Schiffeversenken mitten im Parlament

Günter Grass hat ein wichtiges Buch über den Untergang der "Wilhelm Gustloff" geschrieben. Das Feuilleton rätselt über den Anteil von ...

... Literatur und Politik, Dichtung und Wahrheit, Gegenwart und Vergangenheit. Betrachten wir lieber einige Fakten. In der FAZ vom 9. Februar heißt es: "Über 7000 Passagiere, hauptsächlich Frauen und Kinder, verloren ihr Leben." Laut Rudolf Augstein (Spiegel 6/2002) sind "etwa 9000 Menschen ums Leben gekommen". In der Spiegel-Titelgeschichte heißt es dazu, die Gustloff sei "bewaffnet" gewesen und "hatte auch rund 900 Soldaten der U-Boot-Lehrdivision an Bord. Damit galt die Gustloff als Kriegsschiff." Fragt sich, was stimmt. Bestanden die "über 7000 Toten" der FAZ "hauptsächlich" aus "Frauen und Kindern", wo bleiben dann die 900 U-Boot-Soldaten? Selbst wenn der Spiegel diese 900 den 7000 der FAZ hinzuschlug, kommt er noch nicht auf seine über 9000 Toten. Frühere Autoren sprachen von 5000 bis 6000 Opfern. Offenbar wächst die Zahl der Toten mit dem zeitlichen Abstand.
Dafür verschwinden andere Opfer ganz und gar.
Die FAZ verzeichnet säuberlich die Untergänge auf der Ostsee: von der "Gustloff" am 30. Januar 1945 über die "Steuben", die "Eifel", die "Andros", die "Neuwerk", die "Karlsruhe" bis zur "Goya" am 16. April. Fehlt nur der Untergang der beiden Schiffe "Cap Arcona" und "Thielbeck" durch britische Bomben, worüber der frühere stern-Redakteur Günther Schwarberg (s. Ossietzky 19/98, S. 626) ein Buch im selben Steidl Verlag Göttingen veröffentlichte, in dem jetzt die Novelle von Grass erschienen ist. "Cap Arcona" und "Thielbeck" rissen über 7000 Menschen mit in die Tiefe, was die Katastrophe dem "Gustloff"-Untergang vergleichbar machen könnte. Die Verschwiegenheit und Nicht-Erwähnung in den heutigen Aufzählungen hat einen plausiblen Grund: Es waren über 7000 KZ-Häftlinge, und wer von ihnen sich schwimmend zu retten suchte, wurde von britischen Flugzeugen und deutschen Marinebooten aus beschossen, was diese Katastrophe weniger betrauerbar werden läßt. An tote KZ-Häftlinge sind wir gewöhnt, und wenn statt eines bolschewistischen U-Bootes britische Bomber deutsche Schiffe versenkten, beweinen wir lieber die "Gustloff", die nachweislich von einem sowjetischen U-Boot torpediert worden ist. Und überhaupt diese KZÂ’ler, die meist Kommunisten waren und, falls sie überhaupt überlebten, in die DDR gingen. Wieviel Mühe hatten unsere Ämter damit, ihnen nach der Vereinigung die Renten zu kürzen. Man denke nur an Hermann Axen.
Bleibt die Frage, wie viele Flüchtlinge 1945 in der Ostsee starben. Augstein kommt auf "über 33 000". Die FAZ rechnet sparsam mit "ca. 20 000", wobei sie wohl ehrlicherweise die über 7000 KZ-Häftlinge von "Cap Arcona" und "Thielbeck" als unbenennbar und unbetrauerbar abzog.
Wir sind etwas unzufrieden wegen der Differenzen. Die ganz genaue Wahrheit nämlich wurde bereits am 9.Mai 1996 im Bundestag von Norbert Geis, dem rechtspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, verkündet, als er erklärte, es sei "wahr und historisch erwiesene Tatsache, daß 2,5 Millionen deutsche Zivilisten ... zum größten Teil über die Ostsee geflohen sind, wobei aufgrund der Torpedo-Angriffe eines verbrecherischen Befehls von Stalin 1,3 Millionen deutsche Frauen und Kinder in der kalten Ostsee ihren Tod gefunden haben."
So liest sich die im Bundestag verkündete "erwiesene" CDU/CSU-Wahrheit. Die Tatsachen sehen anders aus. Nicht 1,3 Millionen Menschen ertranken, sondern 33 000, da hat der Spiegel recht. Einen besonderen Stalin-Befehl dazu gab es nicht. Die Opfer starben durch sowjetische U-Boote, amerikanische und englische Fliegerangriffe und See-Minen.
Als Geis vom "Vernichtungskrieg Stalins" sprach, kam von Gregor Gysi der Zwischenruf: "Die Sowjetunion ist angegriffen worden und hat keinen Vernichtungskrieg geführt!" Aber was hilft eine historische Richtigstellung, wenn im deutschen Bundestag 33 000 tatsächliche Opfer zu 1,3 Millionen hochgelogen werden und damit die antirussischen Vorurteile aus der Zeit des Dritten Reiches und des anschließenden Kalten Krieges für den Gewinn von Wählerstimmen instrumentalisiert werden. Träfe die Zahl von fast anderthalb Millionen Ertrunkenen zu, mit der Geis hausieren ging, hätte die "Gustloff" an die 150 mal versenkt werden müssen, oder es wären 150 "Gustloffs" dazu nötig gewesen. Das überstiege sogar das Volumen aller schwarzlackierten Lügenbarone zusammengenommen.
Geis spielt indessen nicht mehr Schiffeversenken im Parlament. Er wendet seine phantasievollen Energien anderen Themen zu, wie man kürzlich in der Friedman-Show hören konnte, bei der er forderte: "Deutschland den Deutschen!" Auf der Geis-Homepage werden neue Feinde angezeigt: die Schwulen. Und da der Wunsch oft der Vater des Gedankens ist, möchte er die am liebsten auch bald in der tiefen Ostsee verschwinden sehen. Ganz wie Gott will, der durch den Mund seines CSU-Abgeordneten Geis spricht.