. Die WTO-Mitgliedschaft bedeute einen jährlichen Gewinn von vier Milliarden US-Dollar für Taiwan, verkündet die Citibank (ein weltweit agierender US-amerikanischer Konzern, auch in Taiwan aktiv). Die Preise für Waren (nicht für Dienstleistungen) würden fallen, die industrielle Produktion werde spürbar zunehmen. 10,3 Prozent mehr Export seien zu erwarten, 12,7 Prozent mehr Import. Aber selbst die Bank kann bei all ihrem Optimismus nicht leugnen, daß die auf den Binnenmarkt zukommenden Lasten größer sein werden als die Gewinne aus dem Export. Und über die Verteilung von Lasten und Gewinnen innerhalb der Gesellschaft Taiwans sagt die Bank wohlweislich nichts. Sie merkt allerdings an, Taiwans traditionelle Industrie müsse sich "modernisieren". Wenn eine Bank das sagt, sollte das eigentlich sogar der dümmste Arbeiter in Taiwan verstehen - und zum nächstgelegenen Wurfgeschoß greifen.
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Am "freien" Handel mit der VR China sind die reichen Geschäftsleute auf Taiwan selbstverständlich interessiert. Ihre Investitionen auf dem Festland belaufen sich schon heute auf mehr als 50 Milliarden US-Dollar, nach anderen Quellen sogar auf das Doppelte dieser Summe. Freier Handel bedeutet für diese Unternehmer zunächst den Wegfall von Transportkosten (mehr als 20 Prozent der Produktkosten, weil bisher alle Geschäfte auf dem Umweg über Hongkong oder über Macao abgewickelt werden müssen.). Freier Handel bedeutet außerdem fast uneingeschränkten Kapitalverkehr, denn die Regierungen in Taipei und in Peking müssen als WTO-Mitglieder alle Restriktionen aufheben. Direkte Investitionen und Firmenaufkäufe werden für die Unternehmer aus Taiwan auf dem Festland deshalb möglich. Mit der Erwartung auf erheblich niedrigere Lohnkosten verbinden sie die Hoffnungen auf drastisch steigende Gewinnchancen.
Typisch dafür ist K.Y. Li, ein Tycoon der Computerbranche auf Taiwan. Seine Firma ACER, weltweit die Nummer 2 der PC-Hersteller, entließ im Frühjahr 2001 praktisch über Nacht 16 Prozent ihrer Beschäftigten in Taiwan. Dabei geht es der Firma glänzend. Aber sie wollte ihre Milliarden auf dem Festland investieren, in Vorwegnahme des WTO-Beitritts der VR China und Taiwans. Vor übergehend bringt das den "roten" Chinesen mehr Arbeitsplätze (aber weniger, als Arbeitsplätze bei den "blauen" Chinesen auf Taiwan verloren gingen). Die Ausstattung wird schlechter sein (wesentlich schwächere Arbeitsschutzbestimmungen, weniger Gesundheitsschutz, keine Rücklagen für Betriebsrenten, Umweltschutzstandards sind ohnehin kaum vorhanden). ACER ist das erste Unternehmen, das Kommunikationsgerät der dritten Generation (Breitbandkommunikation) auf dem Festland produziert und dort auch verkauft. Mag die Regierung in Taipei deswegen noch soviel Sicherheitsbedenken haben. Für ACER-Chef Li zählen Profitraten, nicht "nationale Sicherheitsfragen".
Was dieser Konzern in der VR China produziert und was er weiterhin aus Taiwan ins Festland einführt, zerstört längerfristig industrielle Strukturen in der VR China. Plattgemacht werden dort Betriebe, die nicht über das Knowhow, die fortgeschrittene Produktionstechnik und das Kapital wie ACER verfügen. Unterm Strich schafft Herr Li wesentlich mehr Arbeitslosigkeit als Arbeitsplätze.
Freilich, der Handel zwischen den beiden Chinas wird nach dem WTO-Beitritt vermutlich erst einmal sprunghaft ansteigen, sofern Peking und Taipei einander die gleichen Zollsenkungen gewähren wie den anderen WTO-Mitgliedern. Von der Ausschlußklausel (Artikel 13, Absatz 1 der WTO-Gründungsurkunde) werden beide Seiten kaum Gebrauch machen können. In Taiwan herrscht "Aufbruchstimmung" bei den Unternehmern. Und die Arbeitnehmer dürfen zuschauen, wie ihre Chefs mit dem Firmenkapital in Richtung Festland abhauen.
Einige wenige Taiwaner, die ihr Kapital auf dem Festland anlegen, können tatsächlich gewinnen - zumindest innerhalb einer Übergangsphase. So wie der Softwareproduzent ACER. Die meisten werden längerfristig allerdings gewaltig verlieren, meint nicht nur die Hongkonger Zeitschrift Far Eastern Economic Review. Das strukturelle "Umfeld" stimme für die Unternehmen aus Taiwan auf dem Festland nicht (wirtschaftliche, soziale und Bildungsstrukturen sind hier gemeint; ein Arbeiter auf dem Festland bringt andere Kenntnisse und Voraussetzungen mit als einer auf Taiwan). Es blieben viele Träume vom großen "Markt" und der günstigen Produktion nur Wunschträume. Die gesamte Wirtschaftspolitik der VR China sei darauf ausgerichtet, selbst moderne eigene Produkte herzustellen und im Ausland zu verkaufen, auch in Taiwan. Sollte es in den Konjunkturzyklen der Weltwirtschaft je einmal einen härteren Ausschlag ins Negative geben, so sei die Wirtschaft der VR China widerstandsfähig genug, eine Talfahrt zu verkraften. Die umgebenden Volkswirtschaften in Südostasien seien es nicht, meint die Review.
Verlieren wird die Gesellschaft auf Taiwan und seinen Inseln mit dem WTO-Beitritt aber auch schon ohne Konjunkturflauten. Ob in der Schwerindustrie, in der Elektrogeräte-Industrie, im Pharmabereich, in der petrochemischen Großindustrie, in der Textilindustrie oder in der Metallindustrie: Überall werden Arbeitsplätze verloren gehen. Nicht einmal in der Bauindustrie (die ist bereits jetzt fußkrank), schon gar nicht im Dienstleistungsbereich zeichnen sich zusätzliche Beschäftigungspotentiale ab. Arbeit könnte es bald nur noch im Handwerk geben. Doch davon, daß einer dem anderen die Haare schneidet oder eine Nudelsuppe kocht, kann eine Volkswirtschaft heutzutage nicht mehr existieren.
Zeitweiliger Ausgleich für den Verlust könnte nur von Taiwans Elektronik-, Halbleiter- und Software-Industrie kommen, wenn diese Branche von den hohen EU-Zöllen befreit ist. Der europäische Markt könnte einen Entlastungsfaktor für Taiwan darstellen, bis die VR China auch hier als Konkurrent auftritt. Daran mag der deutsche PC-Nutzer seine Freude haben. Die WTO-Vorteile für die Verbraucher in Taiwan: Vor allem Zölle auf Autos sinken. Wie in der VR China. Zölle auf Fahrzeuge mit mehr als drei Litern Hubraum, also auf die dicksten Benz, BMW und Audi, sowie auf etliche US-amerikanische Schlitten und auf britische Rolls Royce, werden von gegenwärtig 80 Prozent auf 28 Prozent Zoll demnächst fallen. Es folgt dann ein jährlicher Abbau des Einfuhrzolls bis auf 17 Prozent.
Die Luxussteuer von derzeit noch bis zu 60 Prozent entfällt restlos. Das wäre ja auch noch schöner, wenn ein WTO-Mitglied Luxussteuern von seinen begüterten Klasse erhöbe. Die WTO ist dazu da, die Interessen der Reichen zu schützen.
Hiermit endet Volker Bräutigams Artikelserie "Die Killer-Trinität", in der er sich mit der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds sowie der Welthandelsorganisation befaßt hat.