Darf man noch demonstrieren?

in (01.02.2002)

Jeweils zum Jahreswechsel können die LeserInnen der Elbe-Jeetzel-Zeitung (EJZ) schmunzeln, denn das Regionalblatt, der amtliche Anzeiger im Landkreis Lüchow-Dannenberg, druckt nicht nur ´...

... einen Rückblick auf die bewegenden Ereignisse des vergangenen Jahres, sondern auch ein Jahreshoroskop. Für den Monat November 2002 prophezeite die EJZ den nächsten Castortransport nach Gorleben. Das ist allerdings keine Hellseherei, eher sehr wahrscheinlich, denn wohlgemerkt nach der nächsten Bundestagswahl sollen gleich zwölf Behälter auf einen Schlag mit dem hochaktiven Strahlenmüll aus der französischen Plutoniumfabrik La Hague ins Gorlebener Zwischenlager rollen.
Damit es nun aber auch bei dieser Vorhersage etwas zu schmunzeln gäbe, ließ sich der Prophet einen makabren Gag einfallen: Der Polizeieinsatzleiter Hans Reime schließt bei Thomas Gottschalks "Wetten daß...?" die Wette ab, daß es ihm gelingen werde, noch vor Schluß der Sendung den Transport vom Verladebahnhof Dannenberg, wo die Container von den Eisenbahnwaggons für die letzten Straßenkilometer auf Tieflader umgeladen werden, ins Ziel zu bringen. Im Jahreshoroskop gewinnt Reime die Wette - allerdings unter der Voraussetzung, daß für jenen Samstagabend im Wendland ein totales Ausgangsverbot erlassen worden ist.
Besser kann man nicht auf den Punkt bringen, was sich im Jahr 2001 im Wendland gleich zweimal ereignet hat. Zur Praxis der Versammlungsverbote kam die Praxis der Campverbote. Die AtomkraftgegnerInnen aus nah und fern sollten zermürbt und demoralisiert werden. Der niedersächsische Innenminister Heiner Bartling (SPD) bleibt nämlich sonst jedesmal auf erheblichen Zusatzkosten sitzen. Im Frühjahr 2001 waren es 56,5 Millionen Mark, und im November kostete die Transportbegleitung durch 10 237 Polizisten und 7311 Bundesgrenzschutzbeamte rund 40 Millionen Mark. Das ist ein Ärgernis. Daß der Widerstand im Wendland gegen den Atomkonsens der rot-grünen Bundesregierung anhält, daß er sich nicht hat brechen oder zähmen lassen, ist das weitere Ärgernis.
Ein grundrechtsfreier Transportkorridor auf den 50 Bahn- und 20 Straßenkilometern von Lüneburg bis Gorleben ist nichts Ungewöhnliches mehr. Die Bezirksregierung Lüneburg überregelt das Ordnungsamt des Landkreises Lüchow-Dannenberg und trifft die Entscheidung über die Genehmigung von Versammlungen und Demonstrationen, selbst an Orten außerhalb des Korridors. Sie folgt dabei ausschließlich polizeitaktischen Überlegungen und unterstellt in ihrer Gefahrenprognose dem Widerstand kollektive Unfriedlichkeit. Leider haben sich in der Provinz beim Verwaltungsgericht Lüneburg die Grundsatzentscheidungen der Bundesverfassungsgerichts zu Brokdorf (1985) und zur Rechtmäßigkeit von Sitzblockaden (1995) noch nicht herumgesprochen.
Perfide war auch die Taktik, Entscheidungen über beantragte Kundgebungsplätze so kurzfristig zu treffen, daß der Rechtsweg verbaut war, zu spät, als daß es noch möglich gewesen wäre, sich über gestattete Demonstrationsorte zu verständigen und die Verlegung öffentlich bekanntzumachen. Ziel war, ein Bild des "bröckelnden Widerstands" zu zeichnen. Deswegen hinderte die Polizei auch viele Atomkraftgegner daran, sich am öffentlichen Protest zu beteiligen, und machte zu diesem Zweck fleißig vom "Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz" Gebrauch. Nicht weniger als 777 Freiheitsentziehungen nahm sie Anfang November 2001 vor. Von der Festnahme bis zur Erfassung im Polizeicomputer blieben die Betroffenen, darunter auch viele Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, rechtsschutzlos. Sie durften ihre Angehörigen nicht verständigen. Anwälte und Eltern erhielten derweil auch keine amtliche Auskunft. Kein Richter wurde mit dem Vorgang befaßt. Viele Gefangene saßen bis zur Erfassung stundenlag im Gefangenenbus. Bis zu 100 Personen wurden in eine Sammelzelle gepfercht, bei schlechter Belüftung, Überheizung, Durst. Selbst die Verpflegung klappte nicht. Der Toilettengang wurde oft nicht rechtzeitig ermöglicht - mit entsprechenden Folgen. Manche wurden in der Weise freigelassen, daß die Polizei sie nachts um 2 Uhr in freier Landschaft aussetzte.
Pastoren, die die Geschehnisse protokollierten, vermerkten: "Wir haben gesehen, wie Pferde und Hunde mit und ohne Maulkorb gegen Demonstranten eingesetzt worden sind. Wir wissen davon, daß mehrere Menschen gebissen worden sind. Das halten wir für eine unmenschliche Maßnahme, die in dieser Situation keineswegs erforderlich und angemessen war."
Die niedersächsische Grünen-Politikerin Silke Stokar erinnerte daran, daß 1996 bei der Aufnahme von Aufenthaltsverboten in das Polizeigesetz des Landes der damalige innenpolitische Sprecher der SPD und heutige Ministerpräsident, Sigmar Gabriel, ausdrücklich erklärte, der oft angestellte Vergleich der Situationen, für die der Paragraph gedacht sei, mit der Situation friedlicher Demonstrationen, beispielsweise in Gorleben, sei schlicht falsch. Jetzt spricht die Lüneburger Regierungspräsidentin von Platzverweisen als einem "üblichen Mittel der Gefahrenabwehr".
Der Castor im Herbst rollte im Schatten des Krieges. Medienvertreter, die im Frühjahr 2001 auf die Einschränkung von Grundrechten noch sensibel reagiert hatten, verfolgten das Aktionsgeschehen voller Unverständnis: Nach den Terroranschlägen vom 11. September sei doch ein "Sicherheitsbündnis" mit der Polizei eine adäquate Reaktion, wurde bedeutet. So saßen viele Journalisten, wenn sie Gorleben überhaupt noch für berichtenswert hielten, mit den Öffentlichkeitsarbeitern von Polizei und Bundesgrenzschutz im Rasthaus "Roadhouse" in Sichtweise des Castorverladebahnhofs und vermeldeten, ohne einen Fuß vor die Tür gesetzt zu haben, beim Widerstand sei "die Luft raus".
Menschenrechte werden nicht nur bei den Taliban oder in Gefangenenlagern der USA verletzt. Eine Gewöhnung an die repressiven Begleitumstände von Castortransporten wäre fatal. Die Verarbeitung der Geschehnisse braucht allerdings Zeit. Eine Dokumentation der Vorkommnisse vom November ist in Vorbereitung, die Anklage folgt.

Vor 25 Jahren, am 22. Februar 1977, benannte der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) Gorleben als den Ort, an dem sämtliche hochradioaktiven Abfälle der bundesdeutschen Atomindustrie gesammelt, kommerziell verwertet und, soweit nicht mehr verwertbar, unterirdisch endgelagert werden sollen. Fachleute hatten andere Orte als geologisch eher geeignet vorgeschlagen. Es war eine politische Entscheidung, deren Gründe offenkundig die folgenden waren: Der Kreis Lüchow-Dannenberg ragte in das Gebiet der DDR hinein. Im Norden, Osten und Süden von Gorleben war die DDR-Grenze nur wenige Kilometer entfernt. Wenn Radioaktivität entwiche, würde sie sich aufgrund der Windverhältnisse größtenteils auf DDR-Gebiet niederschlagen. Und um Gorleben zur Atomfestung zu machen, brauchte man es nur noch nach Westen abzuriegeln. Die 25jährige Geschichte dieses Projekts ist auch eine 25jährige Geschichte kreativen und zähen Widerstands, woran die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg mit einer Veranstaltung am 23. Februar um 19 Uhr in Breselenz erinnern wird. Ossietzky-Autor Wolfgang Ehmke ist seit langem Sprecher der Bürgerinitiative.